Autorenportrait Margret Boveri

pdf der Druckfassung aus Sezession 9 / April 2005

sez_nr_9von Karlheinz Weißmann

„Schön ist sie nicht. Klein, dick, mit Brille, wohl etwa 50 Jahre alt, mit schon recht viel Falten um die Mundpartie, was ihr ein etwas krötenhaftes Aussehen gibt. Wenn sie spricht und lächelt, hat sie aber einen gewissen Charme. Große innere Lebhaftigkeit bei einem etwas unbeweglichen Äußeren. Und sie weiß genau, was sie will.“ Diese Sätze hat Margret Boveri einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, um ihr eigenes Wesen zu charakterisieren. Zu dessen wichtigsten Zügen gehörte neben Zielstrebigkeit und Intelligenz etwas Unweibliches, ein sich früh abzeichnender Mangel – nicht nur an Attraktivität – sondern auch an Weichheit. Das Männliche an ihr erklärt viel von dem Respekt, den ihr Männer zollten, auch und gerade konservative Männer. Arnold Gehlen rechnete sie mit Ariadne zu den „Damen, die in den Labyrinthen Bescheid wissen“.

Mar­gret Boveri wur­de am 14. August 1900 in Würz­burg gebo­ren. Sie gehör­te damit zur letz­ten Gene­ra­ti­on, die das „alte Euro­pa“ bewußt wahr­ge­nom­men hat. Ihre Schil­de­run­gen der Vor­kriegs­zeit zeich­nen durch­aus das Bild einer bür­ger­li­chen Idyl­le. Dabei waren die häus­li­chen Ver­hält­nis­se nicht im enge­ren Sin­ne kon­ven­tio­nell. Der Vater, Theo­dor Boveri, hat­te einen Lehr­stuhl für Bio­lo­gie an der Uni­ver­si­tät Würz­burg inne, pfleg­te aber auch musi­sche Nei­gun­gen. Die Mut­ter Mar­cel­la war Ame­ri­ka­ne­rin. Als Aus­län­de­rin hat­te man ihr – anders als den deut­schen Frau­en die­ser Zeit – das Stu­di­um ermög­licht; sie war, was man schon damals „eman­zi­piert“ nann­te und gehör­te als Vas­sar Girl zu den Absol­ven­tin­nen des berühm­ten Vas­sar Col­leges für Mäd­chen, aus dem eine gro­ße Zahl bedeu­ten­der Ame­ri­ka­ne­rin­nen her­vor­ge­gan­gen ist. Mar­gret Boveri hat ihrer Mut­ter die „Eman­zi­pa­ti­on“ gedankt, auch wenn das Ver­hält­nis immer gespannt war. Das hing mit der Ver­schie­den­heit von Tem­pe­ra­ment und Inter­es­se zusam­men, vor allem aber damit, daß der gelieb­te Vater früh ver­starb und die bei­den Frau­en wäh­rend des Kriegs und Nach­kriegs auf­ein­an­der ange­wie­sen blie­ben. Nach Mar­gret Boveri gab es außer­dem eine objek­ti­ve Ursa­che für die Kon­flik­te: Die Mut­ter erschien ihr als „Ver­kör­pe­rung des Ame­ri­ka­ni­schen“, das sie ablehn­te, obwohl oder weil es auch einen Teil ihres Wesens aus­mach­te: prag­ma­tisch, posi­ti­vis­tisch, metho­disch, ohne Muße.
Der Aus­bil­dungs­gang bis zum Abitur war für ein Mäd­chen in der aus­ge­hen­den wil­hel­mi­ni­schen Epo­che immer noch schwie­rig. Nur auf Umwe­gen erreich­te Mar­gret Boveri schließ­lich die Rei­fe­prü­fung an einem Real­gym­na­si­um. Sie nahm 1921 ein Stu­di­um der Ger­ma­nis­tik, Anglis­tik und Geschich­te in Würz­burg auf. Unter dem Druck der Mut­ter trat sie nach dem Ers­ten Staats­examen in das Refe­ren­da­ri­at ein; ihre frag­men­ta­ri­schen Erin­ne­run­gen ent­hal­ten eini­ge erhel­len­de und zeit­lo­se Bemer­kun­gen über die­se Aus­bil­dungs­pha­se künf­ti­ger Schul­meis­ter („Hier wur­den wir zum Lügen erzo­gen“). Daß sie sich als Päd­ago­gin nicht eig­ne, hat sie von Anfang an gewußt und nach dem Zwei­ten Staats­examen das Stu­di­um der Geschich­te in Mün­chen bei Her­mann Oncken fort­ge­setzt; 1932 wird sie mit einer Unter­su­chung über Edward Grey und das For­eign Office pro­mo­viert; nach ihrer Ein­schät­zung eine „rei­ne Fleißarbeit“.
Das vita­le Inter­es­se Mar­gret Bove­ris an Geschich­te und Außen­po­li­tik ent­sprach nicht nur nicht den Erwar­tun­gen ihrer Mut­ter, es paß­te über­haupt nicht zu den all­ge­mei­nen Vor­stel­lun­gen von geis­ti­ger Beschäf­ti­gung, die man bei einer Frau ver­mu­te­te. Es war ein glück­li­cher Umstand, der sie im Jour­na­lis­mus rasch ein geeig­ne­tes Berufs­feld und eini­ge Men­to­ren wie Paul Schef­fer und Ben­no Rei­fen­berg fin­den ließ. Es war ein unglück­li­cher, daß der Beginn ihrer Lauf­bahn mit der Errich­tung des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Regimes zusam­men­fiel, das die Pres­se­frei­heit Stück für Stück beschnitt.

Mar­gret Boveri war kei­ne Par­tei­gän­ge­rin Hit­lers oder sei­nes Regimes. Als sie 1934 Redak­teu­rin des Ber­li­ner Tageblatts wur­de, zeig­te allein die­se Wahl ein erheb­li­ches Maß an oppo­nie­ren­der Hal­tung. Das Tage­blatt war zwar einem dau­er­haf­ten Ver­bot ent­gan­gen, galt aber wegen sei­ner libe­ra­len Aus­rich­tung als „Juden­zei­tung“. Sie hat spä­ter in ihrem Buch Wir lügen alle – Eine Haupt­stadt­zei­tung unter Hit­ler das eigen­tüm­li­che, für die Nach­ge­bo­re­nen nie ganz ver­ständ­li­che Tak­tie­ren und Lavie­ren beschrie­ben, das es die­sem und ande­ren bür­ger­li­chen Blät­tern mög­lich mach­te, noch eini­ge Zeit zu über­ste­hen, ohne die Prin­zi­pi­en sach­li­cher Bericht­erstat­tung ganz zu verraten.
Als Mar­gret Boveri das Tage­blatt 1937 ver­ließ, geschah das bezeich­nen­der­wei­se aus Pro­test gegen den Anpas­sungs­kurs der Her­aus­ge­ber. Zwei Jah­re arbei­te­te sie als Lek­to­rin des Atlan­tis-Ver­lags, des­sen gleich­na­mi­ge Zeit­schrift vor allem Rei­se­be­rich­te brach­te. Die Tätig­keit lag ihr inso­fern, als Rei­sen zu ihren gro­ßen Lei­den­schaf­ten gehör­te. Sie hat­te schon in den zwan­zi­ger Jah­ren eini­ge Zeit in Ita­li­en gelebt und 1932 / 33 eine aben­teu­er­li­che Fahrt mit eige­nem Wagen durch Spa­ni­en und Nord­afri­ka unter­nom­men, 1935 / 36 bereis­te sie im Auf­trag des Tage­blatts Grie­chen­land, Mal­ta, Ägyp­ten und den Sudan.
Die dabei gesam­mel­ten Ein­drü­cke ver­band sie mit all­ge­mei­nen poli­ti­schen und his­to­ri­schen Refle­xio­nen in ihrem ers­ten Buch, das 1936 unter dem Titel Das Welt­ge­sche­hen am Mit­tel­meer bei Atlan­tis her­aus­kam. Es war über­ra­schend erfolg­reich und Mar­gret Boveri über­trug das Kon­zept mit klei­nen Abwand­lun­gen auch auf ihre bei­den fol­gen­den Bücher: Vom Mina­rett zum Bohr­turm (1938) und Ein Auto, Wüs­ten, blaue Per­len (1939). Mitt­ler­wei­le hat­te sie den Atlan­tis-Ver­lag wie­der ver­las­sen und eine Stel­le als Redak­teu­rin der Frank­fur­ter Zei­tung (FZ) ange­tre­ten. Im Mai 1939 ging sie auf eige­nen Wunsch als Kor­re­spon­den­tin nach Stock­holm, das sie bald uner­träg­lich lang­wei­lig fand. Es folg­te die Ver­set­zung nach New York im Okto­ber 1940, die sie trotz des Kriegs­be­ginns zu einer Welt­rei­se nutz­te: von Ber­lin über Mos­kau, dann mit der Trans­si­bi­ri­schen Eisen­bahn bis nach Man­dschu­kuo, über Korea nach Japan, von dort mit dem Schiff in die USA.
Daß eine der­ar­ti­ge Rei­se noch mög­lich war, hat­te mit der beson­de­ren mili­tä­ri­schen Lage zu tun, die sich so aber nur bis zum Som­mer 1941 hielt. Im Dezem­ber des Jah­res, nach dem Kriegs­ein­tritt der USA, wur­de Mar­gret Boveri in New York ver­haf­tet und inter­niert, dann aus­ge­wie­sen und im Mai 1942 nach Euro­pa zurück­ge­schickt. Aller­dings ging sie nicht nach Deutsch­land, son­dern blieb als Kor­re­spon­den­tin der Frank­fur­ter Zei­tung für Eng­land und Ame­ri­ka in Lis­sa­bon. Erst nach dem Ver­bot der FZ im August 1943 und einem kur­zen Zwi­schen­spiel an der deut­schen Bot­schaft in Madrid trat sie end­gül­tig den Heim­weg an.
Sie tat das sehen­den Auges, weil sie den Unter­gang – nicht nur des Regimes, son­dern Ber­lins und Preu­ßens – als Zeu­gin mit­er­le­ben woll­te. Aller­dings war mit der Frank­fur­ter Zei­tung die letz­te jener jour­na­lis­ti­schen „Enkla­ven“ ver­schwun­den, in denen sie bis dahin gelebt hat­te. Seit dem März 1944 arbei­te­te Mar­gret Boveri des­halb nur noch als freie Mit­ar­bei­te­rin für ver­schie­de­ne Blät­ter, unter ande­rem für Das Reich. Joseph Goeb­bels hat­te sie von Anfang an für die­ses Pres­ti­ge­ob­jekt des Pro­pa­gan­da­mi­nis­te­ri­ums, eine Qua­li­täts­zei­tung ohne all­zu enge ideo­lo­gi­sche Bin­dung, zu gewin­nen ver­sucht, aller­dings ohne Erfolg. Jetzt erst sah sie in dem Spiel­raum, den Das Reich bot, eine Zufluchts­mög­lich­keit. Illu­sio­nen über den Fort­gang der Din­ge erlaub­te sie sich nicht, aber gera­de das Wis­sen um die bevor­ste­hen­de Kata­stro­phe hat zum Gefühl einer beson­de­ren Ver­bun­den­heit mit dem Schick­sal Deutsch­lands beigetragen.

Es wie­der­hol­te sich bei Mar­gret Boveri in gewis­ser Wei­se der­sel­be Vor­gang wie nach der Nie­der­la­ge von 1918. In einem patrio­ti­schen Reflex hat­te sie sich damals dem „Deutsch­na­tio­na­len Jugend­bund“ ange­schlos­sen; sie bedau­er­te den Schritt kurz dar­auf wegen des Anti­se­mi­tis­mus auf der Rech­ten, aber an der prin­zi­pi­el­len Rich­tig­keit ihrer Ent­schei­dung zwei­fel­te sie nicht. Noch im Des­in­ter­es­se an innen­po­li­ti­schen Fra­gen und der prin­zi­pi­el­len Skep­sis gegen­über der Wei­ma­rer Repu­blik, schließ­lich in der vor­sich­ti­gen Sym­pa­thie für den Kom­mu­nis­mus – sie sprach von einem „Sog“, den die­se Ideo­lo­gie seit Beginn der drei­ßi­ger Jah­re aus­ge­übt habe – blieb immer die Vor­stel­lung selbst­ver­ständ­lich, daß die Nati­on die staat­li­che Ord­nung vor­ge­be. Ihre Ein­stel­lung gegen­über Hit­ler war denn auch maß­geb­lich davon mit­be­stimmt, daß sie ihn für unfä­hig hielt, die Deut­sche Fra­ge zu lösen. Es fehl­te aus ihrer Sicht an Maß und his­to­ri­scher Ori­en­tie­rung. Dar­um rech­ne­te sie seit dem Beginn der vier­zi­ger Jah­re, vor allem nach der Wen­dung gegen die Sowjet­uni­on, mit einer Kata­stro­phe. Aller­dings erschien ihr die Ent­wick­lung nicht als Ergeb­nis eines kol­lek­tiv schuld­haf­ten Han­delns, son­dern als Fol­ge tra­gi­scher Ver­stri­ckung, feh­ler­haf­ter Ent­schei­dun­gen und inkom­pe­ten­ter Führung.
Seit ihrer Rück­kehr beschäf­tig­te Mar­gret Boveri vor allem das Pro­blem, wie Deutsch­land nach dem Zusam­men­bruch wie­der auf­ge­baut wer­den könn­te. Dabei such­te sie die Lösung in einer Rich­tung, die man kaum als nahe­lie­gend betrach­ten wird. Sie selbst hat spä­ter davon gespro­chen, daß sie in die­ser Zeit mit dem „Libe­ra­lis­mus“ gebro­chen habe. Ent­schei­dend dafür war die Lek­tü­re von Ernst Jün­gers Arbei­ter: „eine unge­heu­er­li­che, in Erfül­lung gegan­ge­ne Pro­phe­tie“. Die Beschäf­ti­gung mit Jün­ger, aber auch der Kon­takt zu Män­nern aus dem Krei­sau­er Kreis und der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on der Ver­schwö­rer des 20. Juli führ­ten bei ihr – nach­träg­lich – zur Begeg­nung mit dem Gedan­ken­gut der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on. Es war eine Annä­he­rung, die vor allem auf intel­lek­tu­el­ler Affi­ni­tät beruh­te, Kon­se­quenz der Feind­schaft gegen­über der Mas­sen­ge­sell­schaft, die auch Hit­ler her­vor­ge­bracht hat­te, Ergeb­nis der Ori­en­tie­rung an der Nati­on und deren Iden­ti­tät sowie der Vor­stel­lung von einem deut­schen Weg zwi­schen Ost und West.
Mar­gret Boveri glaub­te nicht, daß eine selbst­be­stimm­te deut­sche Poli­tik in nächs­ter Zukunft mög­lich sein wer­de, aber sie dach­te in lan­gen Fris­ten. Sie blieb ganz bewußt in Ber­lin und hat von den letz­ten Kämp­fen, dem Zusam­men­bruch und den Umstän­den der sowje­ti­schen Beset­zung in ihrem Buch Tage des Über­le­bens bered­tes Zeug­nis abge­legt. Es fehlt der Dar­stel­lung nicht an Skur­ri­li­tä­ten, manch­mal wird auch ein merk­wür­di­ges Genie­ßen des Aus­nah­me­zu­stands spür­bar, aber es domi­niert doch das Furcht­ba­re, der Schre­cken, der Hun­ger, die Ver­ge­wal­ti­gun­gen. In vie­lem ist ihre Dar­stel­lung ver­gleich­bar dem Tage­buch einer ande­ren Ber­li­ne­rin, der Anony­ma, deren Erin­ne­run­gen Hans Magnus Enzens­ber­ger her­aus­ge­ge­ben hat.

Mar­gret Boveri zöger­te lan­ge mit der Ver­öf­fent­li­chung von Tage des Über­le­bens – das Buch erschien erst 1968 – weil sie sich Sor­gen um die poli­ti­sche Wir­kung mach­te. Ihrer Mei­nung nach muß­te eine wei­te­re Ver­schär­fung des Kal­ten Krie­ges ver­hin­dert wer­den. Sie ver­trat die­se Auf­fas­sung nicht, weil sie ein zu posi­ti­ves Bild der Sowjet­uni­on hat­te oder eine Ent­span­nung zwi­schen den Blö­cken um jeden Preis wünsch­te, son­dern weil sie befürch­te­te, daß jede Eska­la­ti­on der Feind­se­lig­kei­ten zwi­schen Ost und West für das geteil­te Deutsch­land nach­tei­li­ge Fol­gen haben wür­de. Dem rela­ti­ven Wohl­wol­len gegen­über der Sowjet­uni­on ent­sprach eine außer­or­dent­lich kri­ti­sche Hal­tung gegen­über den Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Die­se Reser­ve hat­te Tra­di­ti­on, war schon in dem Ver­hält­nis zur Mut­ter spür­bar gewe­sen, dann in der wie­der­hol­ten Ableh­nung des Vor­schlags, in die USA zu über­sie­deln und schließ­lich auch in der Bericht­erstat­tung über ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik zu Beginn der vier­zi­ger Jah­re, die zwar nicht auf NS-Linie lag, aber erheb­li­che Vor­be­hal­te gegen­über Washing­ton deut­lich wer­den ließ.
Mar­gret Boveri hat die Grün­de ihres „Anti­ame­ri­ka­nis­mus“ auf durch­aus amü­san­te Wei­se in einer Ame­ri­ka-Fibel zusam­men­ge­faßt. Daß das Büch­lein 1946 in der fran­zö­si­schen Zone erschei­nen muß­te und in der ame­ri­ka­ni­schen ver­bo­ten wur­de, konn­te kei­ne Über­ra­schung sein. Denn ihr „Ver­such Unver­stan­de­nes zu erklä­ren“, ent­hielt so vie­le offe­ne und ver­steck­te Angrif­fe, daß sich die US-Mili­tär­ver­wal­tung pro­vo­ziert füh­len muß­te. Mar­gret Boveri zeich­ne­te einen bestimm­ten Typus, nicht ohne Ein­füh­lung, aber mit deut­li­cher Reser­ve. Sie prä­sen­tier­te ihn dem deut­schen Publi­kum vor erfolg­rei­cher Ver­west­li­chung und bau­te dar­auf, daß nur über­nom­men wer­de, was sich loh­ne. Sie warn­te vor der Nei­gung des Ame­ri­ka­ners, den raschen Wech­sel zu fei­ern, ana­ly­sier­te die Ursa­che sei­nes Selbst- und Sen­dungs­be­wußt­seins, das den Opti­mis­mus einer­seits, den Glau­ben an die unbe­grenz­te Erzieh- und Umer­zieh­bar­keit der Men­schen ande­rer­seits spei­se. Im abschlie­ßen­den Kapi­tel begrün­de­te sie noch ein­mal ihre prin­zi­pi­el­len Vor­be­hal­te, die im Ver­hält­nis zum „Ding“ begrün­det lägen. Ihrer Auf­fas­sung nach war die Welt für die Ame­ri­ka­ner voll und über­voll mit Din­gen, die sie als Sachen ver­stan­den, die Reich­tum aus­mach­ten, sich nütz­lich oder unnütz erwie­sen. Man lös­te sich von ihnen schnell. Anders die euro­päi­sche, vor allem die deut­sche Sicht­wei­se, die dem Besitz immer auch eine geis­ti­ge Dimen­si­on abzu­ge­win­nen such­te. Das betraf vor allem das Haus, das von einer Gene­ra­ti­on auf die ande­re ver­erbt wur­de, wäh­rend der Ame­ri­ka­ner eine Art kom­for­ta­bles Noma­den­tum bevor­zu­ge und das Haus eben­so schnell wie­der auf­ge­be wie er es bezo­gen habe. Mar­gret Boveri zitier­te in dem Zusam­men­hang Oswald Speng­ler und Rai­ner Maria Ril­ke, aber sie ver­harr­te nicht in kul­tur­kri­ti­schem Pes­si­mis­mus. Sie glaub­te an die Mög­lich­keit eines neu­en Anfangs, auch bewirkt durch die „Rege­ne­ra­ti­ons­kraft der wert­tra­gen­den Dinge“.

Ähn­li­ches Ver­trau­en setz­te sie in die poli­ti­schen Mög­lich­kei­ten. Dabei blieb sie unbe­irrt der ein­ge­schla­ge­nen Rich­tung treu, obwohl die gro­ße Ent­wick­lung bald eine ganz ande­re Ten­denz zeig­te, gegen „ein Drit­tes, Eige­nes“. All­ge­mein gilt die Ber­lin-Kri­se als Beginn der Annä­he­rung zwi­schen west­deut­scher Bevöl­ke­rung und west­li­chen Alli­ier­ten. Unter dem Ein­druck des gemein­sa­men Wider­stands gegen die sowje­ti­sche Bedro­hung wuchs das Gefühl der Soli­da­ri­tät, trat die Wahr­neh­mung der USA, Groß­bri­tan­ni­ens und Frank­reichs als Sie­ger­mäch­te zurück hin­ter der Vor­stel­lung, es han­de­le sich um die gege­be­nen Ver­bün­de­ten gegen den Feind Sta­lin. Wie man den erhal­te­nen Brie­fen ent­neh­men kann, die Mar­gret Boveri mit Ernst Reu­ter, dem sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Ober­bür­ger­meis­ter von Ber­lin, wech­sel­te, schätz­te sie die Lage anders als die meis­ten ein. Sie fürch­te­te, daß eine wach­sen­de Kon­fron­ta­ti­on der Groß­mäch­te in Euro­pa die Tei­lung Deutsch­lands ver­ewi­gen wer­de. Aus die­sem Grund lehn­te sie auch die Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik und über­haupt die Poli­tik der West­bin­dung ab.
Bis Mit­te der fünf­zi­ger Jah­re nahm Mar­gret Boveri immer wie­der gegen Ade­nau­er Stel­lung. Ihre Posi­ti­on wäre sach­lich als „natio­nal­neu­tra­lis­tisch“ zu bezeich­nen, aber sie schloß sich kei­ner der ver­schie­de­nen Orga­ni­sa­tio­nen an, die damals der Idee eines „drit­ten Wegs“ zwi­schen den Blö­cken Gehör zu ver­schaf­fen such­ten. Ihre Sache war das Schrei­ben und schrei­bend ver­such­te sie schon bei der Debat­te um die „Sta­lin-Note“ und dann noch ein­mal im Vor­feld der Pari­ser Außen­mi­nis­ter­kon­fe­renz von 1954, die nach dem Schei­tern der „Euro­päi­schen Ver­tei­di­gungs­ge­mein­schaft“ den NATO-Bei­tritt der Bun­des­re­pu­blik vor­be­rei­te­te, die Ent­wick­lung zu beein­flus­sen. Es erschien damals ein Auf­satz von ihr, der mit den Sät­zen ende­te: „Das Schick­sal, zwi­schen den Wes­ten und den Osten gestellt zu sein, ist unent­rinn­bar. Dar­in liegt der Auf­ruf, sich ihm zu stel­len.“ Die Über­schrift „Der Teig geht auf“ wirkt etwas kryp­tisch. Das liegt dar­an, daß der Text Ant­wort und Ergän­zung zu einem Zei­tungs­ar­ti­kel des schwei­ze­ri­schen Jour­na­lis­ten Hans Fleig war. Fleig hat­te in der Zür­cher Tat einen Bei­trag mit dem Titel „Der deut­sche Teig“ geschrie­ben, in dem er das Des­in­ter­es­se der Deut­schen an ihrer natio­na­len Fra­ge kri­ti­sier­te. Die Poli­tik Ade­nau­ers habe nur kurz­fris­tig Erfolg, bie­te aber kei­ne Lösung für die zen­tra­len Pro­ble­me deut­scher Exis­tenz: „Das kann man Bon­ner Rea­lis­mus nen­nen, oder bio­po­li­ti­sche Anpas­sung an erschwer­te Lebens­be­din­gun­gen, oder gesun­den Lebens­wil­len; oder kal­ten Ego­is­mus, Feig­heit, Flucht vor der größ­ten Auf­ga­be, Kol­lek­tiv­ver­rat am eige­nen Volk. Wie man will. Bloß einen Gedan­ken kann man kaum unter­drü­cken: ob die Bun­des­re­pu­bli­ka­ner, wenn sie sich für die deut­sche Ein­heit eben­so ent­schlos­sen ins Zeug gelegt hät­ten wie für ihr Wirt­schafts­wun­der, es nicht auch schon längst zustan­de gebracht hät­ten, aus dem geteil­ten Deutsch­land eines zu machen?“

Hans Fleig gehör­te zu den engs­ten Freun­den Armin Moh­lers, der als Ver­fas­ser des Buches über Die kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on in Deutsch­land die Auf­merk­sam­keit Mar­gret Bove­ris geweckt hat­te. Sie trat zu ihm wie zu Ernst Jün­ger, Gott­fried Benn und Carl Schmitt in Kon­takt, ganz offen­sicht­lich bemüht, bestimm­te Gedan­ken­gän­ge der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on unter ande­ren Umstän­den und in ande­ren Zei­ten fort­zu­set­zen. Das ist in den fünf­zi­ger Jah­ren vor allem ihrem Haupt­werk Der Ver­rat im XX. Jahr­hun­dert (1956 – 60) anzu­mer­ken. Sie skiz­zier­te hier die „Land­schaft des Ver­rats“ im Welt­bür­ger­krieg, bedingt durch den Zer­fall der reli­gi­ös begrün­de­ten Treue­pflich­ten gegen­über Fürst und Staat einer­seits und den Auf­stieg neu­ar­ti­ger Ideo­lo­gien ande­rer­seits, die ihr Zen­trum zwar in einem Land und Volk haben moch­ten, aber jen­seits der Gren­zen „fünf­te Kolon­nen“ war­ben, so daß im Kon­flikt alle Loya­li­tä­ten unsi­cher waren. Aber im Mit­tel­punkt stand die Deu­tung des Wider­stands im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land. Für Mar­gret Bove­ris Inter­pre­ta­ti­on war dabei weni­ger der ethi­sche Aspekt von Bedeu­tung als viel­mehr die welt­an­schau­li­che Prä­gung und sozio­lo­gi­sche Struk­tur der Oppo­si­ti­on. Sie hob nicht nur den Gene­ra­tio­nen­kon­flikt inner­halb des Ver­schwö­rer­krei­ses vom 20. Juli her­vor, sie wies auch auf des­sen Beein­flus­sung durch das Gedan­ken­gut der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on hin.
Das hat ihr schar­fe Kri­tik ein­ge­tra­gen. Der His­to­ri­ker Ger­hard Rit­ter, der selbst zum Umkreis des Wider­stands gehört hat­te, warf ihr vor, die Bedeu­tung der Jun­gen über­trie­ben zu haben und einer vita­lis­ti­schen Phi­lo­so­phie anzu­hän­gen, und Jür­gen Haber­mas ver­däch­tig­te sie, die Kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on ins­ge­samt reha­bi­li­tie­ren zu wol­len. Im einen wie im ande­ren steck­te ein Körn­chen Wahr­heit, aber Mar­gret Boveri war viel zu wenig Ideo­lo­gin und viel zu sehr Jour­na­lis­tin, um zu ver­ken­nen, wie gering die Aus­sich­ten seit Mit­te der fünf­zi­ger Jah­re waren, einen prin­zi­pi­el­len Kurs­wech­sel in der Deutsch­land­po­li­tik oder eine welt­an­schau­li­che Lösung von den Gesetz­mä­ßig­kei­ten des Ost-West-Kon­flikts zu errei­chen. Sie hat­te 1956 den Ein­tritt in die FAZ-Redak­ti­on wegen deren Nähe zu Ade­nau­er abge­lehnt, blieb dem Blatt aber ver­bun­den; sie publi­zier­te außer­dem in ande­ren Zei­tun­gen und eine grö­ße­re Zahl von Essays im Mer­kur, wahr­schein­lich der ein­fluß­reichs­ten Zeit­schrift die­ser Jah­re. Ihre geis­ti­ge Unab­hän­gig­keit erwarb ihr auf vie­len Sei­ten Respekt und schütz­te sie vor Iso­la­ti­on. Nach dem Abschluß der Tetra­lo­gie über den Ver­rat erschien noch ein Bänd­chen Indi­sches Kalei­do­skop (1961), mit dem sie an ihre ers­ten Rei­se­bü­cher anknüpf­te, dann die erwähn­te Arbeit über die Geschich­te des Ber­li­ner Tage­blatts im Drit­ten Reich und Tage des Über­le­bens. Das Ende ihrer jour­na­lis­ti­schen Tätig­keit mar­kier­te 1974 ein Sam­mel­band mit dem Titel Die Deut­schen und der Sta­tus quo.
Er ent­hielt eine Rei­he von Auf­sät­zen, in denen Mar­gret Boveri zu deutsch­land­po­li­ti­schen Fra­gen Stel­lung genom­men hat­te, und es ließ sich ihm eine Ten­denz ent­neh­men, die von vie­len Zeit­ge­nos­sen als Schritt nach links wahr­ge­nom­men wur­de. Der hat­te sicher zu tun mit der Hoff­nung, es wer­de eine sozi­al­de­mo­kra­tisch geführ­te Bun­des­re­gie­rung die Erstar­rung zwi­schen Bun­des­re­pu­blik und DDR auf­bre­chen und deut­sche Poli­tik trei­ben, es ging aber auch um die beson­de­re Art und Wei­se, in der sie die auf­säs­si­ge Jugend der sech­zi­ger Jah­re als eine Repri­se der Jugend­be­we­gung deu­te­te. So viel Wunsch­den­ken und Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on im einen wie im ande­ren ent­hal­ten war, es hat­te doch zu tun mit der Nei­gung zum „Krei­sen der Ele­men­tar­teil­chen“ und der beson­de­ren Lie­be Mar­gret Bove­ris zu Deutsch­land und den Deut­schen. In der post­hum, zwei Jah­re nach ihrem Tod am 6. Juli 1975, erschie­ne­nen, aus lan­gen Gesprä­chen mit dem Schrift­stel­ler Uwe John­son ent­stan­de­nen, Auto­bio­gra­phie ant­wor­te­te sie auf die Fra­ge, war­um sie, die so oft Mög­lich­keit und Ursa­che zur Emi­gra­ti­on gehabt hat­te, geblie­ben sei: „das ist mein Land. Hier gehö­re ich hin“.

Mar­gret Boveri – Eine Wie­der­ent­de­ckungDie „gro­ße Dame des poli­ti­schen Jour­na­lis­mus“ hat Karl Korn Mar­gret Boveri in einem Nach­ruf genannt. Seit­her ist es still um sie gewor­den, auch wenn die schö­ne Aus­stel­lung in der Ber­li­ner Staats­bi­blio­thek zu ihrem 100. Geburts­tag im Jahr 2000 erheb­li­chen Zulauf erleb­te. Viel­leicht liegt das dar­an, daß die Fra­gen – vor allem die Deut­sche Fra­ge – die Mar­gret Boveri zeit­le­bens umge­trie­ben haben, aus der Mode gekom­men waren und alles ande­re, was sie beschäf­tig­te – etwa das Rei­sen vor den Zei­ten des Mas­sen­tou­ris­mus – nicht mehr den exo­ti­schen Reiz von einst versprach.
Daß sich dies­be­züg­lich etwas ändert, scheint man im Wolf Jobst Sied­ler Ver­lag zu ver­mu­ten, der eine Neu­aus­ga­be des Buches Wüs­ten, Mina­ret­te und Moscheen. Im Auto durch den alten Ori­ent (ca. 280 S., geb, 22.00 €) ange­kün­digt hat und auch plant, die Ame­ri­ka-Fibel noch ein­mal her­aus­zu­ge­ben. Bereits vor­ge­legt wur­de, pünkt­lich zum Jah­res­tag des Kriegs­en­des, der berühm­te Band Tage des Über­le­bens (327 S., geb, 22.00 €). Ergänzt hat man den ursprüng­li­chen Text um ein Vor­wort von Egon Bahr, der wahr­schein­lich zu den weni­gen zählt, die über­haupt noch eine leben­di­ge Erin­ne­rung an Mar­gret Boveri haben. Aller­dings erfährt man auf den zwan­zig Sei­ten mehr über die – gar nicht unin­ter­es­san­ten – Ein­drü­cke Bahrs im Ber­lin von 1945, als über die Autorin. Ihre gan­ze irri­tie­ren­de Nei­gung zu beson­de­ren deut­schen Wegen ist ihm ent­we­der ent­gan­gen oder soll ver­ges­sen wer­den, zu Guns­ten der spä­ten Bekeh­rung zu Wil­ly Brandts Ost­po­li­tik, die ihr noch ein­mal als Mög­lich­keit erschien, Bewe­gung in die Deutsch­land­po­li­tik zu bringen.
Den Vor­wurf, bezüg­lich der poli­ti­schen Mar­gret Boveri einen blin­den Fleck zu haben, kann man der ers­ten wis­sen­schaft­li­chen Bio­gra­phie über ihre Per­son nicht machen. Das Buch Boveri – Ein deut­sches Leben von Hei­de Gör­tema­ker (Mün­chen: Beck, 416 S., geb, 26.90 €) ist aus einer Dis­ser­ta­ti­on ent­stan­den und bie­tet einen gründ­li­chen Über­blick zu Leben und Den­ken. Dabei inter­es­siert sich die Autorin vor allem für die Rol­le Mar­gret Bove­ris in der NS-Zeit. Ihr Schwan­ken, ihre Pro­ble­me, sich hin­rei­chend von der Füh­rung abzu­set­zen und gleich­zei­tig gegen­über dem Vater­land loy­al zu blei­ben, wer­den unter Ein­be­zie­hung vie­ler neu­er Aspek­te deut­lich gemacht. Im Hin­blick auf die Nach­kriegs­zeit kommt auch das eigent­lich irri­tie­ren­de Moment – die nach­lau­fen­de Ori­en­tie­rung an der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on – aus­rei­chend zur Gel­tung. Die Ver­fas­se­rin erklärt mit erheb­li­chem Ein­füh­lungs­ver­mö­gen, wie schwer es Mar­gret Boveri ange­sichts ihres „libe­ra­len Hin­ter­grunds“ wur­de, dem Wer­ben Armin Moh­lers um die Ein­heits­front der Ade­nau­er­kri­ti­ker nach­zu­kom­men. Die „kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on“ mit klei­nem „k“ war aus ihrer Per­spek­ti­ve nicht „rechts“, son­dern stand für eine unab­hän­gi­ge Posi­ti­on, jen­seits der Par­tei­gren­zen, die sie immer gesucht und mit Zähig­keit ver­tei­digt hat.

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