Identität als Konstruktion

pdf der Druckfassung aus Sezession 7 / Oktober 2004

sez_nr_7von Tom Drescher

Jegliche Art von Identität ist Konstruktion. Was immer sie bezeichnen mag, sie ist Beobachterleistung und somit nur als Differenz denkbar. Das klingt kryptisch? Die folgenden Ausführungen erklären diese Annahme, die so kategorisch formuliert wurde von der – aus meiner Sicht – konsequentesten und sozialwissenschaftlich einflußreichsten konstruktivistischen Strömung, dem „Radikalen Konstruktivismus“ sowie dessen systemtheoretisch-soziologisch elaborierter Variante, der Soziologie Niklas Luhmanns.

In den Sozi­al­wis­sen­schaf­ten inter­es­siert man sich seit jeher für das Ver­hält­nis von per­so­na­ler zu kol­lek­ti­ver Iden­ti­tät. Die­se Fra­ge­stel­lung geht auf die sozi­al­psy­cho­lo­gi­sche Dis­kus­si­on der drei­ßi­ger bis fünf­zi­ger Jah­re zurück. Rich­tungs­be­stim­men­de Arbei­ten sind Geor­ge Her­bert Meads Mind, Self and Socie­ty (1936) und Erik Erik­sons Iden­ti­tät und Lebens­zy­klus (1966). Ihnen ist der Grund­ge­dan­ke gemein­sam, daß Iden­ti­tät (bei Mead das „Self“, bei Erik­son die Ich-Iden­ti­tät) ein her­zu­stel­len­des Pro­dukt ist, wel­ches durch die Inte­gra­ti­on sozia­ler Rol­len­er­war­tun­gen und per­sön­li­cher Attri­bu­te zustan­de­ge­bracht wer­den muß.
Auch Autoren der Frank­fur­ter Schu­le und aus deren Umfeld rekur­rie­ren auf die Vor­stel­lun­gen die­ser Klas­si­ker, so Lothar Krapp­mann und natür­lich Jür­gen Haber­mas. Ich-Iden­ti­tät wird hier eben­falls als Aus­ba­lan­cie­rung zwi­schen per­so­na­ler Iden­ti­tät und gesell­schaft­li­chen Rol­len­er­war­tun­gen gese­hen. Men­schen könn­ten die­sem Modell zufol­ge eine „ver­nünf­ti­ge“ Iden­ti­tät auf­bau­en oder die­se ver­feh­len. Ent­schei­dend ist, daß jene Autoren von einer „Ich“-Identität aus­ge­hen, wel­che vor­ge­sell­schaft­lich ver­an­kert zu sein scheint und gegen gesell­schaft­li­che Ansprü­che durch­ge­setzt und ver­tei­digt wer­den müßte.
Dem­ge­gen­über beto­nen rech­te Autoren eher die Not­wen­dig­keit kol­lek­ti­ver Iden­ti­tät sowie die Rol­le von Ver­gan­gen­heits­be­zug (Tra­di­ti­on, Ge schich­te, Mythos) als indi­vi­du­el­le Iden­ti­fi­zie­rungs­mög­lich­keit. Poli­tisch betrach­tet kor­re­liert dies oft mit der Empha­se für natio­na­le Iden­ti­tät. Die Aus­ein­an­der­set­zung lin­ker und rech­ter Theo­rie orga­ni­siert sich also letzt­lich um die Dif­fe­renz kollektiv/individuell und um den Iden­ti­täts­be­grün­dungs­zu­sam­men­hang qua Ver­gan­gen­heit oder Zukunft.
Sys­tem­theo­rie bie­tet hier eine die­se, durch das Links-Rechts-Sche­ma vor­co­dier­te, Front­stel­lung unter­lau­fen­de Beob­ach­tungs­wei­se. Per­so­na­le Iden­ti­tät ist einer­seits nichts, was ein Indi­vi­du­um “gegen die Gesell­schaft“ ver­tei­di­gen müß­te. Abge­se­hen von der bana­len Tat­sa­che, daß ein Indi­vi­du­um (bio­lo­gisch betrach­tet) ist, was es ist und inso­fern schon immer mit sich iden­tisch ist (was aller­dings nur ein Beob­ach­ter fest­stel­len kann!), sind Indi­vi­du­en mit ihren Iden­ti­tä­ten, wel­che nar­ra­tiv qua Bio­gra­phie und Lebens­lauf erzeugt wer­den, gera­de­zu ein Funk­ti­ons­er­for­der­nis der moder­nen Gesell­schaft, um Kom­mu­ni­ka­tio­nen und Hand­lun­gen adres­sie­ren zu kön­nen. Mit Gesell­schaft ist der Son­der­fall eines sozia­len Sys­tems bezeich­net, wel­ches alle mög­li­chen Kom­mu­ni­ka­tio­nen ein­schließt. Alles, was über­haupt kom­mu­ni­ziert wird und kom­mu­ni­ziert wer­den kann, fin­det in der Gesell­schaft statt und repro­du­ziert die­se. Es gibt kei­ne kom­mu­ni­ka­ti­ve Beob­ach­tung der Gesell­schaft außer­halb dieser.

Luh­mann unter­schei­det im wesent­li­chen drei Gesell­schafts­for­men: archai­sche (seg­men­tä­re), Hoch­kul­tu­ren (stra­ti­fi­zier­te) und die Moder­ne. Die moder­ne Gesell­schaft zeich­net sich gegen­über allen ande­ren durch das Pri­mat der funk­tio­na­len Dif­fe­ren­zie­rung aus. Die gesell­schaft­li­chen Funk­ti­ons­sys­te­me (Wirt­schaft, Poli­tik, Recht, Mas­sen­me­di­en und so wei­ter) sind inso­fern gleich, als sie alle eine und nur eine spe­zi­fi­sche gesamt­ge­sell­schaft­lich rele­van­te Funk­ti­on erfül­len, aber ungleich, weil jedes eben eine ande­re zu erfül­len hat (nur Erzie­hung erzieht, nur Recht spricht Recht). Sie sind inso­fern auto­nom, als sie die Zuge­hö­rig­keit kom­mu­ni­ka­ti­ver Ereig­nis­se zum eige­nen Ope­ra­ti­ons­be­reich oder zur Umwelt über einen spe­zi­fi­schen binä­ren Code (für Wis­sen­schaft bei­spiels­wei­se wahr/unwahr) kennt­lich machen. Erst dadurch gelingt es den Funk­ti­ons­sys­te­men, ihre Ope­ra­tio­nen zugleich gesell­schafts­weit (uni­ver­sal) und sys­tem­spe­zi­fisch zu orga­ni­sie­ren – bei­spiels­wei­se kann alles prin­zi­pi­ell zum Gegen­stand wis­sen­schaft­li­cher Erkennt­nis wer­den, aber es erlangt Infor­ma­ti­vi­tät nur hin­sicht­lich sei­nes Wahr­heits­wer­tes, und nicht etwa auf­grund poli­ti­scher Wünsch­bar­keit oder ästhe­ti­scher Schönheit.
In wel­chem Lich­te erscheint die Iden­ti­täts­pro­ble­ma­tik unter sys­tem­theo­re­tisch-kon­struk­ti­vis­ti­schem Vor­zei­chen? Hier gilt es zu unter­schei­den zwi­schen der For­mu­lie­rung eines sys­tem­theo­re­ti­schen Iden­ti­täts­be­grif­fes und der sys­tem­theo­re­ti­schen Beschrei­bung von Iden­ti­täts­ge­brauch durch ande­re Beobachter.
Ent­we­der stellt ein Beob­ach­ter die Iden­ti­tät von etwas von ihm ver­schie­de­nen fest (ein Objekt, ein Pro­zeß, eine ande­re Per­son) oder er bezeich­net sich selbst als (mit sich) iden­tisch. Bei­des setzt vor­aus, daß der Beob­ach­ter bereits zwi­schen Selbst- und Fremd­re­fe­renz (zwi­schen eige­nen und Umwelt­zu­stän­den) zu dis­kri­mi­nie­ren ver­mag. Das bedeu­tet, Iden­ti­tät ist nicht die Vor­aus­set­zung für die Exis­tenz von Sys­te­men (zum Bei­spiel Natio­nen oder „Men­schen“), son­dern Sys­tem­bil­dung ist umge­kehrt die Vor­aus­set­zung zur Iden­ti­täts­ge­ne­rie­rung. Iden­ti­tät ist – für kom­ple­xe Sys­te­me – eine Not­wen­dig­keit zur Rege­lung ihrer Umwelt- und Selbst­kon­tak­te. Sie wird aller­dings nur in spe­zi­fi­schen Lagen über­haupt in Anspruch genom­men, näm­lich immer dann, wenn ein Sys­tem Wahl­mög­lich­kei­ten des eige­nen Ver­hal­tens abzu­wä­gen hat. Inso­fern sichert Iden­ti­tät Kon­ti­nui­tät trotz Wahl­mög­lich­keit und ist somit ein Instru­ment zur Reduk­ti­on von Komplexität.
Iden­ti­täts­be­ob­ach­tun­gen sind prin­zi­pi­ell para­do­xer Natur. Sie behaup­ten ent­we­der die Ein­heit von Dif­fe­ren­tem (A = B) oder von Kom­ple­xem (Ein­heit einer Viel­heit), oder aber, im Fal­le der Selbst­be­ob­ach­tung, bezeich­net die Iden­ti­täts­be­ob­ach­tung gera­de nicht das, was sie zu bezeich­nen vor­gibt, da die Beob­ach­tung sich selbst nicht mit­be­ob­ach­ten kann, aber nichts­des­to­trotz vom Sys­tem selbst erzeugt ist. Durch ihr pures Auf­tre­ten ver­än­dert sie also wie­der­um das, was sie als iden­tisch bezeich­net. Die­ser kur­ze Pro­blem­auf­riß deu­tet bereits an: Das kon­struk­ti­vis­ti­sche Inter­es­se an Iden­ti­tät ver­schiebt sich – wie bei der Erkennt­nis­fra­ge auch – von der onto­lo­gi­schen Fra­ge: WAS ist Iden­ti­tät? auf die Fra­ge: WIE ent­steht und funk­tio­niert und erhält sich Identität?

Ande­rer­seits: Sozia­le (kol­lek­ti­ve) Iden­ti­tä­ten müs­sen funk­tio­nal auf sozia­le Sys­te­me bezo­gen wer­den. Aus dem Bedürf­nis ein­zel­ner Men­schen läßt sich kei­ne kol­lek­ti­ve (ergo: auch kei­ne natio­na­le) Iden­ti­tät ablei­ten – eben­so­we­nig, wie man aus den Bewe­gungs­ge­set­zen der Ato­me leben­di­ge Struk­tu­ren erklä­ren kann. Der Rekurs auf die „Gefüh­le“ bezie­hungs­wei­se den „Wil­len“ des Ein­zel­nen ist – sozio­lo­gisch zumin­dest – nicht nach­voll­zieh­bar. Wir haben schlicht­weg kei­ne Mög­lich­keit nach­zu­schau­en, was denn im jeweils Ein­zel­nen vor­geht, wenn er sich posi­tiv auf die Nati­on (oder ein ande­res kol­lek­ti­ves Phä­no­men) bezieht. Wir kön­nen aber sagen, daß die Kom­mu­ni­ka­ti­on von natio­na­len oder vater­län­di­schen Gefüh­len die Chan­cen der Mobi­li­sier­bar­keit der Ange­spro­che­nen für poli­ti­sches Han­deln erhöht. Dies gilt sowohl für innen­po­li­ti­sche („Soli­da­ri­tät“) als erst recht für außen­po­li­ti­sche (Ter­ri­to­ri­al­ver­tei­di­gung) Zielsetzungen.
Rein empi­risch ist die Behaup­tung, Men­schen bräuch­ten not­wen­dig eine natio­na­le Iden­ti­tät, falsch. Das Kon­zept der Nati­on in sei­ner heu­ti­gen Form ist über­haupt erst etwa 200 Jah­re alt. Davor haben Men­schen ohne eine Idee der Nati­on (nicht: ohne Ideen kol­lek­ti­ver Iden­ti­tät!) gelebt. Erst mit dem Beginn des Umbaus der Gesell­schaft von der alten, feu­da­len, geschich­te­ten Ord­nung zur funk­tio­nal dif­fe­ren­zier­ten ergibt sich auch das Pro­blem der Iden­ti­tät. In Euro­pa kann man die­sen Pro­zeß auf das aus­ge­hen­de 18. und das begin­nen­de 19. Jahr­hun­dert datie­ren. Sowohl die For­de­rung nach Bil­dung von Natio­nal­staa­ten als auch die Ideo­lo­gie des Indi­vi­dua­lis­mus wer­den in dem Moment for­mu­lier­bar (und in der Fol­ge: plau­si­bel), als die Her­aus­lö­sung der Men­schen aus ihren alten, mul­ti­funk­tio­na­len, schicht­spe­zi­fi­schen Bezü­gen, in denen Iden­ti­tät als etwas Gege­be­nes hin­ge­nom­men wur­de, die Fra­ge nach der Adressa­bi­li­tät der Men­schen aufwirft.
Die Ideo­lo­gie des Indi­vi­dua­lis­mus reagiert auf das oben geschil­der­te Inklu­si­ons­pro­blem, indem sie den Men­schen eine Iden­ti­tät außer­halb der gesell­schaft­li­chen Funk­ti­ons­sys­te­me zuweist und dies dann als Frei­heit und Auto­no­mie glo­ri­fi­ziert. Unter der Flag­ge des Natio­nal­ge­dan­kens ver­sucht man, äußerst erfolg­reich, die kol­lek­ti­ve Hand­lungs­fä­hig­keit durch Stif­tung einer Tra­di­ti­on zu schaf­fen. Zwar gab es den Natio­nen­be­griff schon im Mit­tel­al­ter, er war zu die­ser Zeit jedoch nur ein Instru­ment zur „Sor­tie­rung von [eth­ni­scher, T.D.] Her­kunft“ (Luh­mann) in hoch­spe­zi­fi­schen Kon­tex­ten, zum Bei­spiel an Uni­ver­si­tä­ten, und auch nur dann, wenn meh­re­re natio­nes ver­tre­ten waren. Dar­über hin­aus­ge­hen­de Anfor­de­run­gen wie kul­tu­rel­le und sprach­li­che Ein­heit ver­ban­den sich aber noch nicht mit die­sem Konzept.
Die Nati­on im moder­nen Wort­sin­ne ist eine Grö­ße, wel­che zwar auf Tra­di­ti­on rekur­riert, dies aber unter der Prä­mis­se, ihre Ein­heit erst noch zustan­de­brin­gen zu müs­sen. Und die­se Ein­heit muß zwin­gend in einem Ter­ri­to­ri­um mit staat­li­cher Orga­ni­sa­ti­on rea­li­siert wer­den – sonst bleibt die Idee der Nati­on eine blo­ße Idee. Die For­de­rung nach Ori­en­tie­rung an natio­na­ler Iden­ti­tät kann letzt­lich nur para­dox oder tau­to­lo­gisch begrün­det wer­den: Para­dox ist sie, solan­ge die Nati­on „im Ent­ste­hen“ ist, als Grö­ße, wel­che schon immer da war, aber nichts­des­to­trotz erst zu schaf­fen ist. Eine Tau­to­lo­gie ent­steht, wenn die Nati­on als Ein­heit bereits eta­bliert ist. Eine solch tau­to­lo­gi­sche Struk­tur weißt etwa die Defi­ni­ti­on der Nati­on von Karl­heinz Weiß­mann auf: Nati­on ist, was eine Nati­on sein will und die­sen Wil­len auf Dau­er auf­recht erhal­ten kann.

Die „Ent­fal­tung“ der Tau­to­lo­gie wird über die Ein­füh­rung von Zeit und den Rekurs auf einen „Wil­len“ vor­ge­nom­men. Das Pro­blem sol­cher Aus­sa­gen ist, daß sie nur bin­nen­per­spek­ti­visch als hin­rei­chen­de Begrün­dung gel­ten kön­nen, das heißt, wenn und solan­ge sich das Natio­nal­kon­zept von selbst ver­steht. Da dies heu­te nicht mehr der Fall ist, müs­sen – außer­halb der „Bin­nen­per­spek­ti­ve“ – ande­re Begrün­dungs­for­men gesucht wer­den. Sys­tem­theo­rie bie­tet hier vor allem die Beto­nung der Funk­ti­on natio­na­ler Seman­tik an: Der „Begriff der Nati­on bie­tet ein Inklu­si­ons­kon­zept, das nicht auf die Son­der­be­din­gun­gen der ein­zel­nen Funk­ti­ons­sys­te­me ange­wie­sen ist und die Poli­tik dazu zwingt, alle Ange­hö­ri­gen der eige­nen Nati­on als glei­che zu respek­tie­ren.“ Das heißt: „Der Begriff der Nati­on nimmt dem Begriff Volk (peu­ple, peo­p­le) sei­nen Unter­schich­ten­ge­ruch, gibt eine Begrün­dung für Ent­a­ris­to­kra­ti­sie­rung des poli­ti­schen Sys­tems und ermög­licht am Ende des 19.Jhd. die Wie­der­ein­füh­rung des Volks­be­grif­fes als eines spe­zi­fisch poli­ti­schen Begriffs … Er bie­tet ein sehr kla­res, ganz ein­fach zu hand­ha­ben­des Unter­schei­dungs­sche­ma: Eine Nati­on unter­schei­det sich von ande­ren Natio­nen (und nicht etwa von Aris­to­kra­tie oder von Landleben…)“.
Ver­gleicht man die­se Aus­füh­run­gen noch­mals mit denen von Weiß­mann, kann man Unter­schie­de, aber auch Über­ein­stim­mun­gen erken­nen: Gegen­über bio­lo­gisch oder völ­kisch argu­men­tie­ren­den Autoren fällt bei Weiß­mann eine eigen­tüm­li­che – um nicht zu sagen: wohl­tu­en­de – Ambi­va­lenz in der Argu­men­ta­ti­on auf: Einer­seits sieht er sehr wohl, daß die Nati­on und die ihr affi­nen Begrif­fe Natio­nal­be­wußt­sein oder natio­na­le Iden­ti­tät kei­ne natür­li­chen Enti­tä­ten sind („Hin­wen­dung zu Nati­on ist ein abs­trak­ter Vor­gang … Natio­nal­be­wußt­sein ist ein geis­ti­ger, kein natür­li­cher Sach­ver­halt“) und daß genu­in rech­te Wesens-Vor­stel­lun­gen wie Natio­nal­cha­rak­ter oder Natio­nal­see­le zuviel Onto­lo­gie impli­zie­ren, um heu­te noch plau­si­bel kom­mu­ni­zier­bar zu sein.
(Natio­na­le) Iden­ti­tät ist auch nach Weiß­mann auf Nar­ra­ti­on, auf Mythos ange­wie­sen. Wenn Weiß­mann auf die Not­wen­dig­keit des Mythos, also auf eine nar­ra­ti­ve Form von kol­lek­ti­vem Gedächt­nis ver­weist, dann ist dies nach mei­ner Auf­fas­sung ein Beleg für die Rich­tig­keit des kon­struk­ti­vis­ti­schen Argu­ments: Denn Mythos ist nichts ande­res als Tra­di­ti­ons­bil­dung durch selek­ti­ven Zugriff auf Ver­gan­gen­heit. Er ist, wie Weiß­mann rich­tig sagt, „Vor­stel­lung“, nicht die Ver­gan­gen­heit selbst. Wenn dem so ist, muß man ande­rer­seits Aus­sa­gen wie jene, daß der Mythos auf „ein geschicht­li­ches Wesen bezo­gen wird, das sich bestimm­ter Tei­le sei­ner Ver­gan­gen­heit gar nicht oder jeden­falls nicht sicher erin­nert“ oder daß „natio­na­le Iden­ti­tät“ einen „vor­re­fle­xi­ven Aspekt“ impli­ziert, als zum Bereich des Mythos selbst gehö­rend qua­li­fi­zie­ren, sofern mit die­sem „vor­re­fle­xi­ven Wesen“ mehr gemeint ist als die sich als Nati­on selbst­be­schrei­ben­de staat­li­che Orga­ni­sa­ti­on. Die Rede vom „Wesen“ der Nati­on kann wis­sen­schaft­lich nur als poli­tisch funk­tio­nal qua­li­fi­ziert wer­den; sie stellt selbst kei­ne wis­sen­schaft­li­che Kate­go­rie dar.

Weiß­mann mel­det mehr­fach star­ke Beden­ken gegen­über der Idee der Nati­on als Kon­struk­ti­on und Abs­trak­ti­on an. Sieht man genau­er hin, erkennt man jedoch, daß es sich vor allem um eine Ableh­nung der im Kon­strukt­be­griff ver­mu­te­ten Kon­no­ta­tio­nen wie Will­kür­lich­keit, Betrug und Aus­tausch­bar­keit han­delt, wodurch der Kon­strukt­be­griff, so ver­stan­den, zu einer Art Frei­brief für sozi­al­tech­no­lo­gi­sche Expe­ri­men­te wür­de. Genau dies ist aber mit Kon­strukt im radi­kal­kon­struk­ti­vis­ti­schen Sin­ne nicht gemeint. Ers­tens bedeu­tet sys­te­mi­sche Struk­tur­bil­dung (nichts ande­res ist Kon­struk­ti­on!) all­ge­mein immer eigen­de­ter­mi­nier­te Ein­schrän­kung von Mög­lich­kei­ten, Inan­spruch­nah­me von Gedächt­nis („Tra­di­ti­on“), also Nicht-Belie­big­keit. Dies sind Aus­sa­gen, wel­che einer rech­ten Posi­ti­on sehr nahe kom­men dürf­ten. Zwei­tens sind sozia­le Sys­te­me nicht von außen, also „wil­lent­lich“, durch Men­schen (auch nicht durch gut­mei­nen­de Eman­zi­pa­to­ren), kau­sal beein­fluß­bar. Das Schei­tern der bei­den gro­ßen sozia­lis­ti­schen Uto­pien im 20. Jahr­hun­dert sowie jetzt auch das sich immer deut­li­cher abzeich­nen­de Ende der eman­zi­pa­to­ri­schen Träu­me von Haber­mas und Co. kön­nen dafür als Beleg ste­hen. Das ändert aber nichts an der prin­zi­pi­el­len Fest­stel­lung, daß jede sinn­haf­te Beob­ach­tung, ergo auch das Iden­ti­täts­kon­zept und sein Son­der­fall „natio­na­le Iden­ti­tät“, Kon­strukt­cha­rak­ter im Sin­ne der oben beschrie­be­nen Theo­rie hat. Die­se Aus­sa­ge hat aber völ­lig ande­re Impli­ka­tio­nen, als Weiß­mann dies zu befürch­ten, und dem­entspre­chend ver­ständ­li­cher­wei­se auch zu bekämp­fen scheint.
Es gibt kei­ne Dif­fe­renz von rea­li­täts­ad­äqua­ten Vor­stel­lun­gen einer­seits und illu­sio­nä­ren, gefälsch­ten Mani­pu­la­tio­nen ande­rer­seits, wie etwa die Neo­mar­xis­ten in Anschluß an die klas­si­schen mar­xis­ti­schen Dif­fe­ren­zen Basis / Über­bau und Wis­sen / Ideo­lo­gie gern in Hal­bie­rung des kon­struk­ti­vis­ti­schen Argu­ments behaup­ten. Es gibt nur bes­se­re oder schlech­te­re, plau­si­ble oder weni­ger plau­si­ble, poli­tisch wirk­sa­me oder poli­tisch ver­sa­gen­de Kon­struk­tio­nen. Falsch ist eben nicht die Aus­sa­ge: „Die Nati­on ist ein Kon­strukt“, son­dern die Behaup­tung: „Die Nati­on ist nur ein Kon­strukt“! Eine sys­tem­theo­re­ti­sche Re-For­mu­lie­rung von Weiß­manns Defi­ni­ti­on könn­te lau­ten: Nati­on ist, was sich als Nati­on beschreibt und auf Dau­er funk­tio­niert. Ob, wie Weiß­mann nahe­legt, die­ses Kon­strukt Nati­on auch zukünf­tig „ohne Alter­na­ti­ve“ sein wird, ist eine Fra­ge, wel­che auch unter rech­ten Autoren kon­tro­vers dis­ku­tiert wird. Ohne Alter­na­ti­ve für die Ermög­li­chung poli­ti­scher (kol­lek­ti­ver) Hand­lungs­fä­hig­keit ist jedoch, auch hier­in dürf­ten sich sys­tem­theo­re­ti­sches und rech­tes Den­ken einig sein, die Kon­struk­ti­on von kol­lek­ti­ver Identität.
Sys­tem­theo­rie ver­steht sich als (Selbst-)Beschreibung der moder­nen Gesell­schaft. Im Gegen­satz zu nor­ma­ti­ven Sozio­lo­gien wie etwa jener von Haber­mas ver­tei­digt sie Gesell­schaft nicht, will sie aber auch nicht „ver­bes­sern“. Ihr stän­di­ges Rekur­rie­ren auf Unbe­stimm­bar­keit, Para­do­xie und Unwahr­schein­lich­keit ist zwar theo­re­tisch ergie­big (zumin­dest: für Sys­tem­theo­re­ti­ker!), führt aber – mit Luh­mann gespro­chen – gleich­zei­tig „der Gesell­schaft vor Augen, was sie sich leis­tet, wenn sie sich Wis­sen­schaft leis­tet“; all­ge­mei­ner, was sie sich leis­tet, wenn sie sich funk­tio­na­le Dif­fe­ren­zie­rung leis­tet. Sys­tem­theo­rie kann somit (ohne dies „inten­die­ren“ zu müs­sen!) zum Stich­wort­ge­ber für rech­te Kul­tur- und Gesell­schafts­kri­tik wer­den. Dies ist nicht im Sin­ne poli­ti­scher Pro­gram­ma­tik miß­zu­ver­ste­hen: Sys­tem­theo­rie und Radi­ka­ler Kon­struk­ti­vis­mus sind Beob­ach­tungs­leis­tun­gen zwei­ter Ord­nung und kön­nen in die­sem Sin­ne nicht hand­lungs­lei­tend oder ideo­lo­gisch sein, da sie „para­si­tär“ (im Sin­ne von Michel Ser­res) auf Hand­lun­gen bezie­hungs­wei­se Beob­ach­tun­gen ande­rer ange­wie­sen sind.

Auf meta­po­li­ti­scher Ebe­ne jedoch – also im Bereich poli­ti­scher Refle­xi­on – sind deren Ein­sich­ten sowie deren Denk­stil mög­li­cher­wei­se von erheb­li­cher Bedeu­tung. Rech­te Posi­tio­nen haben ja den Wider­spruch zu lösen (sofern sie nicht auf Revo­lu­ti­on abzie­len), ihre Ableh­nung des Dif­fe­ren­zie­rungs­prin­zips der moder­nen Gesell­schaft sowie der dar­aus fol­gen­den Inklu­si­ons­me­cha­nis­men mit den Mit­teln der moder­nen Gesell­schaft in der moder­nen Gesell­schaft gegen die Gesell­schaft für die Gesell­schaft kom­mu­ni­zie­ren zu müs­sen. Das heißt, sie müs­sen anschluß­fä­hig sein. Man kann in die­sem Zusam­men­hang auf den Sach­ver­halt ver­wei­sen, daß die kon­struk­ti­vis­ti­schen und sys­tem­theo­re­ti­schen Ansät­ze sich bereits heu­te anschi­cken, (zumin­dest in den Sozi­al­wis­sen­schaf­ten) das auf­klä­re­risch-kri­ti­sche Theo­rie­pri­mat zu ent­thro­nen, wäh­rend kon­ser­va­ti­ven und rech­ten Posi­tio­nen, sofern sie mit onto­lo­gi­schen Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten ope­rie­ren, der­zeit jeg­li­che Anschluß­fä­hig­keit im wis­sen­schaft­li­chen Bereich fehlt.
Eine Anrei­che­rung der eige­nen Posi­ti­on mit kon­struk­ti­vis­ti­schen Argu­men­ten könn­te sich in die­ser Situa­ti­on als hilf­reich erwei­sen. Dies ist – wie am Bei­spiel des Iden­ti­täts­be­grif­fes gezeigt wer­den konn­te, nicht prin­zi­pi­ell unmög­lich. Wei­ter­hin ermög­licht es der kon­struk­ti­vis­ti­sche „Denk­stil“, eige­ne Apo­rien („blin­de Fle­cken“) zu benen­nen. So ist etwa der Wunsch nach Homo­ge­ni­tät, die Ableh­nung eines all-per­mis­si­ven Wer­te­plu­ra­lis­mus und Indi­vi­dua­lis­mus selbst wie­der­um eine wei­te­re Wert­hal­tung unter ande­ren, die ihren Anhän­gern Mög­lich­kei­ten der Indi­vi­dua­li­sie­rung („Ich bin ein Rech­ter“) eröff­net. Rech­te Posi­tio­nen sind heu­te Alter­na­tiv­an­ge­bo­te in einer poly­kon­tex­tu­ra­len Gesell­schaft – und eben kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten mehr.
Die For­de­rung nach Selbst­ver­ständ­lich­keit, nach Authen­ti­zi­tät und letzt­lich nach Iden­ti­tät wie­der­um geht, als For­de­rung erho­ben, schon an der ange­streb­ten Authen­ti­zi­tät vor­bei. Dies ist, wenn man es so pathe­tisch for­mu­lie­ren möch­te, der „Fluch“ der Auf­klä­rung und ihrer mul­ti­per­spek­ti­vi­schen Beob­ach­tungs­ver­hält­nis­se. Die Ein­deu­tig­keit wird, zusam­men mit Gott aus der Gesell­schaft ver­trie­ben und die­se damit aus dem Para­dies der Gewißheiten.
Der­ar­ti­ge Über­le­gun­gen kön­nen hilf­reich sein, poli­ti­sche Erfolgs­er­war­tun­gen rea­li­täts­nah zu hal­ten, mög­li­che argu­men­ta­ti­ve Ein­wän­de bereits im Vor­feld zu erken­nen bezie­hungs­wei­se in den eige­nen Argu­men­ta­ti­ons­stra­te­gien zu berück­sich­ti­gen. Es kommt jetzt dar­auf an, was die Rech­te mit die­sem Ange­bot der Erkennt­nis­ge­win­nung anfängt. Sie hat die Mög­lich­keit, die kon­struk­ti­vis­tisch-sys­tem­theo­re­ti­sche Theo­rie­form selek­tiv für sich zu nut­zen – ihre eige­ne Iden­ti­tät mag sich dadurch ändern, ver­lie­ren muß sie sie des­halb jedoch nicht.

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