Moral und Hypermoral – Gehlens politische Wirkung

pdf der Druckfassung aus Sezession 4 / Januar 2004

von Karlheinz Weißmann

Arnold Gehlen und Niklas Luhmann begegnen sich im Zugabteil. Nachdem das Schweigen unangenehm lange dauert, versucht Luhmann ein Gespräch anzuknüpfen „Und woran arbeiten Sie gerade, Herr Kollege“, und Gehlen antwortet „Ich? Ich bereite mich auf den Untergang vor.“

Wie gut auch immer die­se Geschich­te ver­bürgt sein mag, sie wirft ein Licht auf die Ein­schät­zung der Lage durch den spä­ten Geh­len, der noch ein­mal, unter Auf­ga­be bis dahin geüb­ter Zurück­hal­tung, direkt in die poli­ti­sche Debat­te ein­griff, mit sei­nem 1969 erschie­ne­nen Buch Moral und Hyper­mo­ral. Es han­del­te sich dabei nicht nur um die Grund­le­gung einer „plu­ra­lis­ti­schen Ethik“ wie im Unter­ti­tel ange­kün­digt, son­dern um eine schar­fe Pole­mik gegen das, was Geh­len den „Huma­ni­ta­ris­mus“ nann­te, jene wirk­lich­keits­frem­de, dau­ernd mit gro­ßen und größ­ten Wor­ten han­tie­ren­de Welt­an­schau­ung, die die Bedin­gun­gen des indi­vi­du­el­len wie des gesell­schaft­li­chen Daseins ver­kann­te, aber seit dem Beginn der sech­zi­ger Jah­re zuneh­mend Ein­fluß gewann. An die Stel­le des Ver­suchs, ein Leben ohne Bedin­gun­gen zu füh­ren, setz­te Geh­len die alte Ein­sicht, daß jede rea­lis­ti­sche Ethik von meh­re­ren Lebens­krei­sen aus­zu­ge­hen habe, deren Ver­wechs­lung fata­le Fol­gen nach sich zie­hen müs­se. Ins­be­son­de­re ver­warf er die Idee, man kön­ne das staat­li­che Leben nach den Maß­stä­ben der Priv­at­mo­ral – der „Klein­grup­pen­ethik“ – beur­tei­len; die Eigen­ge­setz­lich­keit des Poli­ti­schen ver­lan­ge zwar kei­ne Amo­ral, wie gele­gent­lich behaup­tet, aber eine spe­zi­fisch politische.

Die Wir­kung von Moral und Hyper­mo­ral war außer­or­dent­lich. Rasch muß­te nach Erschei­nen der ers­ten eine zwei­te Auf­la­ge gedruckt wer­den. Selbst­ver­ständ­lich war die Kri­tik von links scharf, als nicht unty­pi­sche Mischung aus Aner­ken­nung und Haß brei­te­te Jür­gen Haber­mas eine Ent­geg­nung auf vier­zehn Druck­sei­ten im Mer­kur aus („Nach­ge­ahm­te Sub­stan­zia­li­tät“). Er recht­fer­tig­te den Auf­wand damit, daß ein „im Drei­eck Carl Schmitt, Kon­rad Lorenz, Arnold Geh­len ent­wi­ckel­ter Insti­tu­tio­na­lis­mus … leicht … Brei­ten­glaub­wür­dig­keit erhal­ten“ könn­te. Das war aber nur alar­mis­tisch. Tat­säch­lich gab es kaum direk­te Par­tei­nah­men für Geh­len. In der FAZ warf man ihm allen Erns­tes vor, kein Ver­trau­en in den „natür­li­chen Aus­gleich“ (Uwe Schultz) von Inter­es­sen und Ten­den­zen zu haben, und Rüdi­ger Alt­mann, häu­fig als Kon­ser­va­ti­ver gehan­delt, fürch­te­te in der gege­be­nen Situa­ti­on vor allem „die zu erwar­ten­de Wen­dung nach rechts“.

Es war letzt­lich nur eine sehr klei­ne Zahl kon­ser­va­ti­ver Intel­lek­tu­el­ler, die die Käl­te der Ana­ly­se Geh­lens zu schät­zen wuß­te. Aus die­sem Kreis um Cas­par von Schrenck-Not­zing kam die Initia­ti­ve, die im Juli 1970 zum Erschei­nen der ers­ten Num­mer der Zeit­schrift Cri­ticón führ­te. Das The­ma der Aus­ga­be war „Rück­kehr zur Ratio“, auf dem Umschlag druck­te man einen Arti­kel von Armin Moh­ler mit der Über­schrift „Geh­lens ‘Moral und Hyper­mo­ral´ – eine Weg­mar­ke“. Was Moh­ler zu der Auf­fas­sung führ­te, es han­de­le sich bei Moral und Hyper­mo­ral um eine „Weg­mar­ke“, war die Mischung aus „stär­ken­dem Zynis­mus und bei­ßen­dem Spott“, die Kon­kre­ti­on im Gegen­satz zur Vag­heit der Lin­ken, die Schär­fe der Ana­ly­se gegen die Impo­tenz der modi­schen „Kri­tik“. Man konn­te tat­säch­lich glau­ben, daß hier ein neu­er poli­ti­scher Stil begrün­det wur­de, und Cri­ticón hat über sehr lan­ge Zeit die Funk­ti­on gehabt, der geh­len­schen Rech­ten ein Forum zu bieten.

Aller­dings hat Geh­len selbst immer vor dem Ver­trau­en in die Macht des Argu­ments gewarnt, und die­se War­nung zeig­te ihre Berech­ti­gung auch im Hin­blick auf sei­ne eige­ne Form von Gegen-Auf­klä­rung. Was sich als Ernüch­te­rung oder sogar als „Ten­denz­wen­de“ in Reak­ti­on auf den Ter­ro­ris­mus und die Ölkri­se Anfang der sieb­zi­ger Jah­re abzeich­ne­te, ent­sprach kei­nes­wegs dem, was er als not­wen­dig betrach­tet hat­te, um die Kor­rek­tur der Fehl­ent­wick­lun­gen zu errei­chen. Alles, was dann noch kam, ent­sprach ziem­lich genau sei­nen Befürch­tun­gen. Des­halb ist Moral und Hyper­mo­ral auch nicht abge­tan. Viel­mehr soll­te man es heu­te wie­der­le­sen und sich nicht nur begeis­tern an der Treff­si­cher­heit der For­mu­lie­run­gen, dem außer­or­dent­li­chen Kennt­nis­reich­tum und den blei­ben­den Ein­sich­ten in die Funk­ti­on der mensch­li­chen Gesell­schaft, die hier ver­mit­telt wer­den: Man soll­te Moral und Hyper­mo­ral als pro­phe­ti­sches Buch lesen, min­des­tens als Anstoß, um dar­über nach­den­ken, wie es mög­lich war, daß Geh­len schon vor drei­ßig Jah­ren die „stets wache Pres­se- und Rund­funk­po­li­zei“ ver­ant­wort­lich machen konn­te für das Ster­ben der ech­ten Debat­te und absah, daß die Pro­pa­gan­da für accep­tance – eine angeb­lich schran­ken­lo­se Tole­ranz – zur Eta­blie­rung jener „huma­ni­tä­ren Reli­gi­on“ füh­re, deren Ket­zer „als Unge­heu­er“ erschie­nen, so „… wie jemand im Mit­tel­al­ter als Unge­heu­er erschie­nen wäre, der die Gött­lich­keit Jesu geleug­net hät­te“, und deren letz­te Kon­se­quenz in einer zwar nicht inten­dier­ten, aber zwangs­läu­fi­gen Macht­er­grei­fung der Per­ver­si­on lie­ge: „Auf ein­mal zeigt sich als über­ra­schen­de Erschei­nung, daß ein per­ma­nen­ter Kult des Bösen ent­steht, eine wirk­lich dia­bo­li­sche Ten­denz, vor allem im Film gepflegt, in dem … das Publi­kum das Böse selbst genießt … In den Men­schen, die sich geg­ner­schafts­un­fä­hig machen und nur das bekom­men wol­len, was sie selbst gewäh­ren, näm­lich Scho­nung, bleibt etwas wie ein klei­ner dia­bo­li­scher Keim, der die Freu­de an der Ver­nich­tung des Wehr­lo­sen bedeutet“.

Geh­len starb am 30. Janu­ar 1976. Es trat nie­mand an sei­ne Stel­le, es gab und gibt kei­ne Geh­len-Schu­le. Das ist zum Teil auf tra­gi­sche Umstän­de zurück­zu­füh­ren, in ers­ter Linie aber die Fol­ge der geis­ti­gen Lage, in der sich West­deutsch­land befin­det. Selbst­ver­ständ­lich haben vie­le von Geh­len pro­fi­tiert, weni­ge haben ihm die Anre­gung gedankt, kaum einer war bereit, Kon­se­quen­zen aus der Ana­ly­se zu zie­hen. Auch das hät­te Geh­len nicht über­rascht. Er war skep­tisch im Hin­blick auf die durch­gän­gi­ge Ratio­na­li­tät des Men­schen, und er war skep­tisch im Hin­blick auf die Mög­lich­keit über­haupt poli­tisch zu agie­ren. Jemand, in des­sen Theo­rie die Hand­lung eine so bedeu­ten­de Rol­le spiel­te, äußer­te weni­ge Jah­re vor sei­nem Tod: „‘Rechts´ ist jetzt Atmo­sphä­re, die kei­ne Par­tei ist, aber die Moral auf ihrer Sei­te hat.“

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