Krieg – nur eine Erfindung?

pdf der Druckfassung aus Sezession 1 / April 2003

sez_nr_1von Karlheinz Weißmann

Im Frühjahr 1991 erlebte das wiedervereinigte Deutschland mit dem Golfkrieg seine erste außenpolitische Belastungsprobe.

Unter dem Druck der Öffent­lich­keit konn­ten die Par­tei­en der bür­ger­li­chen Koali­ti­on nur eine mili­tä­ri­sche Mini­mal­be­tei­li­gung durch­set­zen. Die Debat­te im Wes­ten beherrsch­te eine Lin­ke, die Chan­cen sah, nach dem Voll­zug der Ein­heit und der Nie­der­la­ge bei den ers­ten gesamt­deut­schen Wah­len Mei­nungs­macht zurück­zu­ge­win­nen. In den neu­en Bun­des­län­dern spiel­te eine wich­ti­ge Rol­le, daß jene mora­li­schen Instan­zen, die zur „Wen­de“ bei­getra­gen hat­ten – von den Kir­chen bis zu allen mög­li­chen Grup­pen der DDR Oppo­si­ti­on -, auch Teil der Frie­dens­be­we­gung gewe­sen waren und jetzt gegen den „Kriegs­kurs“ protestierten.

Wenn die Zeit damals hoff­te, Deutsch­land wer­de zur „Wie­ge eines neu­en Pazi­fis­mus“, so war doch unver­kenn­bar, daß der neue Pazi­fis­mus doch kaum etwas ande­res tat, als den alten – der Anti-Atom­tod­kam­pa­gnen und der Nach­rüs­tungs­kri­se – zu wie­der­ho­len: sehr oft das­sel­be Per­so­nal, immer die­sel­ben Argu­men­te und die­sel­ben For­men sym­bo­li­scher Poli­tik. Demons­trie­ren­de Schul­klas­sen, blo­ckier­te Kaser­nen, Gewerk­schaf­ter, Grü­ne, Sozi­al­de­mo­kra­ten, pro­gres­si­ve Chris­ten und Kom­mu­nis­ten, die Auf­ru­fe unter­zeich­ne­ten, Intel­lek­tu­el­le, die den Kon­flikt zwi­schen dem Irak und den USA auf die For­mel „Krieg für Öl“ redu­zier­ten und ganz irra­tio­na­le Aus­brü­che der ger­man angst: kurz vor Ablauf des an Sad­dam Hus­sein gerich­te­ten Ulti­ma­tums ver­ab­schie­de­te sich ein Fern­seh­jour­na­list von den Zuschau­ern mit den Wor­ten „Wir sehen uns wie­der nächs­te Woche – hoffentlich“.
Beun­ru­hi­gend war aber vor allem das Bild, das die Bun­des­wehr in die­sem sehr beschränk­ten Ernst­fall bot. Nicht genug, daß sich die Zahl der Kriegs­dienst­ver­wei­ge­run­gen im Janu­ar 1991 gegen­über dem Vor­jahr fast ver­drei­facht hat­te, es gab auch Unter­of­fi­zie­re und Offi­zie­re, die über­ra­schend bekann­ten, nie­mals mit der Betei­li­gung an einem mili­tä­ri­schen Kon­flikt gerech­net zu haben, und in einem bei Bre­mer­vör­de sta­tio­nier­ten Flug­ab­wehr­ra­ke­ten­ge­schwa­der, das in die Ost­tür­kei ver­legt wer­den soll­te, um NATO-Ver­bän­de vor ira­ki­schen Angrif­fen zu schüt­zen, berie­fen sich von 170 Sol­da­ten 29 nach­träg­lich auf ihr Gewissen.
Die Sor­ge des Aus­lands vor Deutsch­land als „neu­er Super­macht“, vor Natio­na­lis­mus und Grenz­re­vi­si­on schlug um: in Ver­ach­tung für den jam­mern­den Rie­sen, des­sen unge­bro­che­nes mora­li­sches Sen­dungs­be­wußt­sein und den Man­gel an Nor­ma­li­tät. Der neue Ton irri­tier­te sogar im ein­fluß­reichs­ten Mei­nungs­la­ger und führ­te zu Stel­lung­nah­men wie der von Hans Magnus Enzens­ber­ger, der über­ra­schen­der­wei­se zur Recht­fer­ti­gung des Krie­ges neig­te: durch die Par­al­le­li­sie­rung von Hit­ler und Sad­dam Hus­sein. Die anfangs sehr klei­ne Grup­pe der lin­ken Intel­li­genz, die Enzens­ber­ger folg­te, hat im Ver­lauf der letz­ten Jah­re zuneh­mend an Ein­fluß gewon­nen, und bereits bei der Debat­te über den Koso­vo­krieg 1999 zeig­te sich ihr Gewicht. Auf­schluß­reich war die Argu­men­ta­ti­on von Jür­gen Haber­mas, der den USA nicht nur „… die men­schen­recht­lich instru­men­tier­te Rol­le des hege­mo­nia­len Ord­nungs­ga­ran­ten“ zu Gute hielt, son­dern auch dar­auf hoff­te, daß die Kon­flik­te mit jenen Staa­ten, die „neu­ro­tisch auf ihre Iden­ti­tät pochen“, nur ein not­wen­di­ger Zwi­schen­schritt auf dem Weg zum „welt­bür­ger­li­chen Zustand“ sei. Selbst die Keh­re der Grü­nen, die nach ihrem Regie­rungs­ein­tritt mili­tä­ri­sche Inter­ven­tio­nen nicht mehr ablehn­ten, wird mit die­ser Art von Umori­en­tie­rung bes­ser erklärt, als allein durch die Annah­me von Kor­rup­ti­on qua Macht­be­sitz. Josch­ka Fischer recht­fer­tig­te den NATO-Ein­satz im ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­en so, daß jenes Deutsch­land, das wegen sei­ner Ver­gan­gen­heit eben noch an kei­ner oder wenigs­tens an kei­ner Ope­ra­ti­on auf dem Bal­kan teil­neh­men soll­te, nun unter Hin­weis auf die­sel­be Ver­gan­gen­heit zur Teil­nah­me mora­lisch gezwun­gen, um ein neu­es „Ausch­witz“ zu verhindern.

Die klas­si­sche Ana­ly­se für die­ses Umschla­gen der Argu­men­ta­ti­on hat Max Weber in sei­ner berühm­ten Rede über Poli­tik als Beruf (1919) gelie­fert. Als Bei­spiel stand ihm der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent Wood­row Wil­son vor Augen, der nach sei­ner ursprüng­li­chen Par­tei­nah­me für den Pazi­fis­mus den Kriegs­ein­tritt der USA nur legi­ti­mie­ren konn­te mit der Ver­hei­ßung, dies sei „der Krieg, der alle Krie­ge been­de“ und der die Welt „sicher für die Demo­kra­tie“ machen wer­de, und als zwei­tes Exem­pel dien­ten die deut­schen Radi­kal­so­zia­lis­ten, die ges­tern noch die Ver­tei­di­gung des Vater­lan­des sabo­tier­ten und die Inhu­ma­ni­tät des Krie­ges beschwo­ren und heu­te Krieg und Bür­ger­krieg recht­fer­tig­ten, aus denen eine neue Welt gebo­ren wer­de. Weber glaub­te, daß der inne­re Zusam­men­hang zwi­schen den so weit aus­ein­an­der lie­gen­den Posi­tio­nen begrün­det sei in der Unfä­hig­keit, „ethi­sche Irra­tio­na­li­tät“ zu ertra­gen. Abso­lu­ter Pazi­fis­mus sei aber als poli­ti­sches Kon­zept unbrauch­bar und nur als reli­giö­ses Pos­tu­lat vor­zu­stel­len. Tat­säch­lich gab und gibt es die For­de­rung nach völ­li­ger Gewalt­lo­sig­keit in ver­schie­de­nen Glau­bens­leh­ren, vor allem im Chris­ten­tum und im Bud­dhis­mus. Aller­dings war der Preis immer Ent­sa­gung, die kein Ein­wir­kung auf die Welt erhofft, denn das Ziel war per­sön­li­che Erlö­sung oder gemein­sa­me Paru­sie­er­war­tung, aber kei­nes­falls der Wunsch, die irdi­sche Ord­nung zu bessern.
Das unter­schei­det den abso­lu­ten Pazi­fis­mus von allen ande­ren denk­ba­ren Posi­tio­nen, die das Ver­hält­nis von Krieg und Frie­den poli­tisch zu bestim­men suchen, auch von dem der rela­ti­ven Pazi­fis­ten. In deren Augen ist der Krieg grund­sätz­lich als Defekt zu betrach­ten, ganz gleich­gül­tig, ob sie glau­ben, daß er in der Sünd­haf­tig­keit des Men­schen wur­ze­le, wie das die Bibel tut, oder in der Leib­lich­keit, wie Pla­ton annahm, oder in der natür­li­chen Bös­ar­tig­keit des Men­schen, wie Hob­bes mein­te. Fest steht der Krieg als Unglück und als Gefähr­dung der per­sön­li­chen wie der staat­li­chen Exis­tenz. So kri­ti­sier­te Aris­to­te­les aus­drück­lich die spar­ta­ni­sche Erzie­hung wegen ihrer ein­sei­ti­gen Aus­rich­tung an mili­tä­ri­schen Wer­ten und beton­te, daß der Krieg nur dem Schutz der Gemein­schaft die­nen soll­te und deren Gedei­hen eher hin­der­lich sei. Alle Ver­su­che, den Krieg zu „hegen“ (Carl Schmitt), ihn bloß als ulti­ma ratio regis gel­ten zu las­sen, gehö­ren in die­sen Zusam­men­hang. Aller­dings bleibt unent­schie­den, wie weit eine sol­che „Hegung“ erfolg­reich sein kann.
Unter den rela­ti­ven Pazi­fis­ten haben die meis­ten immer ange­nom­men, daß kei­ne poli­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on Krie­ge sicher ver­hin­dern kön­ne. Das mar­kiert ihre Nähe zu jeder gewöhn­lich als „bel­li­zis­tisch“ apo­stro­phier­ten Posi­ti­on. Was bei­de unter­schei­det, ist die Annah­me der Bel­li­zis­ten, daß der Krieg nicht oder nicht nur ein Defekt ist. Die Spann­wei­te der Begrün­dun­gen reicht von Hera­klits „Vater aller Din­ge“ bis zu der oft zitier­ten Äuße­rung des älte­ren Molt­ke, der ewi­ge Frie­de sei „ein Traum und nicht ein­mal ein schö­ner“. Man muß die­se For­mu­lie­rung zusam­men neh­men mit einer Erläu­te­rung, die Molt­ke hin­zu­füg­te, und in der er fest­stell­te: „Der Krieg ist ein Glied in Got­tes Welt­ord­nung. In ihm ent­fal­ten sich die edels­ten Tugen­den der Men­schen, Mut, Ent­sa­gung, Pflicht­treue, Opfer­wil­lig­keit mit Ein­set­zung des Lebens. Ohne Krieg wür­de die Welt im Mate­ria­lis­mus ver­fal­len.“ Der Krieg ist also ein schreck­li­ches Sti­mu­lans, des­sen die Men­schen bedür­fen, um ihre eigent­li­chen Qua­li­tä­ten vor Deka­denz zu bewah­ren. Die­se Auf­fas­sung dürf­te in den mili­tä­ri­schen Eli­ten der euro­päi­schen Staa­ten, aber auch in gro­ßen Tei­len der Bevöl­ke­rung, bis zum Beginn des 20. Jahr­hun­derts als nor­mal gegol­ten haben. Noch im Golf­krieg ließ ein eng­li­scher Kom­man­deur sei­ne Trup­pe vor Beginn der Boden­of­fen­si­ve antre­ten und hielt eine pathe­ti­sche Rede, die mit dem berühm­ten Gedicht If von Rudyard Kipling ende­te, das die krie­ge­ri­schen Tugen­den beschwört und des­sen letz­te Ver­se lau­ten: „Dann wird Euch die Erde gehö­ren und alles, was dar­auf lebt, / Und, was mehr bedeu­tet, ihr wer­det Män­ner sein.“

Man pflegt sol­che Anschau­un­gen heu­te als „kriegs­ver­herr­li­chend“ zu betrach­ten, muß aber im Auge behal­ten, daß der ver­brei­te­te ein gemä­ßig­ter Bel­li­zis­mus ist und deut­lich ver­schie­den von dem abso­lu­ten, des­sen Anhän­ger gewöhn­lich Prak­ti­ker des Krie­ges und illi­te­rat sind. Das erklärt ihr all­mäh­li­ches Ver­schwin­den in unse­rem Kul­tur­kreis, was aber nicht dar­über hin­weg­täu­schen darf, daß der abso­lu­te Bel­li­zist, der Krieg­füh­ren als selbst­ver­ständ­li­chen Aus­druck des Mensch­seins betrach­tet, in der Ver­gan­gen­heit ein ver­brei­te­tes Phä­no­men war. Wie der abso­lu­te Pazi­fis­mus ist auch der abso­lu­te Bel­li­zis­mus eigent­lich unpo­li­tisch, beruht auf der Lust am Töten, die ohne Gewis­sens­qua­len aus­ge­lebt wird. Des­halb erscheint er am Ende des euro­päi­schen Zivi­li­sa­ti­ons­pro­zes­ses so unge­heu­er­lich, und schon Clau­se­witz reagier­te, als er in rus­si­schem Dienst stand, mit Wider­wil­len auf die unrit­ter­li­che und bar­ba­ri­sche, aber effek­ti­ve Kampf­wei­se kosa­ki­scher Ein­hei­ten, die das flie­hen­de napo­leo­ni­sche Heer im Wort­sin­ne „abschlach­te­ten“. Von Dschin­gis Khan wird berich­tet, daß er zu einem Waf­fen­ge­fähr­ten sag­te: „Das größ­te Glück des Man­nes besteht dar­in, sei­nen Feind zu het­zen und zu besie­gen, des­sen gesam­ten Besitz an sich zu brin­gen, sei­ne Ehe­frau­en jam­mern und kla­gen zu las­sen, sei­nen Wal­lach zu rei­ten und den Kör­per sei­ner Wei­ber als Nacht­ge­wand und Unter­la­ge zu benutzen.“
Wenn man dem abso­lu­ten Bel­li­zis­mus man­geln­den Bezug zum Poli­ti­schen vor­wer­fen kann, so weist er doch hin auf die anthro­po­lo­gi­sche Dimen­si­on des Krie­ges. Die Fra­ge danach, war­um Men­schen Krieg füh­ren, wur­de in jüngs­ter Zeit regel­mä­ßig über­gan­gen. Wer glaub­te, daß der Krieg „nur eine Erfin­dung“ (Mar­ga­ret Mead) sei, das Ergeb­nis von Vor­ur­tei­len, öko­no­mi­schen oder ande­ren Inter­es­sen, der konn­te auch hof­fen, daß sich die­se Ursa­chen im bes­ten Fall durch Infor­ma­ti­on und Dis­kurs besei­ti­gen lie­ßen. Im Hin­ter­grund wirk­ten dabei Vor­stel­lun­gen von einer fried­li­chen Urzeit nach, wie sie seit der Auf­klä­rung ver­brei­tet waren, die oft einen per­fek­ten Natur­zu­stand pos­tu­lier­te, der dann durch die kul­tu­rel­le Ent­wick­lung ver­dor­ben wor­den war und so auch den Krieg her­vor­ge­bracht hat­te. Rous­se­au etwa mein­te, daß erst die Gesel­lung der Ein­zel­nen die Anwen­dung von Gewalt sinn­voll erschei­nen ließ, um sich in den Besitz von Gütern oder ande­ren Men­schen zu brin­gen, wes­halb das Eigen­tum auf „Dieb­stahl“ beru­he und der Krieg auf der Über­tra­gung jener Zwangs­me­tho­den, die schon im Ein­zel­fall erfolg­reich gewe­sen waren, auf die Unter­wer­fung ande­rer Gemeinschaften.
Es hat gegen die­se Art der Argu­men­ta­ti­on von Anfang an Wider­spruch gege­ben, die nicht nur auf die Unwahr­schein­lich­keit der ursprüng­li­chen Ver­ein­ze­lung abhob, son­dern auch die Fried­fer­tig­keit des frü­hen Men­schen in Fra­ge stell­te. Seit der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts bezog die skep­ti­sche Anthro­po­lo­gie ihre Argu­men­te aller­dings nur noch zum Teil aus der reli­giö­sen oder phi­lo­so­phi­schen Tra­di­ti­on. Die Vor­stel­lung, daß das Dasein vom Kampf bestimmt wer­de, erhielt durch die Leh­re Dar­wins vom strugg­le for life, der nicht nur die natür­li­che Selek­ti­on, son­dern auch die Geschich­te des Men­schen bestim­me, eine ganz neue Plau­si­bi­li­tät. Des­halb neig­ten aber nicht alle Sozi­al­dar­wi­nis­ten zur Recht­fer­ti­gung des Krie­ges, der offen­kun­dig gera­de die tüch­tigs­ten Indi­vi­du­en ver­nich­te­te. All­ge­mein war nur die Anschau­ung von sei­ner Unvermeidbarkeit.
In die­ser Hin­sicht besteht eine gro­ße Über­ein­stim­mung zwi­schen dem älte­ren Dar­wi­nis­mus und neue­ren Vor­stel­lun­gen, wie sie vor allem die Ver­hal­tens­for­schung ent­wi­ckelt hat. Epo­che­ma­chend war die The­se von Kon­rad Lorenz, daß der Mensch ganz wesent­lich von einem „Aggres­si­ons­trieb“ beherrscht wer­de, der sei­nen Auf­stieg im Rah­men der Evo­lu­ti­on erklä­re, aber durch kei­ne bio­lo­gisch ver­an­ker­te „Tötungs­hem­mung“ gegen­über ande­ren Men­schen kon­trol­liert wer­de. Die Hef­tig­keit der „inner­art­li­chen Aggres­si­on“ erklä­re sich aus der Tat­sa­che, daß der Mensch kaum natür­li­che Waf­fen – Zäh­ne, Klau­en etc. – besit­ze, deren Vor­han­den­sein bei Raub­tie­ren regel­mä­ßig ein Ensem­ble von Ver­hal­tens­wei­sen erzeu­ge – etwa beim Wolf, der gegen­über dem stär­ke­ren Rudel­mit­glied die Keh­le weist –, das die Tötung des Art­ge­nos­sen ver­hin­dert. Nach­dem sich der Mensch eine künst­li­che Bewaff­nung aneig­ne­te, konn­te das Feh­len von Signa­len, die eine Angriffs­ab­sicht blo­ckie­ren, furcht­ba­re Fol­gen haben.

Die­se Theo­rie wur­de von ande­ren Bio­lo­gen immer wie­der kri­ti­siert, die die aus­schlag­ge­ben­de Rol­le des Art­be­zugs von Ver­hal­tens­wei­sen in Fra­ge stell­ten. Infol­ge wei­te­rer Unter­su­chun­gen hat man tat­säch­lich nach­wei­sen kön­nen, daß Tie­re „inner­art­li­che Aggres­si­on“ und damit ver­bun­de­ne Tötungs­ab­sicht ken­nen. So beob­ach­te­te Jane Goo­dall Mit­te der sieb­zi­ger Jah­re, daß auch Schim­pan­sen­grup­pen „Krie­ge“ gegen­ein­an­der führ­ten: Grenz­ge­plän­kel, über­fall­ar­ti­ge Angrif­fe auf die Nach­barn, Frau­en­raub und dann orga­ni­sier­te Aggres­si­on, Ver­nich­tung des Geg­ners und impe­ria­le Aus­deh­nung des eige­nen Ter­ri­to­ri­ums, ohne daß dabei ein unmit­tel­ba­rer Nut­zen etwa im Hin­blick auf ver­mehr­te Nah­rungs­quel­len erkenn­bar sein muß­te. Goo­dalls Schluß­fol­ge­run­gen waren aller­dings denen von Lorenz sehr ähn­lich: „Was mich betrifft, so habe ich nicht den min­des­ten Zwei­fel dar­an, daß wir Men­schen mit einem ange­bo­re­nen Hang zur Aggres­si­vi­tät zur Welt kom­men, daß wir es – eben­so wie Schim­pan­sen oder ande­re sozi­al leben­de Säu­ge­tie­re – als erre­gend emp­fin­den, aggres­si­ves Ver­hal­ten bei ande­ren zu beob­ach­ten, und daß wir aggres­si­ve Ver­hal­tens­mus­ter leicht annehmen.“
Auch wenn man im Ver­hal­ten ande­rer Pri­ma­ten etwas von dem erken­nen kann, was den Men­schen kampf­be­reit und kampf­lus­tig macht, es ist damit die Fra­ge nach der Ent­ste­hung des „Urkriegs“ (Karl Weu­le) noch nicht hin­rei­chend geklärt. Eine plau­si­ble Ant­wort wird man wahr­schein­lich in der Ähn­lich­keit von Jagd und Krieg fin­den kön­nen. In bei­den Fäl­len wur­den die­sel­ben Waf­fen benutzt, bis in his­to­ri­sche Zeit galt die Jagd als Kriegs­übung, hier wie dort spiel­te neben dem prak­ti­schen Zweck des Beu­te­ma­chens das Blut­ver­gie­ßen selbst und der Erwerb von Tro­phä­en eine gro­ße Rol­le, bei­de Phä­no­me­ne hat­ten außer­dem zu tun mit der sozia­len Intel­li­genz des Men­schen, die es ihm ermög­lich­te, grö­ße­re Grup­pen zu bil­den, die gemein­sam pla­nen und koope­rie­ren und dabei Gewalt als wirk­sa­mes Mit­tel ein­set­zen konn­ten. Im Hin­blick auf das Aus­ster­ben der Nean­der­ta­ler wird seit eini­ger Zeit die The­se ver­tre­ten, daß die­se im Ver­lauf eines „Krie­ges“ gegen den Jetzt­men­schen dezi­miert und viel­leicht sogar aus­ge­rot­tet wur­den. Obwohl bei­de Grup­pen am Anfang des Kon­flikts über ähn­li­che Tech­no­lo­gien ver­füg­ten, sieg­te Homo sapi­ens sapi­ens, weil sei­ne Orga­ni­sa­ti­on dif­fe­ren­zier­ter und sei­ne kom­mu­ni­ka­ti­ve Fähig­keit wei­ter ent­wi­ckelt war. Die soge­nann­te Paläo­li­thi­sche Revo­lu­ti­on, die sich vor allem an der Ver­bes­se­rung der Waf­fen able­sen läßt, war Fol­ge die­ser Kom­pe­ten­zen und eines „Rüs­tungs­wett­laufs“, den der heu­ti­ge Mensch gewann. Die Ähn­lich­keit von Jagd und Krieg erklärt viel­leicht auch, war­um sich mensch­li­che Gemein­schaf­ten häu­fig mit (in Rudeln auf­tre­ten­den) Raub­tie­ren iden­ti­fi­zier­ten. Ent­spre­chen­de „Totems“ blie­ben selbst dann noch erhal­ten, wenn die älte­re Lebens­wei­se als Jäger ver­schwand, aber der Krie­ger wei­ter gro­ßes Anse­hen genoß.
Selbst­ver­ständ­lich war es ein wei­ter Weg von dem archai­schen Jagd­krieg bis zu den außer­ge­wöhn­li­chen orga­ni­sa­to­ri­schen Leis­tun­gen, die zuerst die Sume­rer erbrach­ten, um etwas wie eine Armee zu for­mie­ren, die aus pro­fes­sio­nel­len Kämp­fern bestand und über die Res­sour­cen eines gro­ßen, poli­tisch geein­ten Ter­ri­to­ri­ums ver­füg­te. Rela­tiv jung sind auch alle Ver­knüp­fun­gen des Krie­ges mit sitt­li­chen Prin­zi­pi­en. Der Eth­no­lo­ge Wil­helm Mühl­mann kam zu dem Schluß, daß der „pri­mi­ti­ven Kriegs­füh­rung die Idee des Mutes wohl ursprüng­lich durch­gän­gig“ fehl­te. Ähn­li­ches gilt für die Begren­zung und Ritua­li­sie­rung des Kamp­fes, und erst in der Neu­zeit ent­stand ein Ver­hal­tens­ko­dex, der die übels­ten Begleit­erschei­nun­gen des Krie­ges mil­dern, wenn schon nicht besei­ti­gen konn­te. Die­ser Kodex galt indes nur für inner­eu­ro­päi­sche Kon­flik­te und nicht für die Bekämp­fung von Afri­ka­nern, Asia­ten, Aus­tra­li­ern oder von Urein­woh­nern der bei­den Ame­ri­ka. In unse­rem Zusam­men­hang ist jedoch ent­schei­den­der, daß bereits im Ers­ten und erst recht im Zwei­ten Welt­krieg sogar die beschränk­ten Ver­su­che, den Krieg zu „hegen“, scheiterten.

Man hat für die­sen Sach­ver­halt ver­schie­de­ne Ursa­chen ange­ge­ben: von der Ideo­lo­gi­sie­rung des Kamp­fes und der Auf­bie­tung von Mas­sen­hee­ren aus Wehr­pflich­ti­gen im Gefol­ge der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on über die Metho­den, mit denen der Ame­ri­ka­ni­sche Bür­ger­krieg geführt wur­de, bis hin zu den Kon­zep­ten eines „tota­len Kriegs“ wie sie zwi­schen 1914 und 1918 ent­stan­den. Auch die Wei­ter­ent­wick­lung des inter­na­tio­na­len Rechts und die mora­li­sche Äch­tung von Gewalt haben die­sen Pro­zeß der Rebar­ba­ri­sie­rung nicht auf­hal­ten kön­nen. Die prin­zi­pi­el­le Ver­wer­fung scheint viel­mehr eine Art Ent­frem­dung von der Wirk­lich­keit des Krie­ges zur Fol­ge zu haben, die auch die Ein­sicht in die Mög­lich­kei­ten der Zäh­mung zer­setzt. Als am 29. März 1971 ein ame­ri­ka­ni­sches Mili­tär­ge­richt den Leut­nant Wil­liam Cal­ley wegen vor­sätz­li­chen Mor­des an min­des­tens 22 Zivi­lis­ten in My Lai wäh­rend des Viet­nam­krie­ges zu lebens­lan­ger Zwangs­ar­beit ver­ur­teil­te, kam es in der Bevöl­ke­rung zu einem Sturm der Ent­rüs­tung. Eine neue­re Unter­su­chung von etwa tau­send Brie­fen, die damals an das US-Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um gin­gen, ergab, daß mehr als acht­zig Pro­zent der Absen­der – dar­un­ter vie­le Kriegs­teil­neh­mer und Vete­ra­nen – ihr Unver­ständ­nis für die Ent­schei­dung äußer­ten und die Mei­nung ver­tra­ten, daß es auf dem Schlacht­feld kei­ne Regeln gebe, der Sol­dat außer­halb der Rechts­ord­nung ste­he und inso­fern auch nicht für Ver­bre­chen belangt wer­den könne.
Wahr­schein­lich ist die­se Auf­fas­sung der Zukunft des Krie­ges adäqua­ter, als die „klas­si­sche“, die an der Regu­lier­bar­keit des Kon­flikts durch den Frie­dens­schluß, die Unter­schei­dung von Kom­bat­tant und Nicht­kom­bat­tant, ein gewis­ses Maß an Rit­ter­lich­keit und „Spiel­re­geln“ fest­hielt. Die wach­sen­de Ver­brei­tung von Gewalt­ta­ten, die nur aus Haß gesche­hen, bestimm­te Züge des moder­nen Ter­ro­ris­mus und der low inten­si­ty wars zei­gen schon jetzt ein schreck­li­ches Gesicht des Krie­ges und müs­sen viel­leicht ver­stan­den wer­den als Vor­zei­chen für die Rück­kehr jener „ältes­ten Fest­freu­de“ (Fried­rich Nietz­sche) des Men­schen: der Grau­sam­keit. Der abso­lu­te Bel­li­zis­mus, den der Wes­ten schon tot geglaubt hat­te, könn­te sich als über­ra­schend vital erweisen.
Sol­che Pro­gno­sen wer­den nicht gern gehört. Wer auf die unver­än­dert krie­ge­ri­sche Natur des Men­schen Bezug nimmt, muß erle­ben, daß damit in der öffent­li­chen Dis­kus­si­on eine Gren­ze über­schrit­ten ist. Vor allem in Deutsch­land wird gegen jeden Ver­such, die anthro­po­lo­gi­sche Dimen­si­on des Krie­ges zur Spra­che zu brin­gen, noto­risch der Vor­wurf erho­ben, man wol­le zwi­schen­staat­li­che Kon­flik­te durch „Schim­pan­sen­mo­ral“ (Ruth Groh) recht­fer­ti­gen. Es wäre zuerst zu erwi­dern, daß eine Erklä­rung nicht oder nicht immer als Recht­fer­ti­gung zu ver­ste­hen ist. Aber die­ser Ein­wand dürf­te kaum ver­fan­gen. Also bleibt abzu­war­ten, bis die ver­än­der­te Lage den letz­ten eines Schlech­te­ren belehrt.

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