Reise nach Ostpreußen

pdf der Druckfassung aus Sezession 9 / April 2005

sez_nr_9von Rolf  Schilling

„Weder zu Land noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden“ (Pindar)

Man­ches, das uns wider­fährt oder das wir uns wider­fah­ren las­sen, kön­nen wir erst sehr viel spä­ter wür­di­gen in sei­nem Rang. Dies trifft auch für die Rei­se zu, die ich im Som­mer des Jah­res 1971 antrat. Mein Freund und Kom­mi­li­to­ne Wolf­gang Schnei­der hat­te mich gefragt, ob ich ihn nicht nach Polen beglei­ten wol­le. Dan­zig, Mari­en­burg, die Masu­ri­schen Seen, War­schau und Kra­kau waren als Zie­le ange­ge­ben, auch könn­ten wir ein­mal schau­en, so mein Freund, ob wir bei Ras­ten­burg die Rui­nen des Füh­rer­haupt­quar­tiers, der soge­nann­ten Wolfs­schan­ze, fin­den. Ich hat­te von die­sem Ort vage gehört, er war mir durch Stauf­fen­bergs Atten­tat bekannt, ich besaß kei­ne Vor­stel­lung von der Land­schaft, in der er lie­gen mochte.
Gewöhn­lich ergeht es mir mit dem Rei­sen wie dem Hun­de, den man zur Jagd tra­gen muß. Ich habe eine hohe Schwel­le zu über­win­den, bevor ich auf­bre­che, und ergrei­fe sel­ten sel­ber die Initia­ti­ve. Ich bedarf des Ansporns von außen. Wenn ich erst ein­mal in Marsch gesetzt bin, dann geht es mir gut, und zumeist keh­re ich heim wie von einer Festlichkeit.
So auch hier. Freund Schnei­der war in Ost­eu­ro­pa erfah­ren und für mich der rech­te Pil­ger­va­ter. Er hat­te die Tsche­cho­slo­wa­kei, Ungarn, Rumä­ni­en und Bul­ga­ri­en besucht und sich als Ein­zel­wan­de­rer über­all mit Bra­vour durch­ge­schla­gen. Dies war die ers­te Tour mit einem Gefähr­ten, zu der er sich ent­schloß. Um über­haupt in Gang zu kom­men, muß­te ich mich gro­ßer Düs­ter­nis ent­rei­ßen. Ich fiel auch nach der Heim­kunft bald in mein ziel­lo­ses Träu­men zurück. Aber die Rei­se selbst lebt als ein Licht­blick in mei­ner Erinnerung.
In der Nacht vom 12. zum 13. August fuh­ren wir vom Ost­bahn­hof los – es war eine gute Zeit, um Ber­lin zu ver­las­sen, der zehn­te Jah­res­tag des Mau­er­baus. Nach einer Stun­de bereits erfolg­te die Paß- und Zoll­kon­trol­le, wir hör­ten die Brü­cke dröh­nen und sahen die Lich­ter im Fluß. Es war ein unge­heu­res Auf­at­men, als wir die Oder über­quert, die Gren­ze im Rücken hat­ten – ein Gefühl, wie es ver­mut­lich nur der Deut­sche kennt. Das hat nichts oder wenig mit der DDR zu tun, mir geht es heu­te nicht anders. Wir leben in unse­rem Vater­land, nach dem Wor­te Höl­der­lins, „wie Fremd­lin­ge im eige­nen Haus“. Hin­zu kommt, daß es ja ein ver­lo­re­nes Stück des Vater­lan­des war, durch das wir jetzt fuh­ren. Dar­über sann ich damals nicht nach. Aber ich fühl­te mich frei wie nie­mals zuvor im Leben.
Wir kamen ins Gespräch mit den Abteil­ge­nos­sen, zwei Stu­den­ten aus Kana­da. Der eine, Bill, moch­te Mit­te Zwan­zig sein, er war von unter­setz­ter Sta­tur, der Kopf mit dem brei­ten Gesicht wirk­te groß im Ver­hält­nis zum Kör­per, sein kur­zes blon­des Haar begann sich am Schei­tel zu lich­ten. Er beherrsch­te das Deut­sche geläu­fig und feh­ler­frei. Der ande­re, jün­ge­re, Andy, schlank, schmal­ge­sich­tig, som­mer­spros­sig, mit brau­nem lang wal­len­dem Haar, sprach kein Deutsch und auch sonst kaum ein Wort. Andy stu­dier­te Che­mie in sei­ner Hei­mat, Bill Ger­ma­nis­tik in West­ber­lin. Ein schwu­les Paar, wür­de ich heu­te sagen, aber wer weiß? Wir waren ja auch kei­nes und wur­den viel­leicht dafür gehal­ten. Die bei­den soll­ten unse­re Rei­se­ge­fähr­ten in den nächs­ten drei Tagen sein.
Als der Mor­gen grau­te, kamen wir in Posen an. Wir nah­men einen Imbiß im Bahn­hofs-Restau­rant, tra­ten kurz auf den Vor­platz hin­aus, wo es nicht viel zu sehen gab, aber es war der ers­te Blick in eine fremd­län­di­sche Stadt, und stie­gen dann in den Zug nach Dan­zig. Die Gegend war flach und ein­tö­nig, die Müdig­keit, die uns befiel, ver­stärk­te das Gefühl der Tris­tesse. Über­haupt wur­de dies der här­tes­te Tag, denn die Zeit von Mit­tag bis Abend ver­ging uns mit der Suche nach einem Nacht­quar­tier. Wir fan­den es im Stu­den­ten­ho­tel, wo man uns zunächst beschied, es sei kein Zim­mer frei. Nach län­ge­rem Feil­schen, das zum Ritu­al gehör­te, kamen wir schließ­lich unter und blie­ben für vier Näch­te dort.

Von dem Dan­zi­ger Auf­ent­halt sind mir nur ein­zel­ne Bil­der erin­ner­lich. Vor allem natür­lich die Brei­te Stra­ße mit ihren wie­der­her­ge­stell­ten hoch­gie­b­li­gen Bür­ger­häu­sern als Zeu­gin han­sea­ti­scher Pracht und die Mari­en­kir­che, der gewal­tigs­te Sakral­raum, den ich bis­lang betre­ten hat­te, nur die Peters­kir­che in Rom und der Mai­län­der Dom sol­len deut­lich grö­ßer sein. Von einer ande­ren Kir­che, an der wir täg­lich mehr­mals vor­über­gin­gen, ste­hen mir die Kreu­ze auf den zahl­lo­sen Türm­chen und Gie­beln im Gedächt­nis. Lei­der fan­den wir Scho­pen­hau­ers Geburts­haus nicht, und ich kann­te noch nicht die schö­ne Geschich­te von dem Cel­lo­spie­ler, wel­cher die Blut­hun­de besänf­tig­te, die auf der Spei­cher­in­sel Wache hiel­ten. Damals war Scho­pen­hau­er mein Phi­lo­soph mehr als jeder ande­re. In den düs­ter fla­ckern­den Far­ben der Jugend-Wol­lust und ‑Melan­cho­lie hat er sein Bild der Welt gemalt. Spä­ter dann und bis heu­te war es die Klar­heit, die ich an ihm lieb­te, nicht mehr der Inhalt, doch die Form, die den Wer­ken Dau­er verleiht.
An man­chen der Häu­ser erblick­ten wir Ein­schuß­lö­cher als Spu­ren der jüngs­ten Unru­hen vom Dezem­ber 1970. Das war in den Außen­be­zir­ken, auf dem Wege zur Wes­ter­plat­te. Wir ergin­gen uns dort an einem son­ni­gen Mor­gen. Hier gab es, aus der Zeit des Zwei­ten Welt­kriegs, noch mehr an Zer­schos­se­nem zu sehen. Wir klet­ter­ten in die Bun­ker hin­ab. Vie­les dar­in war noch brauch­bar, vor allem erstaun­te uns, daß der Stahl nicht geros­tet war. Zwei jun­ge Damen, denen wir begeg­ne­ten, lie­ßen sich in brei­tem Säch­sisch über die Schön­hei­ten der Ost­see aus. Mir fiel das Cou­plet von Otto Reut­ter ein: „Ein Sach­se ist immer dabei“, and I told Bill in Eng­lish some­thing about Sax­o­ny, its inha­bi­tants and the pecu­lia­ri­ties of their language.
Am Nach­mit­tag fuh­ren wir nach Zop­pot. Andy hat­te im Zug ver­ges­sen zu bezah­len und wur­de vom Schaff­ner zur Rede gestellt. „Don’t worry about it“, sag­te er, und Bill strich ihm mit einer raschen Ges­te übers Haar. Viel mehr wird sein Freund, den wir im Scherz den LSD-Mixer nann­ten, nicht geäu­ßert haben in all der Zeit, die wir zusam­men waren. Weil er die Wor­te so spar­sam wähl­te, sind sie haf­ten geblieben.
Wir wan­der­ten auf Holz­plan­ken bis zum Ende der Zop­po­ter Mole und sahen die Schif­fe nach Schwe­den und Finn­land able­gen. Auf der Rück­fahrt wur­den wir von einem Betrun­ke­nen beschimpft, weil wir uns auf deutsch unter­hiel­ten. Eine Frau begü­tig­te den Mann und ent­schul­dig­te sich für ihn, wir zogen es vor, uns als Kana­di­er zu dekla­rie­ren und das Gespräch in Eng­lisch fort­zu­set­zen. übri­gens ver­stan­den alle, die wir in Dan­zig und anders­wo um Aus­kunft baten, Deutsch, aber nie­mand gab es von sich aus zu erkennen.
Was mir schon hier und mehr noch in War­schau und Kra­kau ins Auge stach, war der Cul­tus, den die Polen mit ihrer Nati­on und ihren Hero­en trie­ben. Wehen­de Flag­gen über­all, aber kei­ne roten wie sonst in den kom­mu­nis­ti­schen Staa­ten, son­dern die weiß-roten mit dem Adler als Emblem. Zudem erfuhr ich, daß der Haß auf die Rus­sen den Haß auf die Deut­schen weit über­traf. Auf Rus­sisch, das wuß­te man instink­tiv und sofort, wür­de man nie­man­den anspre­chen dür­fen. Dies mag dar­an lie­gen, daß Hit­ler denn doch nicht der Aus­druck deut­schen Wesens war, son­dern ein Unheil von außen, ein Asia­tis­mus, den die ande­ren uns eher zu ver­zei­hen geneigt sind als wir selbst. Auch hat er ein Ende mit Schrek­ken genom­men, wäh­rend die Geschich­te Ruß­lands seit Iwan Gros­ny ein Schre­cken ohne Ende ist.

Ich hat­te über sol­che Din­ge nie nach­ge­dacht, seit ich die kind­li­che Lust an Far­ben, Fah­nen und Uni­for­men gegen geis­ti­ge­re Genüs­se ein­ge­tauscht hat­te. Oder hat­te ich nur das Tabu akzep­tiert? Man lehr­te uns, daß mit dem Jah­re 1945 ein neu­es Zeit­al­ter ange­bro­chen sei, das der Völ­ker­freund­schaft und des lnter­na­tio­na­lis­mus, und ich mach­te mir, wie­wohl sonst schon höchst skep­tisch gegen die Zumu­tun­gen der Ideo­lo­gie, die­sen Grund­satz zu eigen, wenn nicht als Fak­tum, so als For­de­rung. Hier nun wur­de ich zu der Fra­ge gedrängt, ob denn der Alte Fritz wirk­lich um so vie­les schlech­ter gewe­sen sei als jene Kasi­mi­re und Sigis­mun­de, deren Gerings­tem noch in gro­ßem Stil gehul­digt wur­de. Ich war zum ers­ten Mal stolz, ja, ich war mir zum ers­ten Mal bewußt, Deut­scher zu sein, nicht nur als Nach­fahr der Dich­ter und Den­ker, son­dern als Sproß mei­ner Ahnen, als Erbe des Reichs, und es war von die­ser Stun­de an, daß ich nicht mehr Fried­rich der Zwei­te, son­dern Fried­rich der Gro­ße sag­te, wenn ich von dem Preu­ßen­kö­nig sprach.
Das sind Beleh­run­gen der unmit­tel­bar sinn­li­chen Art, mir wur­den im Lau­fe jener Rei­se wei­te­re zuteil. Am Mon­tag­mor­gen sag­ten wir den Kana­di­ern Adieu und bega­ben uns zur Mari­en­burg. Die größ­te und schöns­te der deut­schen Bur­gen liegt herr­lich am Ufer eines Weich­sel­arms. Wuch­ti­ge rote Mau­ern schlie­ßen sie ein, run­de Tür­me die­nen als Bas­tio­nen, der Palast des Hoch­meis­ters wird nur wenig von einem ecki­gen Berg­fried mit Zin­nen­kranz über­ragt. Die Burg war im letz­ten Krieg noch umkämpft gewe­sen. Jetzt war man mit der Restau­ra­ti­on des unte­ren Stock­werks fer­tig gewor­den. Wir konn­ten den Rem­ter, den gro­ßen Rit­ter­saal, schon betre­ten. Mich berühr­te das zugleich Schlan­ke und Stren­ge, das früh-klas­sisch Zwin­gen­de der Archi­tek­tur, wie es in Kyff­hau­sen und Mem­le­ben wie­der erscheint. Es ist ein Stil von Krie­gern, dem ich, in der Bau­kunst zumin­dest, den Stil der Pries­ter vor­zie­he, den Prunk der Kathe­dra­len, den Zau­ber der Men­schen. Doch fehl­ten auch die Ara­bes­ken nicht: im Gewöl­be der Fens­ter, wo sich über dem klar durch drei Säu­len geglie­der­ten Aus­lug plötz­lich der Spitz­bo­gen zu Schnör­keln und Steinfran­sen wie aus flat­tern­der Sei­de bizarr verstieg.
Wir klet­ter­ten über Absper­run­gen und Gerüs­te und wag­ten uns ins Ober­ge­schoß. Not­falls hät­ten wir uns dar­auf beru­fen, die pol­nisch­spra­chi­gen Ver­bots­schil­der nicht lesen zu kön­nen. Aber so gewis­sen­haft wie in Deutsch­land war man hier nicht. Wir fan­den frei­en Zutritt und klom­men sogar zum höchs­ten Turm, empor. Dies geschah auf getrenn­ten Wegen, und die Art, wie es glück­te, mag Auf­schluß über unse­re Cha­rak­te­re geben: Wäh­rend Freund Schnei­der mit einem Bau­ar­bei­ter ins Gespräch kam, der ihn nach oben gelei­te­te, irr­te ich in den Gän­gen umher, bis ich auf eine Türe stieß. Sie führ­te ins Fins­te­re. Ich ertas­te­te eine Wen­del­trep­pe, ich befand mich im Innern des Turms. In voll­kom­me­ner Dun­kel­heit stieg ich auf­wärts und stand zuletzt auf der Zin­ne im Licht. Wenig spä­ter traf Schnei­der mit sei­nem Beglei­ter ein.
Das Bau­werk über­zeug­te mich vor allem von der Was­ser­sei­te aus. Kunst und Natur – die Schick­sa­le des Rit­ter­or­dens gin­gen mich wenig an. Ich habe mich auch spä­ter­hin nicht damit befaßt. Was dar­aus zu ret­ten war: der Greif und der Adler, das Schwert und der Gral, lebt fort im Gedicht. Aber auf die Geschich­te habe ich mir bis heu­te kei­nen Reim gemacht außer diesem

Treib aus der Geschichte
Hin­ab in den Traum …

Dem­ge­mäß zog ich am Ende auch wie­der die Wer­ke des Geis­tes und sei­ne sub­ti­len Hier­ar­chien allen ande­ren Rang­ord­nun­gen vor, den Orden, Titeln, Ämtern, Dienst­gra­den, Far­ben, Ban­nern, Wap­pen. Sie waren mir gut für ein Spiel – sie wich­tig zu neh­men, fehl­te es mir an Beschei­den­heit. Dazu eine Anek­do­te: Nach der Nie­der­la­ge in der Schlacht auf dem Eise des Pei­pus­sees 1242 ver­leg­te der Hoch- und Deutsch­meis­ter des Ordens sei­nen Sitz nach Wei­kers­heim im Hohen­lo­her Gebiet, an der Gren­ze von Fran­ken und Schwa­ben. Fünf­und­zwan­zig Jah­re nach mei­nem Besuch der Mari­en­burg, im Juni 1996, saß ich dort mit zwei guten Freun­den vor den Deutsch­her­ren-Stu­ben am Markt­platz und trank mei­nen Kaf­fee. Ich teil­te Lamm­la und Geor­ge ihre Titel zu: „Du bist der Hoch­meis­ter sprach ich zum Dich­ter­freund, „und du der Deutsch­meis­ter“ zu dem in Elek­troug­li Gebo­re­nen, „und ich bin bloß der Meister“.
Am Abend ver­lie­ßen wir die Mari­en­burg mit einem pol­ni­schen Rei­se­bus in Rich­tung Osten. Als es dun­kel wur­de, in der Gegend von Allen­stein, erklang aus dem Auto­ra­dio das Lied von Simon and Gar­fun­kel Home­ward bound. Um Mit­ter­nacht hin­ter Niko­lai­ken baten wir den Fah­rer anzu­hal­ten und stie­gen aus. Wir stan­den im Fins­tern auf der Stra­ße, gin­gen an die zwei­hun­dert Schrit­te einen Feld­rain hin­auf und roll­ten am Wald­rand unse­re Schlaf­sä­cke aus. Es war, nach Lüt­zen, mei­ne zwei­te Nacht im Frei­en. Unzäh­li­ge soll­ten fol­gen bei der Armee. Ich schlief gut und tief, wenn auch nicht lan­ge. Mit dem ers­ten Mor­gen­schim­mer ward ich wach. Wir schul­ter­ten unse­re Ruck­sä­cke und mach­ten uns auf den Weg nach Gizy­cko, das frü­her Löt­zen hieß. Es moch­ten an die drei­ßig Kilo­me­ter sein, die vor uns lagen. Ange­sichts der Pfer­de­ge­span­ne auf den Stra­ßen und Äckern fühl­te ich mich in die Kind­heit zurück­ver­setzt. Der Trak­tor hat­te hier noch kei­nen Ein­zug gehal­ten. Als wir ein Drit­tel der Stre­cke bewäl­tigt hat­ten, wur­den wir von der Stra­pa­ze erlöst: Ein Armee-Last­wa­gen hielt an und man hieß uns auf­sit­zen. So gelang­ten wir rascher als erwar­tet nach Löt­zen. Freund Schnei­der hat­te her­aus­ge­fun­den, daß es ein Bun­ga­low-Dorf gab am Ufer des Mau­er-Sees. Dort­hin wan­der­ten wir und erhiel­ten auch eine Herberge.
Der Mau­er-See ist der zweit­größ­te der Masu­ri­schen Seen. Man konn­te dort kos­ten­los Ruder‑, Pad­del- und Segel­boo­te aus­lei­hen und wei­te Drif­ten auf dem viel­fach ver­zweig­ten Gewäs­ser unter­neh­men. Wir besorg­ten uns für die ers­te Aus­fahrt ein Zwei­er-Kajak und schwan­gen mun­ter die Dop­pel­blät­ter im glei­chen Takt. Aller­dings kam es bald zu Zwis­tig­kei­ten, wobei sich zeig­te, daß der Stein­bock Schnei­der an Eigen­sinn den Wid­der noch über­traf. Der eine woll­te hier­hin, der ande­re dort­hin, kei­ner gab nach, fast hat­ten wir das Boot zum Ken­tern gebracht. Dar­um beschlos­sen wir, daß am nächs­ten Tage jeder für sich los­pad­deln soll­te. So geschah es auch. Ich war vom Mor­gen bis zum Abend auf dem Was­ser, zuwei­len ließ ich mich gleich­sam auf hoher See von den Wel­len schau­keln, dann wie­der glitt ich am Saum ent­lang und in stil­le Buch­ten hin­ein. An Land ging ich nicht. Lei­der fehlt mei­ner Erin­ne­rung jeg­li­ches Detail. Noch hat­te ich nicht die Maxi­me geprägt, man soll­te auf Rei­sen kei­ne Pho­tos machen, son­dern Tage­buch schrei­ben. Ein Zeug­nis wenigs­tens ist über­lie­fert. In dem Sonett „Boots­fahrt“ ver­such­te ich die Stim­mung ein­zu­fan­gen, die mich in jenem Som­mer beseelte:

Vom Wie­gen der klat­schen­den Wel­len auf hohem Gewog
Mit raschen Schlä­gen vor­wärts zum schma­le­ren Streifen
War­ten­den Ufers der Tei­che, gela­gert im Sog
Des mäch­ti­gen Bru­ders. Die ras­ten­den Ruder schleifen

Am Schilf. Die scheu­en Buch­ten ver­lie­ren die Frische
Der off­nen Gewäs­ser und träu­men am Rand ohne Regung
Im Grü­nen. Nur manch­mal stö­ren sil­ber­ne Fische
Der dunk­len ruhen­den Was­ser rei­ne Bewegung.

Des laut­los schwei­fen­den Ruder­boots wei­che Furche
Trübt kurz den Spie­gel der Schwal­ben. Glän­zen­de Lurche
Schla­fen im Röh­richt, von sel­te­nen Düf­ten gewürzt.

Und hiel­te dich nicht eine Sehn­sucht, ich glau­be, du lenkst
Das schwan­ke Gefährt in den Grund, wo du jauch­zend empfingst
Den flam­men­den Him­mel, der schwer auf dich niederstürzt.

Der Zoll, den ich zahl­te, war hoch: eine Ver­bren­nung, ver­mut­lich ein Son­nen­stich, denn wie­wohl ich ein lang­ärm­li­ges Hemd trug, waren Hän­de und Nacken aufs übels­te ver­sehrt und ich konn­te vor Fie­ber kaum schla­fen in der Nacht. Trotz­dem war es ein Göt­ter­tag. Ein­mal geriet ich in Gefahr. Ein gro­ßes Motor­schiff kam auf mich zu, ich wuß­te nicht, wie ich manö­vrie­ren soll­te und gab es am Ende gänz­lich auf. Der Kapi­tän schien Erfah­rung mit sol­chen Sonn­tags-Aqua­nau­ten zu haben: er lenk­te sein Fahr­zeug an mir vor­bei, immer­hin erfaß­te mich die Bug­wel­le und ich wog­te in ihrem Schlag hef­tig auf und nie­der. Gegen Abend zogen sich schwar­ze Wol­ken zusam­men, ein Wind sprang auf, der See­gang war beacht­lich und der Schaum spritz­te über die Bord­wand. Da erst ent­schied ich mich, den Hafen anzusteuern.
Beim ers­ten Blitz mach­te ich fest am Steg und sprang ans siche­re Ufer. Wäh­rend Freund Schnei­der auch sonst sei­ner Wege ging, sah ich mich in Löt­zen um. Auch davon blieb mir kein Bild, nur, wie ein Leit­mo­tiv, eine Musik. Wenn wir uns den Wei­he­stät­ten, die immer Opfer­stät­ten sind, nähern, wird alles zum Sym­bol. Aber die­ses habe ich erst heu­te bemerkt: In dem Steh-Imbiß, wo ich immer zu Mit­tag aß und her­ba­ta trank, denn ich mied den Alko­hol, ertön­te aus der Music-Box ein deut­scher Schla­ger aus den sech­zi­ger Jah­ren, mit bana­lem Text und flot­ter Melo­die: „Hast du alles ver­ges­sen?“ fragt der Sän­ger im Refrain die unge­treue Freun­din und bekennt dann für sich: „Ich ver­ges­se es nie.“
Wir ver­ga­ßen es nicht, nach der Wolfs­schan­ze zu fra­gen. „Dwa do Ket­rzy­na“, ver­lang­te ich am Frei­tag­mor­gen am Fahr­kar­ten­schal­ter der Bahn. Es war der 21. August. Wir fuh­ren von Löt­zen nach Ras­ten­burg und setz­ten uns in Marsch nach dem Sperr­kreis 1. Wir waren dann noch in War­schau, Kiel­ce, Kra­kau und im Salz­berg­werk von Wie­licz­ka. Ich schen­ke mir die Erzäh­lung die­ser Bege­ben­hei­ten, ich weiß kaum etwas davon. Der Nor­den hat­te mich in den Bann sei­ner Träu­me geschla­gen. Und hier, in dem Wal­de bei Ras­ten­burg, war das Ziel uns­rer Rei­se erreicht. Wir wuß­ten das, auch wenn wir es nicht aus­spra­chen. Wir stie­gen ein ins Labyrinth.

Es gab Hin­wei­se, ich glau­be auch, das Gelän­de war umzäunt und wir muß­ten Ein­tritt bezah­len. Dann waren wir unter uns. Es war, als hät­ten wir das Tor zur Unter­welt durch­schrit­ten. Wir streif­ten den gan­zen Tag lang zwi­schen den Rai­nen umher – was zog uns hin, was hielt uns fest an die­sem Ort, wo wir nichts zu suchen und nichts ver­lo­ren hat­ten? Wir sahen dort nie­man­den außer zwei Sach­sen, die für Augen­bli­cke blö­kend aus den Trüm­mern auf­tauch­ten, als woll­ten sie mich an das Lied von Otto Reut­ter gemah­nen. Sonst war Stil­le, Schwei­gen, Wip­fel­rau­schen, Vogel­sang. Wir schrit­ten die Gemar­kung ab, wir erma­ßen den Raum. Die Trüm­mer von fünf­zig oder sech­zig zer­spreng­ten Bun­kern waren über ein Wald­stück von beträcht­li­cher Grö­ße ver­streut. Man hat­te, als man sie bau­te, zur Tar­nung Erde auf­ge­schüt­tet, so daß es der Natur nicht schwer­fiel, zurück­zu­er­obern, was der Hoch­mut der Krie­ger ihr abge­trotzt hat­te. Irgend­wann wird das alles ver­schwun­den sein, rascher als Nini­ve oder das gro­ße Baby­lon. Damals vor drei­ßig Jah­ren beherrsch­te der nack­te Beton noch die Sze­ne. Klaf­ter­di­cke Wän­de rag­ten auf, Blö­cke las­te­ten schwer, glat­te Pis­ten dehn­ten sich schräg. Hän­gen­de Stahl­stä­be beb­ten, wenn man sie streif­te, von einer frem­den Musik. Git­ter­wer­ke lagen frei, Zacken krall­ten heraus.
Ich ließ mich foto­gra­fie­ren: eine eiser­ne Lei­ter hin­auf­klet­ternd, mit aus­ge­brei­te­ten Armen flach auf dem Boden lie­gend, auf Beton­klöt­zen thro­nend, sit­zend in läs­si­ger Hal­tung unter Schlan­gen von blit­zen­dem Stahl. Es fiel schwer, sich zu tren­nen, jedes Trumm ward erstie­gen, jeder Bun­ker besucht. Es war ein ele­men­ta­res Ereig­nis und mehr als das: Es war, man weiß es, eine Ges­te des Besitz-Ergrei­fens, ein tri­um­pha­ler Akt.
War das nicht der Wald, den man nicht mehr zu ver­las­sen wünsch­te, der deut­sche Wald? Hyper­bo­rea, der Ort, von dem die Göt­ter des Nor­dens gekom­men waren, die wei­ßen Göt­ter vom Schwa­nen-Gestad, und wo sie schla­fen bis zum nächs­ten Aeon, jen­seits des Eises, der Schat­ten, des Todes, bis zur Stun­de der Wiederkehr?
Aber nein, das zu sagen und es hier zu sagen, wäre empha­tisch und falsch. Das hie­ße, sich dem Fetisch Geschich­te all­zu­sehr unter­wer­fen. Denn der Natio­na­lis­mus, wir wis­sen es mit Nietz­sche, ist auch nur eine Form des Exo­tis­mus. Und es wäre schlimm, wäre man, „von einem bösen Geist im Kreis her­um­ge­führt“, im Laby­rinth geblie­ben oder hät­te man sich, wie Pla­tens Kai­ser Otto, als „tha­ten­lo­ser“ zum „tha­ten­reichs­ten Mann“ gelegt. Weder dem Täter war hier zu hul­di­gen noch auch dem Atten­tä­ter. Bei­de gehö­ren der Zeit.
Und doch: „Hast du alles ver­ges­sen?“ War­um dies Auf­at­men? Woher das Gefühl der Befrei­ung, der Hei­ter­keit, ja, der Begeis­te­rung? Ich war in mein Reich ein­ge­tre­ten. Hier unter dem Trüm­mer­hau­fen lag etwas ver­schüt­tet, was mich anging. Der deut­sche Mythos, der deut­sche Traum. Die­ser Ort hat­te mit mir zu tun wie das Pfarr­haus in Röcken oder das Grab am Wann­see, wie der „Zara­thus­tra“ und das „Lohen­grin“- Vor­spiel. Ich wuß­te es nicht, aber ich spür­te es, ich ver­moch­te es nicht in Wor­te zu fas­sen, aber die Ahn­dung war da. Und mehr als die Ahn­dung: die Wei­he, der Zau­ber, der Rausch. Dies war, in irgend­ei­nem kaum sag­ba­ren Sin­ne, der Ort, wel­cher der Göt­ter­däm­me­rung näher lag als jeder ande­re. Die Aura hielt vor bis hier­her. Sie wur­de zer­stört, als der Vor­pos­ten fiel, als der Feind von Osten die Gren­ze des Reichs über­schritt. Was dann kam, war der Zusam­men­bruch. Hier hat­te sich etwas ent­schie­den, wor­an ich zu tra­gen hat­te und bis heu­te tra­ge. Was als Werk wuchs in mir, wuchs auch im Auf­stand wider die Schat­ten jenes Unter­gangs. Es dräng­te aus Trüm­mern ans Licht.

Der Anteil Hit­lers an der Kata­stro­phe und die Schuld der Deut­schen, die ihn zu ihrem Füh­rer erwähl­ten, sei nicht bestrit­ten. Ein Volk muß sehr krank sein, wenn es sol­chen Hei­lern ver­traut. Und doch: Nicht 1935 – 1945 war der tie­fe­re Ein­schnitt. Denn es ist ein Unter­schied, ob man Herr im eige­nen Hau­se bleibt, ob man selbst in der Kri­sis und in der Nie­der­la­ge sou­ve­rän agiert, die Ban­ner his­sen, die Toten ehren darf, oder ob man zur bedin­gungs­lo­sen Unter­wer­fung gezwun­gen wird. Hit­ler hat­te die Wür­de der Besieg­ten fürch­ter­lich miß­ach­tet. Nun fiel der Schre­cken zurück auf das deut­sche Volk.
1945 wur­de mehr zer­stört als die Wolfs­schan­ze, mehr als der Staat Preu­ßen, mehr als das Drit­te Reich oder das Deut­sche Reich. Das Ver­blas­sen der Aura, der Ver­lust der Sou­ve­rä­ni­tät zeigt sich am sub­tils­ten in der Musik. Man ver­glei­che die Ton-Auf­nah­men aus der Zeit vor dem Zusam­men­bruch mit denen der sech­zig Jah­re danach. Man höre Beet­ho­ven, diri­giert von Furtwäng­ler. Man höre in einem klei­nen Lied wie Lili Mar­leen jenen Pas­sus in der letz­ten Stro­phe, wo der Chor ein­setzt: „Wenn sich die spä­ten Nebel drehn …“ Das war nicht wie­der­hol­bar von Tau­sen­den, die es seit­her gesun­gen haben. Man ver­neh­me den Bari­ton Hans Hot­ter mit Wotans Abschied im Jah­re 1962 und dann den­sel­ben Sän­ger zwan­zig Jah­re zuvor, und man kennt ein für alle Male den Unter­schied zwi­schen einem sehr guten Sän­ger und einem sou­ve­rä­nen Sän­ger. Nicht zu reden davon, daß seit 1945 kein Sieg­fried und kein Tris­tan mehr in Bay­reuth auf der Büh­ne stan­den, ein tie­fer Riß liegt dazwi­schen, eine Wun­de, die sich bis heu­te nicht schloß.
All das dach­te ich nicht, aber ich emp­fand es, als ich an jenem son­ni­gen Spät­som­mer-Tag in Masu­ren mich zwi­schen den Trüm­mern erging. Ein Anruf war erfolgt, kaum in Wor­ten, ein Auf­trag erteilt. Kein geschicht­li­cher, kein poli­ti­scher – es ging um mehr, es ging ums Gan­ze, es geht immer dar­um. Es ging um die Hei­mat des Her­zens, um den inners­ten, den hei­ligs­ten Bereich. Der war ver­schüt­tet und begra­ben, fern­ab und streng geheim, der war aus dem Wort ver­bannt. Man erwä­ge, wie die Welt aus­sah, in die es uns ver­schla­gen hat­te, die wir in der Mit­te des Jahr­hun­derts gebo­ren sind. Die Spra­che war ver­sie­gelt, Ban­ner und Wap­pen unter Ver­schluß. Wer von Quell, Wur­zel oder gar vom Blu­te sprach, war ver­däch­tig, vom Grals­hü­ter zum SS-Mann war es nur ein Schritt, der Adler galt als „faschis­ti­sches Sym­bol“. Deut­sche Zustän­de 1997 nicht anders als 1971 oder 2005. Auf den ers­ten Blick geschieht sehr viel in einem Jahr­hun­dert, auf den zwei­ten bei­na­he nichts. Aber der Ein­zel­ne kann nicht war­ten, bis die Stun­de ihm güns­ti­ger wird, er hat sei­ne Zei­chen zu set­zen, hier und jetzt. Ich gewann mei­nen Atem, mei­ne Frei­heit als Dich­ter in dem Augen­blick, da ich von Adler und Schlan­ge, von Ques­te und Speer, von Hol­den Reich und vom Unsicht­ba­ren Gral zu spre­chen wag­te. Jah­re noch soll­ten ver­ge­hen bis dahin. Aber hier war ein Tor auf­ge­sto­ßen, und man wird nun ver­ste­hen, daß ich ungern schied. Ich hat­te den deut­schen Traum geträumt. Oder bes­ser: Ich hat­te den Weck­ruf gehört.

„Ein Traum – was sonst?“ sagt der Prinz von Hom­burg, als man ihm die Bin­de von den Augen nimmt. Aber er hat, so unrecht wie ich haben wür­de, wenn ich sag­te, ich sei damals, als ich die Stät­te ver­ließ, aus dem Traum zurück­ge­kehrt in den Tag. Das Gegen­teil ist wahr; Die Stun­den im Trüm­mer­ge­län­de, die Gän­ge im hyper­borei­schen Wald – das war der Moment, da ich wach war, hell­wach, Tages­licht brach für Augen­bli­cke in den Ker­ker ein. Ich hat­te im Däm­mer der Gesän­ge gewebt, jetzt stand ich im Offe­nen, wie spä­ter an der Ques­te, zum ers­ten Mal war mir der Him­mel ver­klärt, lagen die Din­ge im Mor­gen­glanz, im sich ver­jün­gen­den Licht. Ich war, so schien es fast, bei mir ange­kom­men und woll­te mich nicht wie­der ver­lie­ren. Aber man ist ja noch nicht bei sich, solan­ge man in Orten und Zei­chen mehr sucht oder sieht als die Bestä­ti­gung des­sen, was man von jeher besitzt. Dar­um ist Pin­dar der Füh­rer eher als Hero­dot. Der Krie­ger wird es nicht erobern und der Rei­sen­de wird es nicht ent­de­cken, weder zu Was­ser noch zu Lan­de, das Reich, dar­in uns die Göt­ter begeg­nen, dar­in uns die Hul­din erquickt. Du hast es sel­ber zu stif­ten, indem du dein Werk schaffst und es prägst mit dem Sie­gel des Souveräns.

So bist du der Seher,
Der Hort­ner am Tor,
Der Hyperboreer
Im Schwanen-Dekor,
Dort, Hol­der, behüte
Der Asen Portal,
im Schoß einer Blüte
Den hei­li­gen Gral.

Den Glanz, dir verheißen,
Das Zwillings-Gestirn,
Die Göt­ter, die weißen,
Du lockst sie vom Firn
Und kürst sie, der Gnade
Gewahr dei­nes Ahns,
Zu Schlacht und Parade
Im Zei­chen des Schwans.

Zur Nacht, wenn der Balken
Im Schild­haupt zerbrach,
Ent­schlag dich dem Falken,
Der Nat­ter geh nach,
Herbst­ne­bel umwogen
Dein sterb­li­ches Aug,
Der Gott mit dem Bogen
Wacht starr auf Arnshaugk.

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