Überraschende Synthesen – Adornos Kulturkritik

pdf der Druckfassung aus Sezession 5 / April 2004

sez_nr_5von Winfried Knörzer

Bekanntlich sind Intellektuelle nicht einfach nur Künstler oder Gelehrte. Zu Intellektuellen werden sie erst, wenn in ihnen der Glaube heranwächst, zur geistig-moralischen, mitunter sogar zur politischen Führung berufen zu sein. In der Bundesrepublik der sechziger und siebziger Jahre war Adorno der paradigmatische Intellektuelle. Wie kann aber in einer Massendemokratie ein nicht durch Wahlen legitimierter Führungsanspruch erhoben werden und vor allem, wie läßt sich ein solch antiegalitaristisches Ansinnen mit einer nominell linken Haltung, die im Laufe der Zeit für Intellektuelle zum Ausweis ihres Standesethos erhoben wurde, vereinbaren? Wie kein zweiter verkörperte Adorno dieses die linksintellektuelle Existenz verstörende Dilemma zwischen uneingestandenem elitärem Habitus und progressiver Gesinnung, weshalb er auch zur Identifikationsfigur für das gebildete Publikum der Epoche wurde.

Ador­no ent­stammt wie vie­le ande­re Ange­hö­ri­ge des Frank­fur­ter „Insti­tuts für Sozi­al­for­schung“ dem Groß­bür­ger­tum. Sein Vater war ein ver­mö­gen­der Wein­groß­händ­ler, sei­ne Mut­ter eine gefei­er­te Kam­mer­sän­ge­rin. Ador­no selbst war jedoch bis weit über die Lebens­mit­te hin­aus zu einer sozi­al mar­gi­na­li­sier­ten Posi­ti­on ver­ur­teilt. So muß­te er, obwohl er bereits an der Frank­fur­ter Uni­ver­si­tät Vor­le­sun­gen gehal­ten hat­te, in der Emi­gra­ti­on mit der Posi­ti­on eines post­gra­dua­te stu­dent am Mer­ton Col­lege in Oxford vor­lieb neh­men. Auch in sei­ner Funk­ti­on als Mit­ar­bei­ter am Frank­fur­ter Insti­tut und an diver­sen For­schungs­pro­jek­ten in Ame­ri­ka konn­te er sich nur am Ran­de des aka­de­mi­schen Betriebs betä­ti­gen. Eine sol­che intel­lek­tu­el­le Rand­la­ge bringt natur­ge­mäß eine kri­ti­sche Sicht auf die Gesell­schaft, der man als Außen­sei­ter nicht wirk­lich ange­hört, und eine Affi­ni­tät zu radi­ka­len Theo­rien mit sich, da man nicht durch die Abwei­chun­gen glät­ten­de und dis­zi­pli­nie­ren­de Wir­kung der aka­de­mi­schen Rou­ti­ne an der Ent­fal­tung unor­tho­do­xer Gedan­ken­gän­ge gehin­dert wird.
Die­se for­ma­le, sozio­struk­tu­rel­le Dis­po­si­ti­on wird inhalt­lich auf­ge­füllt und pro­duk­tiv gemacht durch Ador­nos intel­lek­tu­el­le Prä­gung. Die­se bestand zum einen in der inten­si­ven Begeg­nung mit der bür­ger­li­chen Hoch­kul­tur im Eltern­haus und der eben­so inten­si­ven Beschäf­ti­gung mit der musi­ka­li­schen Avant­gar­de des Schön­berg­krei­ses, zum ande­ren in der Rezep­ti­on des Mar­xis­mus, wobei vor allem Mar­xens Früh­schrif­ten und eini­ge Kapi­tel des Kapi­tals, nament­lich The­men wie Ideo­lo­gie­kri­tik, Waren­cha­rak­ter, Tausch­form und stark phi­lo­so­phisch ori­en­tier­te, den sub­jek­ti­ven Fak­tor beto­nen­de Autoren wie Bloch und Lukács ent­schei­dend waren.
In der ideell-geis­ti­gen Sphä­re ver­hal­ten sich hoch­kul­tu­rel­le Prä­gung einer­seits und mar­xis­ti­sche Ori­en­tie­rung ande­rer­seits zuein­an­der wie der Gegen­satz von groß­bür­ger­li­cher Her­kunft und aka­de­mi­scher Außen­sei­ter­po­si­ti­on in der mate­ri­ell-sozia­len Sphä­re. Mar­xis­ti­sche Theo­rie und sozia­le Mar­gi­na­li­sie­rung füh­ren zu einer die bestehen­de Gesell­schaft radi­kal kri­ti­sie­ren­den Welt­sicht. Eine tota­le Radi­ka­li­sie­rung in Rich­tung einer enga­gier­ten, kom­mu­nis­ti­schen Par­tei­or­tho­do­xie, ein Weg, den bei­spiels­wei­se Ador­nos frü­her Men­tor Lukács ein­schlug, wird aber durch den von Her­kunft und ästhe­ti­schem Geschmack geform­ten eli­tä­ren Habi­tus kon­ter­ka­riert. Der Haß gegen die bestehen­de Gesell­schaft, die sich gegen sein Ide­al eines wahr­haft mensch­li­chen Daseins sperrt und ihm die ange­streb­te Aner­ken­nung als geis­ti­ger Füh­rer ver­wei­gert, treibt Ador­no nach links, die Angst vor einer banausi­schen, unmu­si­schen, durch­pro­le­ta­ri­sier­ten und ver­mass­ten Lebens­welt treibt ihn wie­der nach rechts. Der Zusam­men­hang von Bio­gra­phie und Phi­lo­so­phie Ador­nos läßt sich in dem einen Satz zusam­men­fas­sen: Er kann der Welt nicht ver­zei­hen, daß es in ihr nicht so zugeht wie in Mut­ters Salon.

Ador­no wird hin- und her­ge­ris­sen zwi­schen einer bei­spiel­los radi­ka­len Kri­tik an der Gesell­schaft, die er in toto ver­wirft, und dem Fest­hal­ten am Bil­dungs­ide­al eben die­ser Gesell­schaft, aus dem er sei­ne Iden­ti­tät zieht und dem er sei­ne sozia­le Stel­lung ver­dankt. Aus die­sem Zwie­spalt gibt es kei­nen Aus­weg, da kei­ne Mög­lich­keit besteht, sich strin­gent für eine der bei­den Sei­ten zu ent­schei­den. Ador­nos Schwie­rig­kei­ten, die­sem Dilem­ma zu ent­rin­nen kön­nen anhand einer Inter­pre­ta­ti­on sei­ner „Theo­rie der Halb­bil­dung“ auf­ge­zeigt werden.
Wie schon der Begriff „Halb­bil­dung“ besagt, ist sie eine geschei­ter­te, auf hal­bem Wege ste­hen­ge­blie­be­ne Art von Bil­dung. Um ihr Wesen zu ver­ste­hen, muß also zunächst das Ide­al, das sie ver­geb­lich zu errei­chen sucht, ech­te Bil­dung näm­lich, betrach­tet wer­den. „Bil­dung ist nichts ande­res als Kul­tur nach der Sei­te ihrer sub­jek­ti­ven Zueig­nung.“ „Kul­tur selbst hat Dop­pel­cha­rak­ter: als Geis­tes­kul­tur auf der einen Sei­te, als sich anpas­sen­de Natur­be­herr­schung auf der ande­ren.“ Die für die tra­di­tio­nel­le deut­sche Ideo­lo­gie zen­tra­le Unter­schei­dung von Kul­tur (sich am Para­dig­ma der Küns­te ori­en­tie­rend, sich nach innen wen­dend, geis­tig) und Zivi­li­sa­ti­on (tech­nisch, prak­tisch, nach außen gerich­tet) ist Ador­no durch­aus bewußt, da er betont, daß „nach deut­schem Sprach­ge­brauch“ Kul­tur stets mit „Geis­tes­kul­tur“ gleich­ge­setzt wur­de. Die­se Unter­schei­dung hat für Ador­no aber kei­ne wesent­li­che Bedeu­tung, da für ihn der Unter­schied zwi­schen Kul­tur und Natur wich­ti­ger ist, wes­halb auch der Gegen­satz von Zivi­li­sa­ti­on und Kul­tur als Dop­pel­cha­rak­ter von Kul­tur in den Kul­tur­be­griff hin­ein­ge­nom­men wird. Die­ser tra­di­tio­nel­le Gegen­satz wird von Ador­no frei­lich noch ver­schärft, weil die Zivi­li­sa­ti­on nicht mehr nur etwas Sekun­dä­res und Äußer­li­ches ist, das erst dadurch zu etwas Schäd­li­chem wird, weil es der Feind (Frank­reich, die Aris­to­kra­tie) zu etwas Pri­mä­rem macht, son­dern weil die Natur­be­herr­schung, wie man aus der Dia­lek­tik der Auf­klä­rung weiß, per se etwas Böses ist. Natur­be­herr­schung setzt ein zum Herr­schen befä­hig­tes Sub­jekt vor­aus. Um für Natur­be­herr­schung gerüs­tet zu sein, muß der Mensch sein inne­res Wesen die­sem Zweck durch Trieb­un­ter­drü­ckung, Zurück­drän­gung der Phan­ta­sie zuguns­ten des Rea­li­täts­prin­zips und ähn­li­chem unter­wer­fen. Eben­so muß sich die Gesell­schaft als herr­schafts­för­mi­ge orga­ni­sie­ren, da ja effek­ti­ve Natur­be­herr­schung nur als Gemein­schafts­pro­jekt mög­lich ist. Man den­ke hier etwa an die Ent­wick­lung von Bewäs­se­rungs­tech­ni­ken, die eine zen­tral gelei­te­te, straf­fe gesell­schaft­li­che Orga­ni­sa­ti­on voraussetzt.
Natur­be­herr­schung führt also zu einem, letzt­lich sich gegen das Sub­jekt rich­ten­den, gene­rel­len Herr­schafts­zu­sam­men­hang. Es ist nun aber nicht so, daß die an sich „gute“ Geis­tes­kul­tur ihr Gut­sein durch die Tren­nung von der „bösen“ instru­men­tel­len Kul­tur rein bewah­ren könn­te. Bei­de sind ja Tei­le eines Gan­zen. Die Gesamt­kul­tur kann nur die gute Sei­te der Geis­tes­kul­tur her­aus­dif­fe­ren­zie­ren, weil deren bösen Antei­le gewis­ser­ma­ßen an die dunk­le Sei­te der Kul­tur dele­giert wer­den. „Kei­ne Kul­tur ohne Dienst­bo­ten“, wie Treit­sch­ke ein­mal in zyni­scher Offen­heit aus­plau­der­te. Mar­xis­tisch for­mu­liert: Nur die Akku­mu­la­ti­on von Reich­tum durch die Aus­beu­tung der Mas­sen schafft den Mehr­wert, der die künst­le­ri­sche Muße für Weni­ge ermög­licht. Zudem hat die Geis­tes­kul­tur ihr Ver­spre­chen einer Huma­ni­sie­rung des Men­schen nicht ein­lö­sen können.

Die Unzu­läng­lich­kei­ten der Geis­tes­kul­tur ver­bie­ten es, die­se naiv als unhin­ter­frag­ba­res Vor­bild zu set­zen. In ihrer sozia­len Funk­ti­on ist sie unrett­bar in den gesell­schaft­li­chen Schuld­zu­sam­men­hang ver­strickt, aber in ihrer Funk­ti­on als regu­la­ti­ve Idee für den Ein­zel­nen, der ihrer imma­nen­ten Pro­ble­ma­tik stets ein­ge­denk bleibt, kann an ihr fest­ge­hal­ten wer­den. Frei­heit, Auto­no­mie, Ver­söh­nung von natur­haf­ter Sinn­lich­keit und geis­ti­ger Durch­for­mung sind die Attri­bu­te, die die Geis­tes­kul­tur für Ador­no doch zu etwas Posi­ti­vem machen. Was dage­gen ist nun Halb­bil­dung in sei­ner Sicht? Dies wird anhand fol­gen­der Zita­te deut­lich: „Halb­bil­dung ist die Ver­wand­lung aller geis­ti­gen Gehal­te in Kon­sum­gü­ter. Weder sind die­se mehr ver­bind­lich, noch auch nur eigent­lich ver­stan­den. Statt­des­sen infor­miert man sich über sie, um an der Kul­tur teil­zu­ha­ben.“ „Halb­bil­dung ist die Ver­brei­tung von Geis­ti­gem ohne leben­di­ge Bezie­hung zu leben­di­gen Sub­jek­ten, nivel­liert auf Anschau­un­gen, die herr­schen­den Inter­es­sen sich anpas­sen.“ „Im Kli­ma der Halb­bil­dung über­dau­ern die waren­haft ver­ding­lich­ten Sach­ge­hal­te von Bil­dung auf Kos­ten ihres Wahr­heits­ge­hal­tes und ihrer leben­di­gen Bezie­hung zu leben­di­gen Subjekten.“
Halb­bil­dung ist, kurz gesagt, die Reader’s‑Digest-Aus­ga­be ech­ter Bil­dung, eine für kom­mer­zi­el­le Zwe­cke und für die mas­sen­haf­te Ver­brei­tung zurecht­ge­mach­te Schwund­form von Bil­dung. Halb­bil­dung unter­schei­det sich aber nicht nur von ech­ter Bil­dung, son­dern auch von ech­ter Unbil­dung und „eigent­li­cher“ Kul­tur­in­dus­trie. Ech­ter Unbil­dung, „als blo­ßer Nai­vi­tät, blo­ßem Nicht­wis­sen“, bil­ligt Ador­no sogar ein gewis­ses kri­ti­sches Poten­ti­al zu, da sie sich in ihrem trot­zi­gen Behar­ren auf der eige­nen Sub­jek­ti­vi­tät der Durch­drin­gung der Lebens­welt unbür­ger­li­cher Klas­sen (Arbei­ter und Bau­ern) durch die herr­schen­den Nor­men ver­wei­gert. Die­se für Ador­no unge­wöhn­li­che Kon­zi­li­anz ist frei­lich einer Stra­te­gie der Her­ab­las­sung zuzu­rech­nen. Die eigent­li­chen Unter­schich­ten sind so weit von dem Kampf­platz, den Ador­no sor­gen­voll beob­ach­tet, ent­fernt, daß sie nicht gefähr­lich zu wer­den ver­mö­gen, wes­halb man ihnen auch in Form posi­tiv bewer­te­ter theo­re­ti­scher Kate­go­rien einen jovia­len Gruß zukom­men las­sen kann.
Auch die von vorn­her­ein als blo­ße Waren pro­du­zier­ten Wer­ke der Kul­tur­in­dus­trie wie Schla­ger und Unter­hal­tungs­ro­ma­ne sind nicht Reprä­sen­tan­ten von Halb­bil­dung, weil sie nicht mit dem Anspruch, Kunst zu sein, auf­tre­ten. Typi­sche Bei­spie­le von Halb­bil­dung wären zum Bei­spiel Schall­plat­ten mit den „Schöns­ten Ari­en Mozarts“, Sonn­tags­re­den, in denen zur Bekräf­ti­gung der Mei­nung des Vor­tra­gen­den die zu Sen­ten­zen abge­zo­ge­nen Gedan­ken­gän­ge der „Klas­si­ker“ höchst unpas­send hin­ein­ge­presst wer­den, und Leu­te, die zwar eine Unmen­ge von Buch­ti­teln ken­nen, die Bücher selbst aber nie gele­sen haben. Halb­bil­dung ist nicht eine Ansamm­lung fal­scher Gegen­stän­de (fal­sches Wis­sen wie in der Unbil­dung oder fal­scher Wer­ke wie in der Kul­tur­in­dus­trie), son­dern ein fal­scher Bezug auf die rich­ti­gen Gegen­stän­de. Wesent­lich für die Halb­bil­dung ist die Her­aus­rei­ßung von Kunst­wer­ken aus ihrem gat­tungs­ge­schicht­li­chen Kon­text und ihre Frag­men­tie­rung zu „schö­nen Stel­len“ und Infor­ma­ti­ons­bro­cken. Sel­ten hat der in mar­xis­ti­schen Dis­kur­sen häu­fig anzu­tref­fen­de Begriff des Fetisch­cha­rak­ters grö­ße­re Berech­ti­gung. So wie der Feti­schist lust­voll auf das Par­ti­al­ob­jekt des Stö­ckel­schuhs starrt und dar­ob sei­ne Trä­ge­rin über­sieht, so begeis­tert sich der Halb­ge­bil­de­te am Frag­ment des Ta-Ta-Ta-Taaa Beet­ho­vens, ohne den Rest der Sym­pho­nie zu ken­nen. Die Bezie­hung zu den frag­men­tier­ten Kunst­wer­ken bleibt die­sen äußer­lich, da sie sich nicht auf den Nach­voll­zug der Ent­fal­tung des künst­le­ri­schen Kon­struk­ti­ons­prin­zips ein­läßt. Dadurch wird der Kunst­cha­rak­ter von Kunst ver­fehlt. An die Stel­le einer kunst­ad­äqua­ten Rezep­ti­ons­wei­se tritt eine vul­gär-sinn­li­che, die sich am Wohl­klang, an sport­li­cher Vir­tuo­si­tät oder Far­ben­pracht berauscht, und eine der sozia­len Hörig­keit, da von einem erwar­tet wird, daß „man“ auch über Kunst Bescheid weiß und „man“ sich daher ent­spre­chend infor­mie­ren muß. Die Par­al­le­le zu Heid­eg­gers Ana­ly­se des „Man“ ist evi­dent. „Wir genie­ßen und ver­gnü­gen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urtei­len über Lite­ra­tur und Kunst, wie man sieht und urteilt.“

Mit dem Stoß­seuf­zer: „Halb­bil­dung – so etwas gibt es halt lei­der“ könn­te es sein Bewen­den haben. In die bis dahin den Gepflo­gen­hei­ten Kri­ti­scher Theo­rie fol­gen­de, rela­tiv sach­li­che Inter­pre­ta­ti­on des fait social Halb­bil­dung schleicht sich aber ein all­mäh­lich immer stär­ker wer­den­der gereiz­ter und aggres­si­ver Ton­fall ein. Wäh­rend kras­se Unbil­dung und „eigent­li­che“ Kul­tur­in­dus­trie die Sphä­re ech­ter Bil­dung unbe­rührt las­sen, ent­hält die Aus­deh­nung der Halb­bil­dung das Ein­drin­gen eines frem­den und feind­li­chen Prin­zips in den hor­tus con­clus­us der Geis­tes­kul­tur. Indem sie, im Gegen­satz zu den bei­den ande­ren Fel­dern kul­tu­rel­ler Pra­xis, mit dem Anspruch auf­tritt, Bil­dung zu sein, ver­än­dert sie das Gesamt­sys­tem der Bil­dung. Durch ihre schie­re Quan­ti­tät bestrei­tet sie die bis­lang unan­ge­foch­te­ne Füh­rungs­po­si­ti­on tra­di­tio­nel­ler bür­ger­li­cher Bil­dung, die von sich stets behaup­te­te, Inbe­griff wah­rer Bil­dung zu sein. Es sei das durch eine Rei­he von Zita­ten belegen:

„Sie umklam­mert … den Geist … und stutzt ihn nach ihren Bedürf­nis­sen zurecht. Dadurch hat sie nicht nur para­si­tär an sei­nem zunächst unge­min­der­ten Pres­ti­ge teil, son­dern beraubt ihn der Distanz und des kri­ti­schen Poten­ti­als, schließ­lich selbst des Prestiges.“

„Das Bewußt­sein oben und unten gleicht sich an. Sub­jek­tiv wer­den die sozia­len Unter­schie­de immer mehr ver­flüs­sigt. Die Mas­sen wer­den durch unge­zähl­te Kanä­le mit Bil­dungs­gü­tern belie­fert, die frü­her der Ober­schicht reser­viert waren. Die Vor­aus­set­zung zur Bil­dung selbst, zur leben­di­gen Erfah­rung des unter­des­sen zum Bil­dungs­gut Geron­ne­nen jedoch bleibt fragwürdig.“

„Geist an sich kann von all dem nicht sich rein erhal­ten. Es berührt ihn in sei­ner inners­ten Zusam­men­set­zung, daß Bil­dung nicht mehr im Ernst erwar­tet, nicht mehr gesell­schaft­lich hono­riert wird. Gesell­schaft­lich nütz­li­cher, ver­wert­ba­rer ist die Halb­bil­dung, der vom Fetisch­cha­rak­ter der Ware ergrif­fe­ne Geist. Er hat auch, was ein­mal oben war, in sich hin­ein­ge­ris­sen. Nichts ist zu gut und zu teu­er, aber nichts bleibt unverschandelt.“

Hohe Kul­tur und Mas­sen­kul­tur, respek­ti­ve Bil­dung und Halb­bil­dung ver­hal­ten sich zuein­an­der wie geho­be­nes Bil­dungs­bür­ger­tum und Mas­se. Der vor­geb­lich rein sozio­lo­gi­sche Dis­kurs über die Bil­dungs­pro­ble­ma­tik steht stell­ver­tre­tend für die den Autor bedrän­gen­de sozia­le Pro­ble­ma­tik. Wegen des direk­ten, per­sön­li­chen Betrof­fen­seins, die die Sub­li­mie­rung in die indi­rek­te Rede des Phi­lo­so­phi­schen unmög­lich macht, spre­chen sich sei­ne Ängs­te über­deut­lich aus. Er scheut sich nicht ein­mal die sonst strikt tabui­sier­te mate­ri­el­le Kom­po­nen­te des Phi­lo­so­phen­da­seins zu the­ma­ti­sie­ren: Pres­ti­ge und gesell­schaft­li­che Nütz­lich­keit von Bil­dung. Letz­ter Punkt ist umso bemer­kens­wer­ter, als Ador­no in jeder ande­ren Hin­sicht das kri­ti­sche Poten­ti­al von Kunst (Kunst ist ja Haupt­be­stand­teil von Bil­dung) gera­de an ihrer Ver­wei­ge­rung gegen­über gesell­schaft­li­chen Zweck- und Nutz­en­er­wä­gun­gen festmacht.

Mit der The­se, daß der in Form einer kul­tur­so­zio­lo­gi­schen Abhand­lung beschrie­be­ne Gegen­satz von Bil­dung und Halb­bil­dung den sozia­len Ant­ago­nis­mus von gebil­de­tem Groß­bür­ger­tum und auf­stei­gen­dem Klein­bür­ger­tum in ver­schlüs­sel­ter und ver­leug­ne­ter Form wie­der­gibt, wird Ador­nos Dis­kurs als ideo­lo­gi­scher bestimmt. Damit wird aber nicht behaup­tet, daß der Gegen­satz von Bil­dung und Halb­bil­dung nur ein fin­gier­ter sei und es so etwas wie Halb­bil­dung nicht gebe. Ideo­lo­gie als fal­sches Bewußt­sein beinhal­tet kei­ne fal­sche Erkennt­nis eines Gegen­stan­des, son­dern ein Ver­ken­nen des sub­jek­ti­ven Inter­es­ses im Erkennt­nis­vor­gang. Nie­mand wird abstrei­ten, daß die Rezep­ti­ons­wei­se des Ken­ners auf einem tie­fe­ren, bes­se­ren, adäqua­te­ren Kunst­ver­ständ­nis beruht als die des Halb­ge­bil­de­ten. Aber die über­schie­ßen­de Hef­tig­keit des Affekts, der Ges­tus des Abscheus, mit dem die Halb­bil­dung gera­de­zu ver­teu­felt wird, ver­rät, daß es hier um mehr und ande­res geht als um die wis­sen­schaft­li­che Beschrei­bung von Bil­dungs­ni­veaus und klas­sen­spe­zi­fi­schen For­men der Kunst­re­zep­ti­on. Das Ideo­lo­gi­sche an einem Dis­kurs besteht dar­in, sei­ne poli­ti­sche Stoß­rich­tung im Ver­bor­ge­nen zu hal­ten. Die Abqua­li­fi­zie­rung der Halb­bil­dung ver­folgt das Ziel, die auf der Mono­po­li­sie­rung des kul­tu­rel­len Kapi­tals grün­den­de Macht­stel­lung des intel­lek­tu­el­len Bil­dungs­bür­ger­tums zu ver­tei­di­gen, indem kon­kur­rie­ren­de Aneig­nungs­wei­sen des kul­tu­rel­len Kapi­tals durch im Auf­stieg begrif­fe­ne sozia­le Schich­ten dele­gi­ti­miert wer­den. Das Ideo­lo­gi­sche am Halb­bil­dungs­dis­kurs fin­det sich nicht im Spre­chen über die Halb­bil­dung, son­dern im Ver­schwei­gen die­ser poli­ti­schen Zielsetzung.
„Umklam­mern“, „zurecht­stut­zen“, „para­si­tär“, „rein erhal­ten“, das „Oben“ Befind­li­che „hin­ein­rei­ßen“, „unver­schan­delt“, all die­se Voka­beln las­sen den Ekel vor dem Her­an­drän­gen der Mas­sen gera­de­zu phy­sisch greif­bar wer­den. Unwill­kür­lich steigt vor dem geis­ti­gen Auge des Lesers ein Bild auf, wie eine Hor­de wild­ge­wor­de­ner Klein­bür­ger, Haus­meis­ter und Fisch­wei­ber, pedan­ti­sche Schal­ter­be­am­te mit Ärmel­scho­nern, Vor­gar­ten­be­sit­zer, die „Lau­ni­sche Forel­le“ träl­lern­de, locken­be­wi­ckel­te Haus­frau­en den Tem­pel der Kunst stür­men, um dem Hohe­pries­ter die Tafeln der Schön­heit aus der Hand zu schla­gen. „Die Wahl­ver­wandt­schaft von Halb­bil­dung und Klein­bür­ger­tum liegt auf der Hand; mit der Sozia­li­sie­rung der Halb­bil­dung aber begin­nen auch ihre pathi­schen Züge die gan­ze Gesell­schaft anzu­ste­cken …“. Zu ergän­zen wäre hier nur, daß damit auch die Wahl­ver­wandt­schaft zwi­schen Bil­dung und Groß­bür­ger­tum auf der Hand liegt. Dies alles ist nicht etwa nur eine ver­dräng­te Remi­nis­zenz an den rechts­bür­ger­li­chen Mas­sen­dis­kurs der ver­gan­ge­nen Jahr­hun­dert­wen­de, son­dern dies ist der Mas­sen­dis­kurs selbst.
Plas­tisch schil­dert das Andrän­gen der unte­ren Schich­ten fol­gen­der Pas­sus: „Zugleich aber wächst mit dem Lebens­stan­dard der Bil­dungs­an­spruch als Wunsch, zu einer Ober­schicht gerech­net zu wer­den, von der man ohne­hin sub­jek­tiv weni­ger stets sich unter­schei­det. Als Ant­wort dar­auf wer­den immense Schich­ten ermun­tert, Bil­dung zu prä­ten­die­ren, die sie nicht haben.“ Für die bil­dungs­bür­ger­li­che Eli­te ist nicht so sehr die Nivel­lie­rung öko­no­mi­scher Unter­schie­de das Pro­blem als viel­mehr der dro­hen­de Ver­lust ihres Bil­dungs­pri­vi­legs. Sie zieht ihr Selbst­be­wußt­sein aus dem Besitz kul­tu­rel­len Kapi­tals und dies heißt vor allem die Ver­fü­gung über die legi­ti­men Aneig­nungs­wei­sen legi­ti­mer Kultur.

In der Tat gibt es einen fun­da­men­ta­len Unter­schied zwi­schen Bil­dung und Halb­bil­dung. Bil­dung ist Inter­na­li­sie­rung von kul­tu­rel­lem Wis­sen und des­sen Umfor­mung zu einem Habi­tus, der es erlaubt, zwang­los und auto­ma­tisch auf die ange­bo­te­nen Rei­ze zu reagie­ren. Bil­dung ent­spricht auf dem Gebiet der Kul­tur den guten Manie­ren im Bereich des Ver­hal­tens. Wer dar­über ver­fügt, weiß, wie und wor­über es sich schickt, zu reden. Halb­bil­dung dage­gen kann den Ein­druck des äußer­lich blei­ben­den, ange­lern­ten Mecha­nis­mus nicht abstrei­fen. Aber Bil­dung ist kei­ne natür­li­che Gabe wie etwa Musi­ka­li­tät, son­dern selbst etwas Erlern­tes. Der Lern­pro­zeß setzt nur frü­her – im Eltern­haus – ein und ver­läuft inten­si­ver als bei denen, die erst spä­ter und auf rein schu­li­sche Wei­se sich mit Kul­tu­rel­lem befas­sen. Das heißt aber, daß sich auch das zunächst äußer­lich Ange­lern­te auf die Dau­er in Inwen­di­ges umwan­deln kann. Ador­no hypo­sta­siert und onto­lo­gi­siert nun die­sen rela­ti­ven Unter­schied auf der Zeit­ach­se des Lern­pro­zes­ses zu einem abso­lu­ten Unter­schied, um den Über­gang von einem Zustand rela­ti­ver Bil­dung zu dem einer voll­gül­ti­gen Bil­dung als denk­un­mög­lich zu tabui­sie­ren. Indem nun ande­re Schich­ten mit der Prä­ten­ti­on auf­tre­ten, auch Bil­dung zu haben, und ihre Aneig­nungs­wei­se von Kul­tur als Stan­dard zu set­zen ver­su­chen, wird die Legi­ti­mi­tät der bis­he­ri­gen Aneig­nungs­wei­se bestrit­ten. Zudem wird durch die Infla­ti­on von Bil­dung die­se gene­rell ent­wer­tet. Wenn vie­le mehr oder weni­ger gebil­det sind, reicht der Abstand, der die­sen Bil­dungs­grad vom Bil­dungs­ni­veau der high­brows trennt, nicht mehr aus, um den geho­be­nen Sozi­al­sta­tus der Bil­dungs­eli­te zu recht­fer­ti­gen. Des­halb muß sich Ador­no dar­um bemü­hen, Distanz wie­der­her­zu­stel­len, indem er Halb­bil­dung und Bil­dung strikt trennt. „Das Halb­ver­stan­de­ne und Hal­ber­fah­re­ne ist nicht die Vor­stu­fe der Bil­dung son­dern ihr Todfeind.“
All die dis­kri­mi­nie­ren­den Unter­schei­dun­gen zwi­schen Taschen­buch und Gesamt­aus­ga­be, zwi­schen Radio­hö­ren und Kon­zert­be­such, zwi­schen Schall­plat­te und Selbst­mu­si­zie­ren, zwi­schen popu­lär­wis­sen­schaft­li­cher Ein­füh­rung und der Ver­sen­kung ins Ori­gi­nal­werk die­nen dazu, das Mono­pol über die legi­ti­me Aneig­nungs­wei­se von Kunst zu sichern. Durch die Ver­ur­tei­lung aller mate­ri­ell wie ideell „bil­lig“ zu haben­den Aneig­nungs­wei­sen soll der Zustrom der klein­bür­ger­li­chen Empor­kömm­lin­ge in der Eli­te der Gebil­de­ten ver­hin­dert und der sozia­le Wert von Bil­dung erhal­ten bleiben.
Ador­nos Kri­ti­zis­mus ist als pro­gres­si­ve Gesell­schafts­kri­tik ver­klei­de­te reak­tio­nä­re Kul­tur­kri­tik. Im Gegen­satz zu selbst­be­wuß­ten Eli­tä­ren alten Schla­ges wie Nietz­sche und Geor­ge, die in einer Gesell­schaft leb­ten, in der die Aris­to­kra­tie noch etwas galt, kann in einer Demo­kra­tie Eli­tis­mus nur über­dau­ern, wenn er von sich behaup­tet, kein Eli­tis­mus zu sein. Ador­nos Lob der guten Manie­ren, die ins Ver­hal­ten eine der Kunst ver­gleich­ba­re Schön­heit und Zweck­frei­heit ein­füh­ren, wird damit gerecht­fer­tigt, daß sie, „als Erb­teil alter Pri­vi­le­gi­en“ den „pri­vi­le­gi­en­lo­sen Stand“ versprechen.

Er rät zu „Miß­trau­en … gegen­über allem Unbe­fan­ge­nen, Lege­ren, gegen­über allem sich Gehen­las­sen,“ da dies „Nach­gie­big­keit gegen die Über­macht des Exis­tie­ren­den ein­schließt“. Eli­tä­re Umgangs­for­men wer­den dadurch „geret­tet“, daß sie zu einem revo­lu­tio­nä­ren Akt des Wider­stan­des umge­deu­tet wer­den. Die pro­gres­si­ve Ter­mi­no­lo­gie (pri­vi­le­gi­en­los, Über­macht) zer­streut den Ver­dacht auf reak­tio­nä­re Gesin­nung. Mar­xis­ti­sche Ter­mi­no­lo­gie (Ver­ding­li­chung, Waren­cha­rak­ter, Tausch­prin­zip, gesell­schaft­li­che Bedingt­heit, Pro­duk­tiv­kräf­te) hat aber nicht nur die defen­si­ve Funk­ti­on, die eige­ne eli­tä­re Posi­ti­on in ihrem Abwehr­kampf gegen die andrän­gen­den unte­ren Schich­ten durch Ver­leug­nung und Ratio­na­li­sie­rung unkennt­lich zu machen. Man kann sich ihrer nicht bedie­nen, ohne zumin­dest die Erin­ne­rung an ihre ursprüng­lich revo­lu­tio­när-klas­sen­kämp­fe­ri­sche Stoß­rich­tung mit­zu­trans­por­tie­ren. Frei­lich wird man in Ador­nos Schrif­ten ver­geb­lich nach „Groß­ka­pi­tal“ und „Bour­geoi­sie“ fahn­den. So wenig es bei ihm noch ein revo­lu­tio­nä­res Sub­jekt gibt, so wenig auch einen klas­sen­mä­ßig iden­ti­fi­zier­ba­ren Ant­ago­nis­ten. Der alte Klas­sen­feind ist zu abs­trak­ten All­ge­mein­be­grif­fen wie Herr­schaft, Markt­me­cha­nis­men, Gesell­schaft ver­blaßt. Die dop­pel­te Front­stel­lung gegen die Vul­ga­ri­sie­rung von unten und die Domi­nanz durch die Besit­zer öko­no­mi­schen Kapi­tals von oben zieht sich zusam­men in einem Rund­um­schlag gegen die Gesell­schaft, einem Begriff, der Herr­schen­de und Beherrsch­te in eins zusammenfaßt.
Die­se über­ra­schen­de Syn­the­se erscheint weni­ger erstaun­lich, wenn man die ästhe­ti­sche Ein­stel­lung, also das Zen­tral­ge­biet, wo Ador­nos Inners­tes berührt wird, berück­sich­tigt. Besitz­bür­ger­tum und brei­te Mas­se hän­gen näm­lich gemein­sam einem Sin­nen­ge­schmack an, der in Oppo­si­ti­on zur „rei­nen“ Ästhe­tik, dem „Refle­xi­ons­ge­schmack“ der Intel­lek­tu­el­len steht. Die in Ador­nos ästhe­ti­scher Theo­rie anzu­tref­fen­den Unter­schei­dun­gen von Genuß und nach­voll­zie­hen­der Ver­sen­kung, von rea­lis­ti­scher Abbil­dung und Ent­fal­tung des auto­no­men Kon­struk­ti­ons­prin­zips, von Affir­ma­ti­on und Ver­wei­ge­rung, von hap­py end und Lei­den, Ver­stum­men, Schei­tern, von unmit­tel­ba­rer Ver­ständ­lich­keit und Her­me­tis­mus las­sen sich alle auf den Unter­schied von sinn­li­chem Inhalt und geis­ti­ger Form zurückführen.
Der Intel­lek­tu­el­le ist der Meis­ter der sym­bo­li­schen For­men. Indem er jeden zu unter­su­chen­den Sach­ver­halt in der Rein­heit sei­ner For­ma­li­tät auf­zeigt, beweist er sei­ne Meis­ter­schaft und sei­ne Über­le­gen­heit gegen­über dem sinn­li­chen, vul­gä­ren, mate­ri­el­len, ungeis­ti­gen Welt­be­zug der Nicht-Intel­lek­tu­el­len. Irving Wohlf­arth hat Ador­nos „gesam­te Ästhe­tik“ als apo­lo­gia pro vita sua bezeich­net, Rüdi­ger Bub­ner spricht von einem „inne­ren Zwang zur Selbst­be­stä­ti­gung“, Alphons Sil­ber­mann von der „Eso­te­rik sei­nes eige­nen Ichs“ und Olaf Han­sen von einem „inne­ren Monolog“.

Die­se Janus­köp­fig­keit sei­ner eige­nen Posi­ti­on kehrt wie­der in der Bestim­mung des Kunst­werks als „auto­nom“ und als fait social. In die­sem Dop­pel­cha­rak­ter spie­gelt sich sein eige­nes Wesen. Die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem authen­ti­schen Kunst­werk erlaubt es ihm, sei­ne eige­ne gesell­schaft­li­che Stel­lung zu den­ken. Damit aber ist die pre­kä­re Situa­ti­on nur benannt, noch nicht jedoch gelöst. Ador­nos Bewäl­ti­gungs­stra­te­gie besteht in einer radi­ka­len Intel­lek­tua­li­sie­rung. Durch die Hoch­schät­zung der dun­kels­ten, schwie­rigs­ten, durch­kon­stru­ier­tes­ten Kunst­wer­ke, durch das Behar­ren auf einer genuß­feind­li­chen, rein for­ma­len Rezep­ti­ons­wei­se und einer sich ver­schie­de­ner Tech­ni­ken bedie­nen­den Refle­xi­on wird ein rein geis­ti­ger Welt­be­zug gestif­tet, der die Welt ihrer mate­ri­el­len Sub­stan­tia­li­tät und Kon­kret­heit ent­klei­det und sie zu etwas Nich­ti­gem ver­flüch­tigt. Die Hal­tung schwankt zwi­schen tota­ler Welt­ver­nei­nung und ihrer Zurecht­ma­chung zu einem inter­pre­ta­tiv belie­big mani­pu­lier­ba­ren Gegen­stand; wesent­lich jeden­falls ist, daß sie so über das Ich kei­ne Gewalt mehr hat. Im Pro­zeß des Negie­rens frei­lich bleibt die Posi­ti­on des Nega­tors unbe­rührt, der in der Ent­fal­tung sei­ner destru­ie­ren­den Logik die Macht sei­nes Geis­tes genießt, der die Welt in sich auf­löst und in Schat­ten­ge­bil­de ver­wan­delt. Die Wider­sprü­che, die Ador­nos Posi­ti­on als Intel­lek­tu­el­ler aus­ma­chen, kön­nen nicht gelöst wer­den, da die Wahl der einen Sei­te das Opfer der ande­ren bedeu­ten wür­de. Es bleibt nur übrig, die Wider­sprü­che ste­hen­zu­las­sen und sie im Nebel einer all­ge­mei­nen Nega­ti­vi­tät zum Ver­schwin­den zu brin­gen. Die ent­sub­stan­tia­li­sier­te Welt ver­wan­delt sich in einen Spie­gel, der den Blick des Stand­hal­tens, in der unver­letz­li­che Sou­ve­rä­ni­tät des eige­nen Geis­tes tri­um­phiert, zurück­wirft. Etwas ande­res als sich selbst sieht die­ser Geist aber nicht.
Frei­lich geht Ador­nos Phi­lo­so­phie nicht gänz­lich in der Kon­zep­ti­on einer radi­ka­len Welt­ver­nei­nung auf. In sei­nem Spät­werk bil­ligt er der Kunst zu, Instanz einer mög­li­chen Ret­tung zu sein. In tran­szen­den­ta­ler Hin­sicht ver­wirk­licht die Kunst durch ihren sinn­lich-sym­bo­li­schen Cha­rak­ter einen begriffs­lo­sen Welt­be­zug, der sich vom all­täg­li­chen fun­da­men­tal unter­schei­det. Die­ser näm­lich eig­net sich die Welt durch begriff­li­che Sub­sum­ti­on an und unter­stellt sie damit der Herr­schafts­ge­walt des Sub­jekts. Indem phi­lo­so­phi­sches Den­ken das begriffs­lo­se Erken­nen der Kunst refle­xiv nach­voll­zieht und ein­holt, läßt sich das Ide­al einer herr­schafts­frei­en Ver­nunft­pra­xis ein­lö­sen. Da gro­ße Kunst nicht durch­gän­gig vom waren­för­mi­gen Ver­wer­tungs­zu­sam­men­hang bestimmt wird, son­dern in der Ent­fal­tung ihres imma­nen­ten Gestal­tungs­prin­zips zu einem in sich stim­mi­gen Gan­zen sich selbst das Gesetz gibt, ver­wirk­licht sie in struk­tu­rel­ler Hin­sicht das Ide­al von Auto­no­mie. Die Crux die­ser Kon­struk­ti­on besteht dar­in, zu erken­nen, wel­che Wer­ke dem hohen, qua­si­re­li­giö­sen, auf Erlö­sung abzie­len­den Anspruch gro­ßer Kunst genü­gen kön­nen. Der Kanon ador­no­kom­pa­ti­bler Wer­ke ist dem­entspre­chend schmal; vie­les gemein­hin als gro­ße Kunst Aner­kann­tes ver­fällt dem Ver­dikt. Ador­nos ästhe­ti­sches Wert­ur­teil, das von sich selbst behaup­tet, durch den Nach­voll­zug der imma­nen­ten Gesetz­mä­ßig­keit objek­tiv zu sein, ist in Wirk­lich­keit äußerst sub­jek­tiv, da es ein bereits vor der Inter­pre­ta­ti­on fest­ste­hen­des Gefal­len oder Miß­fal­len durch die Spra­che der Theo­rie nur legitimiert.

So sti­li­siert er in Rede über Lyrik und Gesell­schaft ein abso­lut zweit­ran­gi­ges Möri­ke­ge­dicht zum Meis­ter­werk empor. Das unüber­hör­ba­re Hol­pern des Vers­rhyth­mus wird als fer­ne Erin­ne­rung an „grie­chi­sche reim­lo­se Stro­phen“ geret­tet. Ador­nos Theo­rie des abso­lu­ten Deter­mi­nis­mus durchs Sozia­le schlägt somit in rei­nen Dezi­sio­nis­mus um, da die Theo­rie den Inter­pre­ten in den Stand ver­setzt, den Vor­schein des Ret­ten­den und das Dun­kel des Unheils genau dort zu erbli­cken, wo es ihm beliebt.
An die­ser Stel­le wird auch all­mäh­lich die Fas­zi­na­ti­on ver­ständ­lich, die Ador­no auf die Stu­den­ten­be­we­gung aus­üb­te. Es ist nun frei­lich kei­nes­wegs so, wie es sich all­zu nai­ve Kri­ti­ker der Kri­ti­schen Theo­rie vor­stel­len, daß hier eini­ge Frank­fur­ter Pro­fes­so­ren vom Kathe­der her­ab die Stu­den­ten auf­hetz­ten und sie mit geis­ti­ger Muni­ti­on für die Agi­ta­ti­on ver­sorg­ten. Allein schon ein flüch­ti­ger Blick in Ador­nos Tex­te läßt die Illu­si­on zer­ge­hen, daß aus die­sem eben­so kom­pli­zier­ten wie hem­mungs­los pes­si­mis­ti­schen Dis­kurs eine Anlei­tung zum Stra­ßen­kampf ent­nom­men wer­den könn­te. Viel­mehr wirk­te Ador­nos Theo­rie auf die stu­den­ti­sche Jugend wie eine Dro­ge oder eine Zau­ber­for­mel, die den Zusam­men­hang der Welt wie in einem Erleuch­tungs­er­leb­nis auf­schloß. Das durch die Ador­no­lek­tü­re bewirk­te Lebens­ge­fühl schil­dert prä­gnant der Rück­blick von Ste­phan Wack­witz, Redak­teur der tages­zei­tung: „Es war ein ganz neu­es Macht­ge­fühl. Es moch­te auf den ers­ten Blick schei­nen, daß da ein zu dün­ner, tol­pat­schi­ger, pick­li­ger und bebrill­ter Erst­se­mes­ter­stu­dent durch [Mün­chens Stra­ßen] ging. In Wirk­lich­keit han­del­te es sich um Super­mann, der jetzt gleich den Ador­no-Zau­ber­man­tel über­wer­fen und sich in die Lüf­te erhe­ben wür­de, ein Schre­cken der schein­bar voll­ends auf­ge­klär­ten, in Wahr­heit aber im Zei­chen tri­um­pha­len Unheils strah­len­den Erd­lin­ge. Ich wuß­te jetzt etwas, nach­dem ich es bis­her immer nur geahnt hatte.“
Wer erst ein­mal die Hür­de der schwie­ri­gen Argu­men­ta­ti­ons­struk­tur pas­siert und gelernt hat­te, wesent­li­che Kate­go­rien von Ador­nos Dis­kurs wie Ver­ding­li­chung, Mime­sis, Affir­ma­ti­on, Dia­lek­tik von Mythos und Auf­klä­rung, Waren­cha­rak­ter, Kul­tur­in­dus­trie und ande­re mit einer gewis­sen Kunst­fer­tig­keit zu beherr­schen, ver­füg­te über ein Instru­ment, das nicht nur ver­sprach, die Geheim­nis­se der moder­nen Welt zu erklä­ren, son­dern auch einen beträcht­li­chen Distink­ti­ons­ge­winn bereit­hielt. Gegen­über dem dama­li­gen naiv-bie­der­mei­er­li­chen Dis­kurs der Geis­tes­wis­sen­schaft, der sich, wenn er in sei­nen Sonn­tags­staat gehüllt auf­trat, zu einem ver­quas­ten Heid­eg­ge­ria­nis­mus empor­sti­li­sier­te, ver­lieh der Gebrauch des Jar­gons der Nega­ti­vi­tät dem Ador­noa­dep­ten eine Aura bril­lan­ter Intel­lek­tua­li­tät und radi­ka­ler Modernität.
Jar­gon muß ein intel­lek­tu­el­les Ver­fah­ren genannt wer­den, das Erkennt­nis zuguns­ten des Auto­ma­tis­mus eines dis­kur­si­ven Kon­struk­ti­ons­prin­zips sus­pen­diert. Aus­ge­hend von der Annah­me, daß auch im kleins­ten Detail die Signa­tur des Zeit­al­ters sicht­bar wird, weil das gesell­schaft­li­che Gan­ze jeden ein­zel­nen sozia­len Tat­be­stand deter­mi­niert, ergibt sich ein leicht zu hand­ha­ben­des Inter­pre­ta­ti­ons­ver­fah­ren, das jedes Detail mit dem Gan­zen kurz­schließt. Da aber das Gan­ze a prio­ri als das Unheil bestimmt ist, läuft jede Inter­pre­ta­ti­on dar­auf hin­aus, das zu Inter­pre­tie­ren­de als Zei­chen und spe­zi­fi­schen Aus­druck des Unheils zu deu­ten. Das phä­no­me­na­le So-Sein des zu Inter­pre­tie­ren­den wird igno­riert, es wird auf den Sta­tus eines illus­trie­ren­den Indi­zes für den zu bewei­sen­den gesell­schaft­li­chen Gesamt­zu­sam­men­hang redu­ziert. Da die Welt sich durch die simp­le Tech­nik des Ana­lo­gie­schlus­ses bruch­los in das Deu­tungs­sche­ma ein­fügt und man durch den Gebrauch des phi­lo­so­phisch hoch­ge­züch­te­ten Voka­bu­lars des Jar­gons sei­ne intel­lek­tu­el­le Digni­tät demons­trie­ren kann, wächst dem ador­nes­ken Inter­pre­ten ein Macht- und Über­le­gen­heits­ge­fühl zu, was sicher­lich einen wesent­li­chen Grund für die Fas­zi­na­ti­on dar­stellt, die die Frank­fur­ter Schu­le auf das intel­lek­tu­el­le Milieu der sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­re ausübte.

Auch wenn Ador­no selbst von einer poli­ti­schen Stoß­rich­tung sei­ner Leh­re Abstand genom­men hat­te und ihr allen­falls zubil­lig­te, weni­gen Ein­zel­nen die Aus­bil­dung einer Hal­tung des Wider­ste­hens zu ermög­li­chen, so kann auch die­ser abgrund­tie­fe Pes­si­mis­mus eine poli­ti­sche Funk­ti­on erlan­gen, wenn er von einer anders­ge­ar­te­ten Men­ta­li­tät auf­ge­grif­fen wird. In der Stu­den­ten­be­we­gung voll­zog die Ador­no­sche Welt­ver­nei­nung eine Wen­dung ins Prak­ti­sche. Wenn die Welt, wie Ador­no gezeigt hat, ein Abgrund der Nega­ti­vi­tät ist, so muß die Welt als Gan­ze negiert wer­den. Wie der Ador­no­schü­ler Micha­el Rutsch­ky schrieb, bestand der Effekt der Ador­no­re­zep­ti­on dar­in, zu ler­nen, „Nein zu sagen“, „Nega­ti­on als zen­tra­len Mecha­nis­mus … der Sozia­li­sa­ti­on in der Bun­des­re­pu­blik zu eta­blie­ren.“ Die Ador­no­lek­tü­re erzeugt eine Gesin­nung der tota­len Ableh­nung des Bestehen­den. Da das Bestehen­de das abso­lut Böse ist, muß, wenn man die­se Erkennt­nis prak­tisch wen­det, der dage­gen gerich­te­te tota­le Kampf als zwin­gen­de mora­li­sche Pflicht erscheinen.
In poli­ti­scher Hin­sicht hat Ador­nos Leh­re auf­grund ihres radi­ka­len Nega­ti­vis­mus, wenn auch zum Teil gegen sei­ne eige­nen Inten­tio­nen, beträcht­lich zur Fun­da­men­ta­li­sie­rung der Stu­den­ten­be­we­gung bei­getra­gen, die die Gesell­schaft der BRD in eine ande­re ver­wan­del­te. Viel­leicht noch gra­vie­ren­der ist die durch die Frank­fur­ter Schu­le bewirk­te Ver­wil­de­rung und Pri­mi­ti­vi­sie­rung des wis­sen­schaft­lich-gebil­de­ten Dis­kur­ses. So sind bei­spiels­wei­se in den sieb­zi­ger Jah­ren mas­sen­wei­se von Ador­no inspi­rier­te Fern­seh­theo­rien erschie­nen, die nicht einen ein­zi­gen Hin­weis auf empi­ri­sche Stu­di­en zum kon­kre­ten Fern­seh­kon­sum ent­hiel­ten, da man ver­mein­te, alles zu die­sem The­ma Wis­sens­wer­te lie­ße sich allein aus dem kul­tur­in­dus­tri­el­len Waren­cha­rak­ter ablei­ten. Beson­ders ver­hee­rend wirk­te sich Ador­nos Tech­nik des Ana­lo­gie­schlus­ses aus, durch den ein zu inter­pre­tie­ren­des Detail als Aus­druck des denk­bar Schreck­lichs­ten („Ausch­witz“ als Chif­fre) gedeu­tet wur­de. Die gesam­te Lebens­welt wird unter per­ma­nen­ten Ver­dacht gestellt: Da jedes Detail vom bösen Gan­zen deter­mi­niert ist, repro­du­ziert man die­ses und macht sich dadurch schul­dig, wenn man auch am harm­lo­ses­ten Ver­gnü­gen teil­nimmt. In wis­sen­schaft­li­cher Hin­sicht wer­den durch den Kurz­schluß zwi­schen Detail und gesell­schaft­li­chem Gesamt­sys­tem die das Detail struk­tu­rie­ren­den Wir­kun­gen der Sub­sys­te­me (künst­le­ri­sche Gat­tun­gen und Stil­rich­tun­gen, Medi­en­or­ga­ni­sa­ti­on, sozia­le Klas­sen und Rol­len, poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Insti­tu­tio­nen) aus­ge­blen­det, also all das, wofür sich Sozio­lo­gie her­kömm­li­cher­wei­se inter­es­siert. In prak­ti­scher Hin­sicht geht jeder Sinn für Grö­ßen­ord­nun­gen ver­lo­ren, man kann nicht mehr zwi­schen Belang­lo­sem und wirk­lich Bedeut­sa­men, zwi­schen einem schlech­ten Gesetz und einer ech­ten Dik­ta­tur unter­schei­den. Der für die geis­ti­ge Lage der BRD kenn­zeich­nen­de Hang zu Alar­mis­mus und Kata­stro­phen­den­ken, der im übri­gen bes­tens mit einer merk­wür­di­gen Blind­heit gegen­über Anzei­chen des Ver­falls ein­her­geht, hat hier eine sei­ner Ursa­chen. Eine wirk­lich kri­ti­sche Theo­rie müß­te ihre Kri­tik­fä­hig­keit zual­ler­erst in der Bereit­schaft zur Selbst­kri­tik bewäh­ren, also auf die eige­nen Denk­vor­aus­set­zun­gen per­ma­nent reflek­tie­ren. Eine sol­che Fähig­keit zur Selbst­kri­tik und wis­sen­schaft­li­chen Beschei­den­heit ist gera­de bei Ador­no am aller­we­nigs­ten zu beob­ach­ten. Er ließ nie einen Zwei­fel auf­kom­men, im Besitz der einen und objek­ti­ven Wahr­heit zu sein, wodurch alle ande­ren Inter­pre­ta­tio­nen dem Ver­dikt der Unwahr­heit verfielen.
Unter­halb der sprach­lich schwie­ri­gen und wis­sen­schaft­li­chen Tief­sinn sug­ge­rie­ren­den Ober­flä­che des nega­ti­vis­ti­schen Jar­gons wird eine „kate­go­ria­le Armut“ (Lorenz Jäger) offen­bar, die es nicht erlaubt, die Kom­ple­xi­tät moder­ner Gesell­schaf­ten auf den Begriff zu brin­gen. Durch metho­di­sche Sim­pli­fi­zie­rung und mes­sia­nisch-mora­lis­ti­sche Über­deh­nung hat die Frank­fur­ter Schu­le die Sozio­lo­gie als Wis­sen­schaft nach­hal­tig geschä­digt. Sie ist dadurch weit hin­ter den zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts erreich­ten Stand (Weber, Sim­mel, Mann­heim, Frey­er) zurück­ge­fal­len. Mehr als die Erkennt­nis, daß es so etwas wie Gesell­schaft über­haupt gibt, ist ihr nicht zu ent­neh­men. Eine Beschäf­ti­gung mit Ador­nos Theo­rie darf die­se nicht in ihrem Nomi­nal­wert neh­men, als wis­sen­schaft­lich ernst­zu­neh­men­de Theo­rie über Gesell­schaft, son­dern sie selbst ist sozio­lo­gisch zu ana­ly­sie­ren, als Exem­pel einer wis­sen­schaft­li­chen Pathologie.

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