90 Verlage und Projekte stellten auf 3000 Quadratmetern zwei Tage lang für über 6000 Besucher aus. Antaios und Sezession hatten ihren Stand am Halleneingang. Um kurz vor zehn begann der Besucherstrom zu sickern, dann zu fließen und zu fluten, und das riß nicht mehr ab.
Das hat noch keiner von uns erlebt, bloß im Fußballstadion am Einlaß oder 2015, als Pegida-Massen den Opernplatz in Dresden füllten und der Zulauf einfach nicht aufhörte, dort schon auch.
Aber haben wir es je dort erlebt, wo es ums Kulturgut „Buch“ geht – und damit um etwas, das in seiner Geschichte schon versteckt, weitergereicht, abgeschrieben, verbrannt, verboten, zur Gefahr erklärt und in Giftschränken weggesperrt worden ist?
Kam einer an den Messestand und brüllte mir ins Ohr (das alleine schon, diese Euphorie, ist der halbe Inhalt!): „Daß es das endlich gibt! Irre!“
Nein. Irre ist, daß es das bisher nicht gab und daß es überhaupt vermißt werden mußte und daß überhaupt die Idee für eine solche Messe aufzukommen und konkrete Gestalt anzunehmen hatte in einigen Köpfen. Denn es gibt ja zwei große Buchmessen in Deutschland, die in Frankfurt/Main und die in Leipzig, und auf beiden Messen waren Gedränge und Geschiebe, Interesse und Gespräch, Dringlichkeit und Leidenschaft noch vor zwei, drei Jahrzehnten Ausdruck jener vertiefenden Energie, die es so nur im kulturellen Raum gibt.
Aber längst sind aus diesen weltberühmten Verdichtungsorten der Buchszene politische Projekte geworden, einseitige, langweilige, gesponserte, politische Projekte – die sich in ihrer engstirnigen Selbstgefälligkeit und Siegessicherheit vor allem um das einzige gebracht haben, was spannend war und wachsend wäre: um die Auseinandersetzung mit dem rechtskonservativen, gesellschaftskritischen Milieu, das sich vor der AfD zu bilden begann und neben und mit ihr zum Faktor werden wird.
Aber weil diese Auseinandersetzung nicht gewünscht war, sondern auch dort, wo frei nach Büchern gegriffen werden sollte, eine Brandmauer errichtet worden ist, hatte sich die unerwünschte „Szene“ einen eigenen Raum zu schaffen.
Marc Reichwein hat das begriffen und für die Welt zusammengefaßt:
Die herkömmlichen Buchmessen in Frankfurt und Leipzig seien intellektuell erschöpft, und vor allem bilden sie seit den Antifa-Aktionen von 2017 und der nachfolgenden Isolierung rechter Verlage keine echte Vielfalt mehr ab. Diese Diagnose hatte die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen – die auch Verlegerin (Edition Buchhaus Loschwitz) und Kommunalpolitikerin (einst Freie Wähler, heute AfD) ist – veranlasst, eine eigene Buchmesse ins Leben zu rufen. Eine konsequente Entwicklung.
In der Tat, und Dinge gelingen, wenn dreierlei zusammenkommt: Idee, Ressource, Macher. Die Vision zu einer solchen alternativen Buchmesse ist alt, Ansätze gab es, sie scheiterten, aber die Idee lag längst wieder in der Luft.
Die Loschwitzer Buchhändlerin Susanne Dagen hat sie sich nun zu eigen gemacht. Kaum jemand ist besser vernetzt, kaum jemand kann glaubwürdiger ein breit aufgefächertes Milieu verklammern. Vor allem aber ist es Dagen gelungen, diejenigen Ressourcen anzuzapfen und zu mobilisieren, die aus einem Kleckern ein Klotzen machten: Sie fand mit den Betreibern der Messehallen in Halle Hausherren, die nicht einknickten, als die „Zivilgesellschaft“ ihre Druckmittel einzusetzen begann und sie mit unanständigen Angeboten garnierte.
Dagen: Es ist bloß ein halber Scherz, wenn sie mir gegenüber den Ossi heraushängt und die erfahrene Tante gibt – “dies ist Deine erste Diktatur, Götz, entspann Dich”. Sie ist nämlich längst wieder hellhörig und hat in den Widerstandsmodus geschaltet.
Das Ergebnis dieser Gangart ist der Dammbruch, von dem oben bereits die Rede war. Und daß Dagen just an einem 9. November müde auf dem Sessel ihrer großen Bühne saß, während um sie herum zufriedene Aussteller ihre Stände abbauten, ist ein Symbol: sich auf einer Mauer, einer Brandmauer müdetanzen, während sie eingerissen wird …
Sie wird eingerissen. Dagen sagt, dieser erste SeitenWechsel sei erst der Auftakt gewesen, und wir alle würden erleben, daß es im kommenden Jahr so richtig zu dem kommen werde, was der Name sage: Wenn diesmal vor allem Aussteller ihren Hut in den Ring warfen, von denen man es hatte erwarten dürfen, so werde es im nächsten November zum Seitenwechsel jener kommen, die noch zögerten.
So kann, so wird es kommen: Denn diese neue Büchermesse ist offen für jeden, der ausstellen, sich den Lesern und dem Druck stellen, sich der freien Luft aussetzen und vielleicht sogar ein Zeichen setzen will: beispielsweise eines gegen die hilflose, weil übertrieben dumme Schlußfolgerung einer Julia Encke, die ihren Beitrag für die FAZ mit den Worten schloß, diese Messe sei ein „organisierter Angriff auf den Rechtsstaat“.
Wie kann man so sein, so schreiben? Was ist los in so einem Kopf, wo ist sie hin, die Fähigkeit, den Nagel auf den Kopf zu treffen? Sophie-Marie Schulz trifft es für die Berliner Zeitung besser:
Wenn alles, was auf dieser Messe gesagt und gedacht wird, verboten sein sollte, warum ist es dann so voll?
Die Antwort ist so einfach wie die auf die Frage, warum die AfD in Sachsen-Anhalt bei der letzten Bundestagswahl alle, wirklich alle Direktmandate holte, selbst die in Halle/Saale: Wenn diejenigen, die alle Räume zur Verfügung und fünf Parteien zur Auswahl haben, das, was anderer Meinung ist, verdrängen, verbieten, beschimpfen und bekämpfen, dann sucht es sich seine eigenen Räume.
Noch einmal Marc Reichwein:
Der Erfolg der „Seitenwechsel“-Büchermesse zeigt, dass es in Deutschland rechts der Mitte eine diskursive Leerstelle gab und gibt, die der ach so diverse Kult um Vielfalt bislang nicht abgebildet hat.
So ist es, und die Versuche, sich in die Räume der anderen hineinzubetteln und hineinzuschmuggeln, sind nicht mehr notwendig. Partei, vorpolitischer Raum, SeitenWechsel: Wir brauchen die Räume der anderen nicht mehr. Und es ist uns ein Fest.


Eo
.
Die Hoffnung wächst also,
daß mit der Büchermesse SeitenWechsel nun auch endlich ein ZEITENWECHSEL so richtig in Gang kommt ...
.