Vom Nutzen der Religion

pdf der Druckfassung aus Sezession 11 / Oktober 2005

sez_nr_11von Karlheinz Weißmann

Die Nützlichkeit von Religion wird heute kaum bestritten. Es gibt statistische Untersuchungen, die den Zusammenhang von Glauben und Berufszufriedenheit, ethischem Verhalten, Stabilität der Ehe oder Lebensdauer belegen. Selbst der, der eine Verbindung zwischen Gebetspraxis und Heilungserfolgen bei schweren Krankheiten behauptet, kann auf ein gewisses Wohlwollen rechnen. Die Gebildeten erkennen in der Religion wieder einen Kulturfaktor, die Psychologie betont ihre Rolle für die personale Identität, die Verhaltensforschung hält sie für einen Faktor im Überlebenskampf, einige Marktliberale betrachten das Christentum als Standortvorteil und kein Theologe will noch „atheistisch an Gott glauben“. Im Alltag ist der Fall des Leugners gar nicht selten, der metaphysischen Halt ersehnt und unter dem Druck von Ernstfällen – dem Amoklauf von Erfurt oder den Anschlägen in Madrid – kommen veritable Atheisten wie Gregor Gysi oder Jack Lang zur Einsicht in die Vorteile schulischen Religionsunterrichts.

Prin­zi­pi­el­le Ableh­nung ist sel­ten gewor­den. Das gilt trotz der Gefah­ren des reli­giö­sen Fun­da­men­ta­lis­mus. Ein Buch wie Reli­gi­on als Risi­ko des Neu­ro­phy­sio­lo­gen Det­lef Lin­ke erlang­te kaum die Auf­merk­sam­keit, die ihm allein auf Grund des Titels hät­te zukom­men müs­sen. Lin­ke ver­trat in Reak­ti­on auf den 11. Sep­tem­ber 2001 die Ansicht, daß Glau­bens­vor­stel­lun­gen, wenn schon nicht prin­zi­pi­ell gefähr­lich, so doch in ihren Aus­wir­kun­gen pro­ble­ma­tisch sei­en. Es gehe dabei weni­ger um theo­lo­gi­sche Leh­ren, eher um unmit­tel­bar hand­lungs­lei­ten­de Kon­zep­te in enger Ver­knüp­fung mit bestimm­ten Hirn­funk­tio­nen, die dazu die­nen, das Indi­vi­du­um in pro­ble­ma­ti­schen Situa­tio­nen zu stüt­zen und Ver­hal­tens­si­cher­heit zu ermög­li­chen, die aber auch hel­fen, Erfah­run­gen von Selbst­über­schrei­tung wie Trance oder Eksta­se zu deu­ten. Lin­ke meint, daß sich die posi­ti­ven Wir­kun­gen der Reli­gi­on heu­te auf ande­rem – weni­ger ris­kan­tem – Weg errei­chen lie­ßen und macht aus sei­nem Vor­be­halt kei­nen Hehl, bleibt aber auch von einer grund­sätz­li­chen Absa­ge an die Reli­gi­on weit entfernt.
Der Grund für die­ses Zögern liegt im Macht­ver­lust der Reli­gi­ons­kri­tik, die ein­mal so star­ken Ein­fluß aus­ge­übt hat. Bis in das letz­te Drit­tel des 20. Jahr­hun­derts war die Auf­fas­sung vor­herr­schend, daß man einem reli­gi­ons­lo­sen Zeit­al­ter ent­ge­gen­ge­he. Alles schien für die Pro­gno­se Sig­mund Freuds zu spre­chen, daß die Reli­gi­on ver­schwin­den oder nur als belä­chel­ter Aber­glau­be über­le­ben wer­de. Freud erach­te­te Reli­gi­on als nutz­los und als Täu­schung, wobei er die Mit­te hielt zwi­schen jenen, die sie als Selbst- und jenen, die sie als Pries­ter­be­trug ansa­hen. Die einen erwar­te­ten ent­schei­den­des von der Auf­klä­rung der unmün­di­gen Mas­sen, die ande­ren von der Ent­mach­tung oder Liqui­da­ti­on der Reli­gi­ons­spe­zia­lis­ten. Vie­le haben die Hoff­nung gehegt, daß so oder so dem Fort­schritt des Men­schen­ge­schlechts der Weg berei­tet wer­de. Sie wur­den alle­samt ent­täuscht, nicht zuletzt, weil ihre Par­tei­nah­me für den Fort­schritt selbst ein reli­giö­ses Moment ent­hielt, einen „theo­lo­gi­schen Glut­kern“ (Ernst Bloch). Des­halb führ­te jede Kri­se des Fort­schrei­tens zur Wie­der­be­le­bung von alten Bestän­den, wenn auch in Gestalt einer jeweils „neu­en“ Reli­gio­si­tät. Vom occult revi­val der 1890er Jah­re über die „Infla­ti­ons­hei­li­gen“ der Zwi­schen­kriegs­zeit bis zu den Man­tras mur­meln­den Hip­pies und der modi­schen Escha­to­lo­gie des Was­ser­mann­zeit­al­ters wie­der­hol­te sich regel­mä­ßig das Zusam­men­spiel von Erwar­tungs­ent­täu­schung und Rück­griff. Die For­men konn­ten bedenk­lich und abge­schmackt sein, es ging immer um Bedeu­tungs­ver­lust des Ratio­na­len und Bedeu­tungs­zu­wachs des Irra­tio­na­len, Syn­kre­tis­mus und Selbst­er­lö­sung, aber ohne Zwei­fel waren alle die­se Strö­mun­gen religiös.

Wer auf Grund sol­cher Erfah­run­gen weni­ger Ver­trau­en in die Mas­sen und die objek­ti­ven Geset­ze der Geschich­te hat­te, konn­te um so ent­schie­de­ner für die Aus­schal­tung der­je­ni­gen ein­tre­ten, die das fal­sche Bewußt­sein eta­blier­ten und kon­ser­vier­ten. Die gro­ßen Pries­ter­mas­sa­ker der mexi­ka­ni­schen, rus­si­schen und spa­ni­schen Revo­lu­tio­nä­re hat­ten ihre Ursa­che nicht nur in der Absicht, einen Feind zu besei­ti­gen, son­dern auch in dem Wunsch, einen Kon­kur­ren­ten um die Deu­tungs­macht zu eli­mi­nie­ren. Daß die nach erfolg­rei­chen Revo­lu­tio­nen eta­blier­te Nomen­kla­tu­ra dann in vie­len Zügen hiero­kra­tisch war und der „rote Kult“ alle Züge einer Pseu­do­re­li­gi­on trug, die das Glau­bens­be­dürf­nis ihrer Anhän­ger hem­mungs­los aus­beu­te­te, ist schon Zeit­ge­nos­sen aufgefallen.
Es ist aber nicht nur das Schei­tern die­ser Pseu­do­re­li­gio­nen, das die wohl­wol­len­de Stim­mung gegen­über der Reli­gi­on erklärt. Es geht im Kern um das Schwin­den von Sinn­res­sour­cen und die Sor­ge, daß nur die Reli­gi­on sich eig­ne, die­sem Abbau Ein­halt zu gebie­ten. Des­halb konn­te der ursprüng­lich ent­lar­vend gemein­te Begriff „Zivil­re­li­gi­on“ posi­tiv umge­deu­tet wer­den und tra­ten die Kom­mu­ni­ta­ris­ten ohne Scheu mit dem Argu­ment auf, daß Reli­gi­on an sich etwas Gutes, jeden­falls dem Zusam­men­le­ben Dien­li­ches sei. Haber­mas spricht neu­er­dings offen von der Not­wen­dig­keit einer „post­sä­ku­la­ren Gesell­schaft“, ein Begriff, den dann prompt der Bür­ger­li­che Paul Kirch­hof über­nimmt. Sol­che Nähe ist kein Zufall. Man darf ver­mu­ten, daß die von Haber­mas schon in der Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns gefor­der­te „Ver­sprach­li­chung des Sakra­len“ die „Auto­ri­tät des Hei­li­gen“ nicht ein­fach erset­zen, son­dern auf ande­re Wei­se wie­der­ge­win­nen soll­te und daß es – nach erkenn­ba­rem Schei­tern die­ses Kon­zepts – dar­um geht, durch Aus­gleich mit der Reli­gi­on jenes „sozia­le Band“ zu fes­ti­gen, das „Kom­mu­ni­ka­ti­on“ und „Kon­sens“ nicht allein zu fes­ti­gen ver­moch­ten. Die ire­ni­sche Atmo­sphä­re im Gespräch zwi­schen Haber­mas und Kar­di­nal Ratz­in­ger wäh­rend einer Tagung der baye­ri­schen Katho­li­schen Aka­de­mie im Janu­ar 2004 spricht jeden­falls für eine sol­che Interpretation.
Aller­dings ist Haber­mas kei­nes­wegs bereit, den prin­zi­pi­el­len Anspruch der Kir­che gel­ten zu las­sen. Ihm geht es, wenn, dann um die „Pries­ter­herr­schaft der Intel­lek­tu­el­len“ (Hel­mut Schelsky), jenes Teil­pro­jekt der Moder­ne, das seit dem 18. Jahr­hun­dert immer wie­der zu Ver­su­chen geführt hat, die Nütz­lich­keit der Reli­gi­on ganz in den Dienst von Kon­trol­le und Erzie­hung zu stel­len. Der voll­stän­digs­te Ent­wurf die­ser Art stammt von Augus­te Comte, der for­der­te, die moder­ne Gesell­schaft durch eine Kas­te von Sozi­al­in­ge­nieu­ren füh­ren zu las­sen, die den Posi­ti­vis­mus als Wis­sen­schaft behan­deln soll­ten, wäh­rend die Mas­sen ihm wie einer Staats­re­li­gi­on unter­wor­fen wür­den. Comte hat nur offe­ner als die meis­ten gesagt, daß die Mehr­zahl der Men­schen nicht eman­zi­pier­bar ist und zu ihrem eige­nen Bes­ten ange­lei­tet und mit Sinn­an­ge­bo­ten ver­sorgt wer­den muß. Er zwei­fel­te inso­fern gar nicht an der Wohl­tä­tig­keit der tra­di­tio­nel­len Reli­gio­nen, aber an ihrer Effi­zi­enz. Die gedach­te er durch den Posi­ti­vis­mus deut­lich zu stei­gern. Soll „… der ein­mal aus­ge­schal­te­te Gott nicht wie­der­keh­ren, so ist es not­wen­dig, ihn zu erset­zen, und zwar unver­züg­lich … Denn ‚man zer­stö­re nur, was man ersetzt‘.“

Comte ging so weit, die äuße­re Ord­nung der katho­li­schen Kir­che voll­stän­dig zu über­neh­men, bei gleich­zei­ti­ger Til­gung ihrer dog­ma­ti­schen Inhal­te. Er hat in sei­ner Hei­mat Frank­reich gro­ßen Ein­fluß aus­ge­übt, aber nicht hier, son­dern in Bra­si­li­en wur­de auch der Ver­such einer prak­ti­schen Anwen­dung gemacht. Nach dem Mili­tär­putsch vom 15. Novem­ber 1889, der zum Sturz der Mon­ar­chie führ­te, begann eine Grup­pe ein­fluß­rei­cher Posi­ti­vis­ten mit der Reor­ga­ni­sa­ti­on der neu­en Repu­blik nach den Prin­zi­pi­en ihres Lehr­meis­ters. Der Posi­ti­vis­mus gewann dabei nicht nur gro­ße Bedeu­tung für das Schul- und Uni­ver­si­täts­we­sen oder die Tren­nung von Staat und Kir­che, son­dern auch für die Schaf­fung einer neu­en natio­na­len Sym­bo­lik, bis hin zur Ver­ord­nung, das übli­che „Gott befoh­len“ durch den Gruß „Gesund­heit und Brü­der­lich­keit!“ zu erset­zen oder die Auf­nah­me der posi­ti­vis­ti­schen Gene­ral­for­mel „Ord­nung und Fort­schritt“ in die Landesflagge.
Erfolg­ver­spre­chend durf­te das schei­nen, ange­sichts einer Nati­on, die erst im Ent­ste­hen begrif­fen und des­halb noch form­bar war. Außer­dem trug Com­tes Wider­wil­le gegen die Demo­kra­tie dazu bei, daß die Posi­ti­vis­ten die Macht­mit­tel der Mili­tär­dik­ta­tur ohne Scheu nutz­ten. Geschei­tert ist das Expe­ri­ment zuletzt an äuße­ren Umstän­den, aber auch an einer gewis­sen Nai­vi­tät der Akteu­re, die von der Ein­sicht in das Wesen sozia­ler Zusam­men­hän­ge auf deren voll­stän­di­ge Beherrsch­bar­keit schlossen.
Sie wie­der­hol­ten damit einen Feh­ler, der in der Reli­gi­ons­po­li­tik – zumal der lin­ken – oft zu beob­ach­ten ist. Im Unter­schied zu den bra­si­lia­ni­schen Posi­ti­vis­ten haben ande­re Schü­ler Com­tes, die Füh­rung der Action Fran­çai­se unter Charles Maur­ras, den Ver­such eines Aus­gleichs mit der über­lie­fer­ten Reli­gi­on gemacht. Ihr Ziel war es, eine „natio­na­le Restau­ra­ti­on“ zu bewir­ken, wobei hin­ter der tra­di­tio­nel­len Fas­sa­de – König­tum und Staats­kir­che – eine ganz ratio­na­le, auto­ri­tä­re poli­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on ste­hen soll­te. Maur­ras blieb aber nicht nur mit sei­nem Ver­such, Macht zu gewin­nen, erfolg­los, er hat­te auch die Eigen­wil­lig­keit des Katho­li­zis­mus unter­schätzt. Der woll­te sich als vita­le Reli­gi­on kei­nes­wegs mit einer deko­ra­ti­ven Funk­ti­on abfin­den und wies die Beschnei­dung sei­ner Leh­re um alle anstö­ßi­gen, weil genu­in christ­li­chen, Ele­men­te zurück. Maur­ras’ Hym­nus auf den hier­ar­chi­schen und latei­ni­schen Katho­li­zis­mus, der das Erbe der Anti­ke bewahrt habe, schütz­te ihn nicht. 1926 wur­de die Action Fran­çai­se durch den Vati­kan ver­ur­teilt, die akti­ve Mit­glied­schaft mit der Exkom­mu­ni­ka­ti­on bestraft und Bücher von Maur­ras kamen auf den Index.
Im Grun­de teil­te Maur­ras die Glau­bens­lo­sig­keit vie­ler Mäch­ti­ger, die gleich­zei­tig die Funk­ti­on des Glau­bens aner­ken­nen und für ihre Zwe­cke zu nut­zen trach­ten. Die Geschich­te kennt dafür zahl­rei­che Bei­spie­le, aber im Wes­ten war die­se, wenn man so will: zyni­sche, Betrach­tungs­wei­se immer nur die Sache ein­zel­ner. Ver­brei­te­ter ist ein mil­der Agnos­ti­zis­mus der Eli­te, die dem Volk sei­ne Reli­gi­on erhal­ten wis­sen möch­te. Es besteht damit eine deut­li­che Distanz zu den asia­ti­schen Kul­tu­ren, wo eine aus­schließ­lich den Klug­heits­re­geln fol­gen­de Behand­lung des Reli­giö­sen Arka­num herr­schen­der Klas­sen – der Brah­ma­nen oder der kon­fu­zia­ni­schen Beam­ten – sein kann. Zu deren Vor­zü­gen zählt die Ein­sicht, daß Reli­gi­on eine Grö­ße sui gene­ris und inso­fern kaum her­stell­bar ist, was wei­ter bedeu­tet, daß sie unter kei­nen Umstän­den in ihrer Nütz­lich­keit auf­geht. Wie bei vie­len ande­ren Sozi­al­for­men läßt sich auch hier nicht von der Funk­ti­on auf das Wesen der Sache schließen.

Was damit gemeint ist, hat Arnold Geh­len am Bei­spiel der wich­tigs­ten Schrit­te zur Mensch­wer­dung deut­lich gemacht. Nach Geh­len waren so fun­da­men­ta­le Zivi­li­sa­ti­ons­leis­tun­gen wie das Ver­bot von Inzest und Kan­ni­ba­lis­mus eben­so wie Acker­bau und Vieh­zucht ihrem Ursprung nach reli­gi­ös moti­viert. Wenn sie uns als ver­nünf­tig im Sinn der Zweck­ra­tio­na­li­tät erschei­nen, dann nur auf Grund von Ex-post-Erklä­run­gen. Woher soll­te der Mensch an sei­nem Anfang wis­sen, wel­che nega­ti­ven gesund­heit­li­chen Fol­gen die Ver­wand­ten­hei­rat oder der Ver­zehr von Men­schen­fleisch mit sich brin­gen, wie konn­te er davon abge­hal­ten wer­den, das nahe­lie­gen­de und in einem vor­der­grün­di­gen Sinn nütz­li­che zu tun, näm­lich auf die direkt ver­füg­ba­ren Sexu­al­part­ner und eine Nah­rungs­res­sour­ce zurück­zu­grei­fen, die auch nicht schwe­rer zu erle­gen war als ande­res Wild? Was soll­te ihn abhal­ten, das gesam­mel­te Getrei­de und die gefan­ge­nen Tie­re zu ver­zeh­ren, um über­haupt eine Gele­gen­heit zu bekom­men, den Zusam­men­hang von Saat und Wachs­tum neu­er Pflan­zen oder den Vor­gang der Ver­meh­rung bei Domes­ti­ka­ti­on zu beob­ach­ten? Die wahr­schein­lichs­te Ursa­che, so Geh­len, sei das mit schar­fen reli­giö­sen Sank­tio­nen bewehr­te Tabu, die Nütz­lich­keit des Ver­hal­tens – und damit die Mög­lich­keit der Über­nah­me in den ganz dies­sei­ti­gen Bereich der Anwen­dung – sei dem gegen­über sekundär.
Die The­sen Geh­lens haben vor eini­ger Zeit eine über­ra­schen­de empi­ri­sche Bestä­ti­gung erfah­ren. Der Bam­ber­ger Archäo­lo­ge Klaus Schmidt, der die Aus­gra­bun­gen an einem neo­li­thi­schen Sied­lungs­platz in der tür­ki­schen Euphrat­re­gi­on lei­tet, der heu­te Göbe­kli Tepe genannt wird, ist zu dem Ergeb­nis gekom­men, daß die­ser nicht auf Grund von öko­lo­gi­schen oder öko­no­mi­schen Zwän­gen ent­stand. Der Ent­schluß zur fes­ten Besied­lung gehe viel­mehr auf kul­ti­sche Ursa­chen zurück. Man fand in Göbe­kli Tepe weder Wohn­häu­ser noch Befes­ti­gun­gen, son­dern monu­men­ta­le Kreis­an­la­gen, deren reli­giö­ser Zweck offen­sicht­lich erscheint. Die auf einem weit­hin sicht­ba­ren Kalk­rü­cken von etwa 800 Metern Höhe ange­leg­te Sied­lung wur­de nicht von frü­hen Acker­bau­ern geschaf­fen, son­dern von Jägern. Dar­auf deu­ten auch die Sym­bo­le an den mega­li­thi­schen Bau­ten hin, die ver­schie­de­ne Tie­re wie Löwe, Stier, Fuchs, Kei­ler, Schlan­ge, Kra­nich und ande­re Vögel, aber kein Nutz­vieh darstellten.
Die ältes­te Besied­lung Göbe­kli Tepes geht auf das 10. Jahr­tau­send vor Chris­tus zurück. Damals, am Ende der letz­ten Eis­zeit, gab es in der umge­ben­den Park­land­schaft sehr viel Wild und Früch­te, die aller­dings nur Jägern und Samm­lern genü­gend Nah­rung boten, kei­ner fest ange­sie­del­ten Men­schen­grup­pe von der Grö­ße, wie sie für die Stein­bruch- und Bau­ar­bei­ten nötig gewe­sen wäre. Schmidt glaubt des­halb, daß nur eine Grup­pe von Pries­tern in Göbe­kli Tepe dau­er­haft leb­te und die Umher­zie­hen­den ledig­lich zu fes­ten Zei­ten zusam­men­ka­men, an denen ritu­el­le Hand­lun­gen in dem Hei­lig­tum voll­zo­gen wur­den. Wenn sich die­se Annah­men bestä­ti­gen soll­ten, hät­te das eine gründ­li­che Kor­rek­tur der bis­he­ri­gen Vor­stel­lung von einer „Neo­li­thi­schen Revo­lu­ti­on“ zur Fol­ge. Dann führ­te nicht das Zusam­men­spiel von Ver­such und Irr­tum auf dem Weg des mehr oder weni­ger kon­trol­lier­ten Expe­ri­ments zur Durch­set­zung von Seß­haf­tig­keit und Acker­bau, son­dern bei­des wäre eine – ursprüng­lich nicht beab­sich­tig­te – Neben­fol­ge reli­giö­sen Tuns. Um noch ein­mal Schmidt zu zitie­ren: „Göbe­kli Tepe legt den Gedan­ken nahe, daß ritu­el­les Ver­hal­ten die pri­mä­re Ursa­che des Über­gangs von der Jäger- und Samm­ler-Kul­tur zur bäu­er­li­chen Lebens­wei­se ist“.

Es liegt auf der Hand, daß sich die Nütz­lich­keit der Reli­gi­on in die­sem Fall aus ihrer Ver­bind­lich­keit erklärt. Über den längs­ten Zeit­raum der Geschich­te war die Reli­gi­on wenn nicht das ein­zi­ge, so doch das ent­schei­den­de Kon­zept zur Welt­erklä­rung: sie bestimm­te das Ver­hält­nis zu den über­ir­di­schen Mäch­ten, ord­ne­te das Gemein­we­sen im Poli­ti­schen eben­so wie die Bezie­hung von Geschlech­tern und Gene­ra­tio­nen, gab die wich­ti­gen ethi­schen Hand­lungs­an­wei­sun­gen und spen­de­te Trost ange­sichts der letz­ten Fra­gen. Reli­gi­on ist ein Phä­no­men von lan­ger Dau­er, eine kon­ser­va­ti­ve Instanz ers­ten Ran­ges. Das heißt aber nicht, daß sie in ihrer jewei­li­gen Form eine Bestands­ga­ran­tie hät­te. Es gibt Indi­zi­en für Reli­gi­ons­wan­del und Reli­gi­ons­wech­sel schon in fer­ner Ver­gan­gen­heit, erst recht gilt das für die Geschich­te im enge­ren Sinn. Auch in bezug auf Reli­gi­ons­kri­tik las­sen sich frü­he Bei­spie­le fin­den, von Tex­ten des Veda über die ers­te Auf­klä­rung der anti­ken Phi­lo­so­phie, die prak­ti­sche Opfer­ver­wei­ge­rung der „Gott­lo­sen“ auf Island bis zu den Mate­ria­lis­men der mit­tel­al­ter­li­chen Ket­zer. Aber das waren doch Aus­nah­me­erschei­nun­gen, beschränkt auf klei­ne Zir­kel oder Zei­ten des Über­gangs. Daß man wer­bend über die Reli­gi­on nicht nur an die „Gebil­de­ten unter ihren Ver­äch­tern“ spre­chen muß, ist neu und hängt mit dem Bedeu­tungs­ver­lust des Chris­ten­tums und dem Pro­zeß mas­sen­haf­ter Indi­vi­dua­li­sie­rung im neu­zeit­li­chen Euro­pa zusammen.
Der Ver­such, dem unter Hin­weis auf die Nütz­lich­keit der Reli­gi­on zu begeg­nen, lag für jeden nahe, der die Säku­la­ri­sie­rung mit Sor­ge betrach­te­te, und ent­spre­chen­de Argu­men­ta­ti­ons­mus­ter fin­den sich, seit­dem eine are­li­giö­se Moral denk­bar schien. Aller­dings gab es auch früh War­nun­gen vor die­ser Art wohl­mei­nen­der Hil­fe. In den Welt­ge­schicht­li­chen Betrach­tun­gen teil­te Jacob Bur­ck­hardt schon sei­ne Beob­ach­tung mit, wie aus­sichts­los „das künst­li­che Neu­pflan­zen von Chris­ten­tum zum Zwe­cke der guten Auf­füh­rung“ sei. Bur­ck­hardt ging es dabei nicht nur um intel­lek­tu­el­le Red­lich­keit, son­dern auch um Aner­ken­nung des unver­füg­ba­ren Res­tes in jeder reli­giö­sen Erfah­rung, dar­um, daß Reli­gi­on in ihrer sozia­len Funk­ti­on nicht auf­geht, wenn sie denn Reli­gi­on sein soll. Damit wer­den über­haupt die Gren­zen jeder Ein­griffs­mög­lich­keit erkenn­bar. Sowe­nig ein der Reli­gi­on feind­se­li­ges Kli­ma zur Zer­stö­rung eines star­ken Glau­bens füh­ren muß, ihm sogar dien­lich sein kann, sowe­nig bedeu­tet das all­ge­mei­ne Wohl­wol­len gegen­über der Reli­gi­on not­wen­dig deren Stär­kung. Gera­de das abge­schlif­fe­ne, kon­ven­tio­nel­le, auf vor­schnel­le Ver­söh­nun­gen aus­ge­rich­te­te kann ech­ter Reli­gio­si­tät zum Ver­häng­nis wer­den. Die Nei­gung, das Nütz­li­che der Reli­gi­on zu beto­nen, wird ihr kaum mehr Bedeu­tung ver­schaf­fen. Reli­gio­nen wach­sen auf, bestehen und ver­schwin­den nach Gesetz­mä­ßig­kei­ten, die sich mit denen ande­rer sozia­ler Erschei­nun­gen berüh­ren, aber von ihnen doch deut­lich ver­schie­den sind.

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