Europa stottert – Eine finanzpolitische Analyse

pdf der Druckfassung aus Sezession 10 / Juli 2005

sez_nr_10von Wilhelm Hankel

Das erste Mal betrat ich dieses traditionsreiche Haus am 5. Mai 1967. Ich war damals 38 Jahre jünger und auch genauso alt und berichtete ex officio als Chefvolkswirt der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) über die Erfahrungen mit der zehn Jahre jungen Entwicklungshilfe. Meine Botschaft konnte froher nicht sein: Noch ein bis zwei Dekaden öffentlich gesteuerter Kapitaltransfer – und der tiefe Graben zwischen Reich und Arm auf unserem Globus wäre geschlossen, die Welt glücklicher und sozial befriedeter denn je! Seitdem haben weitere vierhundert Milliarden US-Dollar (knapp fünfhundert Milliarden Euro heutiger Rechnung) Steuergelder den Weg von der Ersten in die Dritte und Vierte Welt genommen. Die Einsichten der Entwicklungshelfer in die Möglichkeiten der Armutsbekämpfung sind eindrucksvoll gewachsen. Doch der Graben ist noch tiefer und breiter geworden. Zwar geht es einigen Schwellenländern deutlich besser, doch die Aussichten für den Rest der im Armutsgürtel nördlich und südlich des Äquators lebenden Menschen sind düsterer denn je.

Was haben sie falsch gemacht? Die Glo­ba­li­sie­rung zwingt die Armen an Know-how, Tech­nik und Lebens­stan­dard zu impor­tie­ren, was sie nicht haben. Das Geld dafür stre­cken wir ihnen groß­zü­gig vor. So jagt eine Schul­den­kri­se die ande­re, ver­nich­tet jedes neue „Kon­so­li­die­rungs­pro­gramm“ das biß­chen Wohl­stand, das sie sich ges­tern und vor­ges­tern müh­sam erar­bei­tet haben. Es fehlt den Armuts­län­dern ein dem unse­ren ver­gleich­ba­res, hoch­ef­fi­zi­en­tes Geld- und Finanz­sys­tem. Sie müs­sen bei uns pum­pen statt bei sich sel­ber – ein Teu­fels­kreis, der den Zyklus von Kri­se und Rück­kehr in die alte Armut nicht zur Ruhe kom­men läßt.
Nun könn­te Abhil­fe von uns kom­men, denn wir ver­fü­gen über die­ses finan­zi­el­le Hoch­leis­tungs­sys­tem. Das alte Euro­pa hat es in Jahr­hun­der­ten ent­wi­ckelt, dann in die einst Neue Welt expor­tiert und dar­aus alle sei­ne Indus­tri­el­len Revo­lu­tio­nen finan­ziert. Doch plötz­lich stot­tert der Motor. Euro­pas moderns­te mone­tä­re Inno­va­ti­on, der Euro will nicht so recht in die­ses Bild pas­sen. Was haben wir, die Vor­rei­ter des indus­tri­el­len und finan­zi­el­len Fort­schritts in aller Welt, falsch gemacht? In Drit­ter und Vier­ter Welt bedroht die Glo­ba­li­sie­rung den Fort­schritt von außen – bei uns kommt die Gefahr von innen.
Die Euro­pä­er haben – wie wei­land die Tro­ja­ner – das Pferd mit dem gefähr­li­chen Inhalt im Bauch frei­wil­lig und ohne Zwang hin­ter die alten Schutz­mau­ern gezo­gen. Euro­pa hat sich sein Glo­ba­li­sie­rungs­pro­blem selbst geschaf­fen, indem es sei­ne wirt­schaft­li­che Inte­gra­ti­on, die Schaf­fung eines gemein­sa­men Bin­nen­mark­tes mit gren­zen­lo­sen Güter‑, Dienstleistungs‑, Geld- und Kapi­tal­märk­ten, mit einer über­staat­li­chen Wäh­rung „krön­te“. Das war vor sie­ben Jah­ren (im Mai 1998). Damals wur­de im Vor­griff auf den geplan­ten Euro der Wäh­rungs­wett­be­werb zwi­schen den elf (inzwi­schen sind es zwölf) Mit­glieds­län­dern der Euro-Zone abge­schafft. In allen zwölf Euro-Län­dern gilt Euro = Euro. Was sich auf den ers­ten Blick so fort­schritt­lich, so euro­pä­isch und so bei­spiel­haft für alle Welt aus­nimmt, hat schwer­wie­gen­de und dem Publi­kum in der Euro-Debat­te ent­we­der ver­schwie­ge­ne oder falsch dar­ge­stell­te Konsequenzen.

Die ers­te Falsch­dar­stel­lung lau­tet, Euro­pa schüt­ze sich mit dem Euro vor den Gefah­ren aus Glo­ba­li­sie­rung und wirt­schaft­li­cher Über­macht der US-Volks­wirt­schaft. Tat­sa­che ist, daß sich Euro­pa mit dem Euro über­haupt erst eine haus­in­ter­ne, den eige­nen Wohl­stand gefähr­den­de Glo­ba­li­sie­rungs­waf­fe geschaf­fen hat. Mit dem Euro wer­den nicht nur alle Pro­duk­ti­ons- und Inves­ti­ti­ons­stand­or­te im Bin­nen­markt gleich und aus­tausch­bar, son­dern die in Län­dern mit gerin­ger Wirt­schafts­kraft sogar „glei­cher als gleich“. Sie kön­nen näm­lich mit ihren – armuts­be­dingt – nied­ri­gen Arbeits- und Sozi­al­kos­ten und ihren, dank man­gel­haf­ter Infra­struk­tur, gerin­gen Steu­er­sät­zen „wer­ben“. Immer mehr Unter­neh­men aus rei­chen, aber teu­ren Län­dern fol­gen die­sem Lock­ruf und ver­la­gern Inves­ti­tio­nen und Arbeits­plät­ze aus ihren ange­stamm­ten Stand­or­ten dort­hin: in die öko­no­mi­sche Wüs­te. Was sich auf den ers­ten, und eben­falls nicht rich­ti­gen Blick aus­nimmt wie ein über­fäl­li­ger und berech­tig­ter Las­ten- und Struk­tur­aus­gleich, ist in Wahr­heit nichts ande­res als die Außer­kraft­set­zung ele­men­ta­rer Markt­ge­set­ze, die Absa­ge an fai­ren und pro­duk­ti­vi­täts­ori­en­tier­ten Wett­be­werb und das Ende aller Hoff­nun­gen auf einen sta­bi­len Euro. Denn der Euro ver­wan­delt in den armen Rand­län­dern der EU wirt­schaft­li­chen Rück­stand in einen Wett­be­werbs­vor­teil. Nur resul­tiert die Stand­ort­at­trak­ti­vi­tät die­ser Län­der nicht aus hoher, son­dern nied­ri­ger Pro­duk­ti­vi­tät. Denn sie ist es, die die von den Aus­lands­fir­men ger­ne genutz­ten nied­ri­gen Löh­ne, Sozi­al­kos­ten und Steu­er­sät­ze ermög­licht. Nur: Wo frü­her das Wäh­rungs­ri­si­ko (die Abwer­tungs­ge­fah­ren schwa­cher Wäh­run­gen) für fai­ren Stand­ort­wett­be­werb sorg­te – wer inves­tier­te schon in einem Land oder einer Wäh­rung, in der er von einem zum ande­ren Tag zehn, zwan­zig und mehr Pro­zent Kapi­tal ver­lie­ren konn­te? – kön­nen jetzt bei einem Wäh­rungs­ri­si­ko von Null mit dem Dum­ping von Steu­ern, Sozi­al­bei­trä­gen und Löh­nen glän­zend Geschäf­te gemacht wer­den. Ein fai­rer „Wett­be­werb der Sys­te­me“ ist das nicht. Er geht voll zu Las­ten der hoch­pro­duk­ti­ven und des­we­gen auch teu­ren Länder.
Doch ein Auf­hol­pro­zeß für die schwä­che­ren Län­der kommt auf die­ser Grund­la­ge auch nicht zustan­de; denn die ein­ge­schleus­ten Aus­lands­mit­tel und ‑kre­di­te – sie gehen weit über das Aus­maß der inne­ren Kapi­tal­bil­dung (Erspar­nis) die­ser Län­der hin­aus – hei­zen mit dem Boom die Infla­ti­ons­ten­den­zen des gesam­ten Lan­des und sei­ner Volks­wirt­schaft an. Die über das Dum­ping her­ein­ge­hol­ten Stand­ort­vor­tei­le gehen durch die per­ma­nen­ten Infla­ti­ons- und Kos­ten­stei­ge­rungs­ten­den­zen wie­der ver­lo­ren. Die Euro­päi­sche Zen­tral­bank (EZB) ver­schärft mit ihren Ein­heits­zin­sen für ihre Ein­heits­wäh­rung – sie sind für die Infla­ti­ons­sün­der zu nied­rig, für die Mus­ter­kna­ben der Sta­bi­li­tät (Deutsch­land, Frank­reich, Nie­der­lan­de) dage­gen, zumal in „rea­ler“ (infla­ti­ons­be­rei­nig­ter) Rech­nung, zu hoch – die Ungleich­ge­wich­te in dem ihr anver­trau­ten Wäh­rungs­raum: Die einen wer­den zur Infla­ti­on ver­führt, die ande­ren in Sta­gna­ti­on und Arbeits­lo­sig­keit ver­strickt: eine Kri­se, die sich durch kein poli­tisch wie demo­kra­tisch unver­tret­ba­res Kür­zen an Sozi­al­staats­leis­tun­gen weg­spa­ren oder gar lösen läßt!
Wer immer gesagt hat, und es noch immer sagt: Der Euro stär­ke Euro­pa wirt­schaft­lich, trei­be sei­ne poli­ti­sche Inte­gra­ti­on vor­an und mache sie unum­kehr­bar, ist bereits heu­te wider­legt. Nach dem Fias­ko mit dem Euro­päi­schen Ver­fas­sungs­ver­trag hat der Euro sei­ne poli­ti­sche Geschäfts­grund­la­ge ver­lo­ren. Das vor den Refe­ren­den in Frank­reich und den Nie­der­lan­den und dem bri­ti­schen Ver­ta­gungs­be­schluß geplan­te Euro­pa kann und wird es nicht mehr geben. Der Euro kann es weder ret­ten noch neu bele­ben. Das Pro­jekt der euro­päi­schen Gemein­schafts­wäh­rung ist daher jen­seits aller Euro­par­he­to­rik neu zu bewer­ten. Was sind ihre bene­fits für die euro­päi­schen Völ­ker und ihre Staa­ten und was ihre nicht län­ger weg­zu­dis­pu­tie­ren­den cos­ts?

Damit kom­men wir zur zwei­ten Falsch­dar­stel­lung: Der Euro sei für Deutsch­land die „Reform­peit­sche“ schlecht­hin (Wolf­gang Schäub­le). Er zwin­ge, um im euro­päi­schen und glo­ba­len Wett­be­werb bestehen zu kön­nen, dazu, die immer wie­der auf­ge­scho­be­nen oder ver­wäs­ser­ten Refor­men ohne Abstri­che in Angriff zu neh­men. Tat­sa­che ist, daß der Euro die Kos­ten die­ser Refor­men ins Unbe­zahl­ba­re stei­gert. Man kann kei­ner demo­kra­ti­schen Regie­rung den Vor­wurf machen, daß sie die sozia­len (und unpo­pu­lä­ren) Kos­ten selbst uner­läß­li­cher Reform­pro­jek­te zu mini­mie­ren ver­sucht, denn das ist ihre Pflicht. Nie­mand soll­te ver­lan­gen, daß sie zur Zer­reiß­pro­be für Staat, Gesell­schaft und die poli­ti­sche Ord­nung des Lan­des wer­den. Das Schick­sal der Wei­ma­rer Repu­blik darf sich nicht wie­der­ho­len. In der Kri­se von 1931 / 32, als Kanz­ler Brü­nings rigo­ro­se Reform- und Spar­pro­gram­me der deut­schen Wäh­rung den inter­na­tio­na­len Sta­tus raub­ten, den Ban­ken­ap­pa­rat in die Zah­lungs- und Kre­dit­un­fä­hig­keit trie­ben und die Arbeits­lo­sig­keit auf über fünf­und­zwan­zig Pro­zent anstei­gen lie­ßen, kata­pul­tier­te die Kri­se (die schlimms­te, die es je gege­ben hat­te) Hit­ler an die Macht.
Soweit wird es bei den jet­zi­gen Spar- und Reform­plä­nen nicht kom­men. Den­noch muß sich jede künf­ti­ge Bun­des­re­gie­rung, gleich wel­cher Cou­leur, fra­gen las­sen, wie sie Ren­ten­an­sprü­che, sie errei­chen bereits heu­te die Grö­ßen­ord­nung von fünf, sie­ben bis sechs Bil­lio­nen Euro (zwei­ein­halb Brut­to­in­lands­pro­duk­te), bedie­nen will, wenn ab dem Jahr 2010 die Baby­boo­mer­ge­ne­ra­ti­on aus dem Erwerbs­le­ben (und dem Kreis der Ein­zah­ler) aus­schei­det? Es wer­den dann mit von Jahr zu Jahr stei­gen­der Ten­denz Sum­men fäl­lig, die weder mit Maas­tricht-Kri­te­ri­en noch der rigi­den und sche­ma­ti­schen Geld­men­gen- und Zins­po­li­tik der EZB ver­ein­bar sind. Um sie auch nur annä­hernd auf­brin­gen zu kön­nen – und zwar infla­ti­ons­frei und ohne den Staats­bank­rott zu ris­kie­ren – wären lang­fris­tig sta­bi­le Wachs­tums­ra­ten der Volks­wirt­schaft in Höhe von zwei­ein­halb bis drei Pro­zent per anno erfor­der­lich, was einer Ver­dopp­lung des Brut­to­in­lands­pro­dukts in zwan­zig bis fünf­und­zwan­zig Jah­ren ent­sprä­che. Ein sol­ches, auf Inves­ti­tio­nen und Inno­va­tio­nen gestütz­tes gesamt­wirt­schaft­li­ches Wachs­tum wäre ohne das Euro­kor­sett sowohl real wie finan­zie­rungs­tech­nisch mög­lich. Es wür­de weder am deut­schen Kapi­tal­auf­kom­men noch an den Stei­ge­rungs­mög­lich­kei­ten der Pro­duk­ti­vi­tät schei­tern. Jahr für Jahr errech­net die jeder Schön­fär­be­rei unver­däch­ti­ge Deut­sche Bun­des­bank einen beträcht­li­chen Über­hang der Geld­erspar­nis­se über die Sach­in­ves­ti­tio­nen (die letz­ten drei Jah­re zusam­men­ge­zählt betrug er eine hal­be Bil­li­on Euro). Gestützt auf die­ses Mit­tel­auf­kom­men wären inlän­di­sche Inves­ti­ti­ons­of­fen­si­ven im pri­va­ten wie im öffent­li­chen Sek­tor mög­lich, wenn die dafür erfor­der­li­chen Instru­men­te: Wech­sel­kurs, Zins und fle­xi­ble Haus­halts­füh­rung noch zur Ver­fü­gung stün­den. Doch im Euro-Sys­tem gibt es weder situa­ti­ons­ge­rech­te Wech­sel­kur­se noch inves­ti­ti­ons­ge­rech­te Zin­sen, und der noch immer gül­ti­ge Euro-Sta­bi­li­täts­pakt läßt kei­ne beweg­li­che, anti­zy­kli­sche Haus­halts­füh­rung zu, wie sie das deut­sche Sta­bi­li­täts- und Wachs­tums­ge­setz und das Grund­ge­setz in Arti­kel 109 im Fal­le eines „gesamt­wirt­schaft­li­chen Ungleich­ge­wichts“ ver­bind­lich vor­schreibt. Das Euro-Sys­tem gleicht einem Auto mit gedros­sel­tem Motor, star­rem Lenk­rad, aber über­di­men­sio­nier­ten Brem­sen, die man ange­sichts sei­ner gerin­gen Fahrt­ge­schwin­dig­keit kaum braucht. Man hat es aus Furcht vor der Infla­ti­on kon­zi­piert und dar­über die viel rea­le­re Kri­sen­ge­fahr ver­ges­sen. Nicht der Sozi­al­staat ist unser Pro­blem, zumal man am Älter­wer­den von Men­schen und der abneh­men­den Zahl von Hei­ra­ten und Gebur­ten poli­tisch nichts ändern kann, noch es sollte.

Was Deutsch­land zu schaf­fen macht, ist die sinn­lo­se Para­ly­se der für Sti­mu­lie­rung und Ver­ste­ti­gung des gesamt­wirt­schaft­li­chen Wachs­tums benö­tig­ten wirt­schafts­po­li­ti­schen Instru­men­te. Die­se Para­ly­se ist sinn­los, denn die Wäh­rungs­uni­on blo­ckiert bei den Mit­glieds­staa­ten, was sie auf ihrer Ebe­ne gar nicht erset­zen kann! Und sie ist selbst­mör­de­risch, denn ein Wäh­rungs­eu­ro­pa, das sich in Zukunft auf geschwäch­te Volks­wirt­schaf­ten und poli­tisch insta­bi­le Staa­ten stüt­zen muß, wird weder sei­ne Zie­le errei­chen noch sei­nen Zusam­men­halt sichern können.
Damit ist zugleich die drit­te immer wie­der zu hören­de Falsch­dar­stel­lung ange­spro­chen: Die deut­sche Kri­se habe nichts mit dem Euro zu tun. Es hät­te sie, weil struk­tu­rel­ler Art, auch unter einem DM-Regime gege­ben. Bewei­sen läßt sich das natür­lich nicht. Aber gera­de die­se Argu­men­ta­ti­on blen­det die mit der DM ver­schenk­ten Stand­ort­vor­tei­le der deut­schen Volks­wirt­schaft aus – von den psy­cho­lo­gi­schen Effek­ten einer star­ken natio­na­len Wäh­rung auf das Inves­ti­ti­ons­ver­hal­ten der Unter­neh­men und das Kon­su­men­ten­ver­trau­en nicht zu reden.
Die DM, eine Wäh­rung, die nur ein Risi­ko kann­te: die Auf­wer­tung, nicht die Abwer­tung, ver­schaff­te Deutsch­land den Vor­teil des nomi­nal wie real nied­rigs­ten Zins­ni­veaus in der EU und des für Aus­län­der güns­tigs­ten Inves­ti­ti­ons­stand­or­tes – denn in DM-Anla­gen gab es Kapi­tal­ge­win­ne, kei­ne Ver­lus­te. Zugleich war jede DM-Auf­wer­tung eine Real­ein­kom­mens­er­hö­hung für Arbeit­neh­mer und Rent­ner, „eine Sozi­al­di­vi­den­den­aus­schüt­tung für das deut­sche Volk“ (Karl Schil­ler), denn man konn­te mit har­ter DM bil­lig rei­sen und bil­lig tan­ken. Die Export­wirt­schaft kom­pen­sier­te ihren Auf­wer­tungs­nach­teil mit der Ver­bil­li­gung ihrer Roh­stoff- und Vor­leis­tungs­im­por­te, mit nied­ri­gen Finan­zie­rungs- und gebrems­ten Lohn­kos­ten – wie gut, das zeig­te der trotz nach­hal­ti­ger DMAuf­wer­tun­gen unge­bro­che­ne Anstieg von Export­vo­lu­men und –über­schuß wäh­rend aller Vor-Euro-Jahre.
Für Euro­pa und sei­nen Gemein­sa­men Markt war die DM Leit­wäh­rung und Sta­bi­li­täts­an­ker. Als Leit­wäh­rung hielt sie den Wäh­rungs­wett­be­werb in Trab, als Sta­bi­li­täts­an­ker hielt sie das Infla­ti­ons- und Abwer­tungs­ri­si­ko der Part­ner­län­der im Zaum; denn eine zu star­ke Abwer­tung zur DM bedeu­te­te für sie nicht Kor­rek­tur der Infla­ti­on, son­dern ihre Ver­schär­fung. Der Euro­päi­sche Bin­nen­markt hat nie bes­ser funk­tio­niert als in sei­nen ers­ten vier­zig Jah­ren (ab 1958) vor Ein­füh­rung des Euro (1998 / 99). Kein Mit­glieds­land klag­te über Kri­sen­im­port oder Glo­ba­li­sie­rungs­schä­den – denn es konn­te sie leicht abweh­ren über gegen­hal­ten­de Zins- und Wech­sel­kurs­po­li­tik. Kei­ne natio­na­le Kri­se (und deren gab es etli­che) sprang über auf Euro­pa, denn man konn­te sie natio­nal bekämp­fen und trotz­dem im euro­päi­schen Markt­ver­bund verbleiben.
Letzt­lich war es ein schwe­rer Kunst­feh­ler der Deut­schen Bun­des­bank, der in den Kri­sen­jah­ren 1992 / 93 – als es in Deutsch­land wegen der Wie­der­ver­ei­ni­gung boom­te, im übri­gen Euro­pa nicht – die noch kei­nes­wegs start­kla­re Euro-Rake­te zün­de­te. Statt den infla­to­ri­schen Ver­ei­ni­gungs­boom (wie bis­her üblich) über eine wei­te­re Auf­wer­tung der DM abzu­küh­len, setz­te man im Frank­fur­ter Wäh­rungs­areo­pag auf steil anzie­hen­de Zin­sen. Eng­land, Frank­reich, Ita­li­en und ande­re Part­ner monier­ten zu Recht, daß die deut­sche Zins-Roß­kur ihren Volks­wirt­schaf­ten scha­de – sie muß­ten der deut­schen Ver­ei­ni­gung wegen auf Wachs­tum und Arbeits­plät­ze ver­zich­ten. Damals kam das Gere­de vom deut­schen Wäh­rungs- und Zins- Impe­ria­lis­mus auf, das dann ein bekann­ter Ham­bur­ger (Hel­mut Schmidt) auf­griff, um den Euro in sei­ner Par­tei hof­fä­hig zu machen. Der Rest der Geschich­te ist bekannt.

Der Über­gang von der DM zum Euro ist nicht nur für Deutsch­land ein Ver­lust­ge­schäft, er ist es für Euro­pa. Der alte Kon­ti­nent steht vor dem Dilem­ma: Ent­we­der nach der Schlacht um den Ver­fas­sungs­ver­trag die nächs­te um die Wäh­rungs­uni­on zu ver­lie­ren oder umzu­steu­ern; denn ein Pub, in dem der Gast­wirt sei­ne armen Gäs­ten solan­ge frei­hält, bis er sel­ber plei­te ist – lan­ge bevor auch nur einer der Gäs­te sel­ber zah­len kann – muß den Laden frü­her oder spä­ter schlie­ßen. Ent­we­der der Wirt ver­rie­gelt die Tür, oder die Gäs­te blei­ben weg. Selbst wenn die Regie­rungs­wir­te die Türen offen­hiel­ten, war­um soll­ten Gäs­te kom­men, wenn es nichts mehr zu trin­ken gibt? Ihre Abstim­mung per Geld­schein, aus­ge­führt an den glo­ba­len Finanz­märk­ten, hat bereits begon­nen. Die Wäh­rungs­gäs­te wen­den sich ande­ren, ergie­bi­ge­ren Rast- und Trink­stät­ten zu. Ihr Votum wird stär­ker wer­den, wenn die Ris­se im euro­päi­schen Wäh­rungs­haus nicht mehr zu über­se­hen sind.
Das Dilem­ma der EU ist, abzu­war­ten bis das auf schwan­ken­dem Grund gebau­te Wäh­rungs­ge­bäu­de ein­bricht – oder recht­zei­tig für ein neu­es Euro­pa auch eine neue Wäh­rungs­ver­fas­sung zu planen.
Stra­te­gi­sche Weit­sicht been­det Schlach­ten, Pro­jek­te, Expe­ri­men­te, bevor sie für alle sicht­bar schei­tern. Der Euro ist als Ersatz für natio­na­les, im Wett­be­werb mit ande­ren natio­na­len Wäh­run­gen ste­hen­des Geld nicht zu hal­ten – denn ein Geld­we­sen, das die Schutz­funk­ti­on oder rich­ti­ger ‑ver­pflich­tung des Staa­tes gegen­über sei­nen Bür­gern blo­ckiert, ist mit kei­ner demo­kra­ti­schen (rechts- wie sozi­al­staat­li­chen) Ver­fas­sung ver­ein­bar. Der Euro, obwohl durch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, (im soge­nann­ten Maas­tricht-Urteil vom 23. Okto­ber 1993) mit Vor­be­hal­ten sank­tio­niert, war von Idee und Kon­struk­ti­on immer ein Gegen­ent­wurf zum Modell des Sozi­al­staa­tes und zu Lud­wig Erhards „Sozia­ler Markt­wirt­schaft“. Erhard war es, der zusam­men mit Charles de Gaul­le der bereits in den Römi­schen Ver­trä­gen, der Geburts­ur­kun­de des Euro­päi­schen Bin­nen­mark­tes, ent­hal­te­nen Idee eines gemein­sa­men Euro­pa­gel­des den Gar­aus mach­te. Kon­se­quen­ter­wei­se ver­wen­den auch die Tex­te der Maas­tricht-Ver­trä­ge nie­mals das Adjek­tiv „sozi­al“ in Ver­bin­dung mit Markt­wirt­schaft, son­dern immer das Adjek­tiv „frei“. Mit Neo-Libe­ra­lis­mus hat das natür­lich nichts zu tun!
Die sozia­le Ein­bet­tung der Markt­wirt­schaft ist jedoch nicht nur ein Stück deut­scher Tra­di­ti­on, son­dern euro­päi­scher. Genau in die­sem Punkt will sich ja der alte Kon­ti­nent vom kal­ten Markt­ra­di­ka­lis­mus angel­säch­si­scher Prä­gung unter­schie­den wis­sen. Die mone­tä­re Kon­se­quenz dar­aus ist, die Ein­bin­dung der Geld­po­li­tik in das Gesamt­in­stru­men­ta­ri­um staat­li­cher Wohl­fahrts­po­li­tik mit den vier im Sta­bi­li­täts- und Wachs­tums­ge­setz von 1967, dem gemein­sa­men Erbe Lud­wig Erhards und Karl Schil­lers, defi­nier­ten Zie­len: Wachs­tums­si­che­rung, Geld­wert­sta­bi­li­sie­rung, fai­re Ein­kom­mens­ver­tei­lung und außen­wirt­schaft­li­ches Gleich­ge­wicht. Kei­nes die­ser Zie­le läßt sich ohne Rück­griff auf mone­tä­re Len­kungs­in­stru­men­te wie Zins und Wech­sel­kurs auch nur annä­hernd verwirklichen.

Für die anste­hen­de Neu­ord­nung in der EU (Erwei­te­rung, Ver­tie­fung, Finanz­pla­nung) bedeu­tet dies: Die Ver­ant­wor­tung für die Geld­po­li­tik muß den Mit­glied­staa­ten zurück­ge­ge­ben wer­den. Euro­päi­sche Wäh­rungs­uni­on und EZB müs­sen des­we­gen nicht auf­ge­löst, aber in ihren Funk­tio­nen und Auf­ga­ben beschränkt wer­den. Es geht:

(1) um die Wie­der­her­stel­lung der natio­na­len Wäh­rungs­sou­ve­rä­ni-tät: die Reak­ti­vie­rung der alten Zen­tral­bank­ge­set­ze und ‑sta­tu­ten, die Wie­der­ein­füh­rung natio­na­ler Geld­schei­ne und ‑mün­zen;
(2) um die Neu­de­fi­ni­ti­on des in Maas­tricht geschaf­fe­nen „Sys­tems Euro­päi­scher Zen­tral­ban­ken“ (ESZB). Mit den natio­na­len Geld­emis­si­ons­mo­no­po­len ent­fällt das der EZB. Statt die natio­na­len Zen­tral­ban­ken (NZB) zu refi­nan­zie­ren, über­wacht und koor­di­niert die EZB dann deren Poli­tik aus gesamt­eu­ro­päi­scher Sicht;
(3) die Her­stel­lung eines mul­ti-mone­tä­ren euro­päi­schen Geld­mark­tes, an dem sich durch Wäh­rungs­wett­be­werb ein­schließ­lich dem der glo­ba­len Geld­märk­te die Wech­sel­kur­se der euro­päi­schen Wäh­run­gen bil­den. Sie kön­nen durch mit der EZB abge­spro­che­ne Inter­ven­tio­nen der NZB kor­ri­giert werden;
(4) um die Rück­füh­rung des Euro von einem für die Mit­glied­staa­ten „gesetz­li­chen Zah­lungs­mit­tel“ zu einer inter­nen Ver­rech­nungs­ein­heit für EZB und NZB, ana­log der frü­he­ren ECU (Eco­no­mic Cur­ren­cy Unit des Euro­päi­schen Wäh­rungs­sys­tems EWS der Vor-Maas­tricht-Zeit). EZB und NZB kön­nen sich dar­auf ver­stän­di­gen, die Schwan­kungs­brei­te „ihrer“ Wäh­run­gen mit­tels Euro durch ein „Band“ zu begren­zen. Der neue Euro wür­de als Bemes­sungs­grund­la­ge und Refe­renz­wert für die Wech­sel­kurs­sta­bi­li-sie­rung fun­gie­ren (Euro-Stan­dard).

Die­se im wesent­li­chen dem alten EWS der Vor-Euro-Ära nach­ge­bil­de­te Wäh­rungs­ver­fas­sung wür­de die Vor­tei­le des Wäh­rungs­wett­be­werbs (fai­rer Stand­ort­wett­be­werb, Ver­fol­gung sozi­al­staat­li­cher Zie­le) mit denen einer engen euro­päi­schen Wäh­rungs­ko­ope­ra­ti­on ver­bin­den. Das neue Sys­tem knüpft an die vier­zig Erfolgs­jah­re des Euro­päi­schen Bin­nen­mark­tes an, als jedes Land für sei­ne Wäh­rung ver­ant­wort­lich war und jede Wäh­rung die rea­le Leis­tung der Volks­wirt­schaft unver­fälscht widerspiegelte.
Euro­pa muß wie­der wer­den, was es in der Vor-Euro-Zeit war: eine Gemein­schaft wirt­schaft­lich zusam­men­wach­sen­der Natio­nen unter eige­ner natio­na­ler Selbst­be­stim­mung und Haf­tung: kei­ne „Frei­han­dels­zo­ne“, son­dern die Wie­der­ge­burt jenes Han­sa-Bun­des, in dem zu Beginn der Neu­zeit freie Staa­ten, Städ­te und Kauf­leu­te unter all­ge­mein akzep­tier­ten Regeln und Geset­zen die Grund­la­gen des euro­päi­schen Wohl­stan­des leg­ten und ver­brei­te­ten. In einer sol­chen Han­se-Kon­zep­ti­on ver­lö­re auch die geplan­te EU-Erwei­te­rung viel von ihrem Schre­cken – schloß die dama­li­ge Han­se doch gro­ße Tei­le des jetzt an die EU-Pfor­ten klop­fen­den nörd­li­chen wie öst­li­chen Euro­pa ein. Der alte Kon­ti­nent war nie­mals mehr ein Wirtschafts‑, Kul­tur- und Lebens­raum als zu jener Zeit.

Nichts schreibt sich
von allein!

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