Eine reine Revolte. Nachbemerkung zum 17. Juni 1953

pdf der Druckfassung aus Sezession 2 / Juli 2003

sez_nr_2von Karlheinz Weißmann

Wahrscheinlich wurde in diesem Jahr das letzte Mal mit solcher Intensität an die Ereignisse des 17. Juni 1953 erinnert. Daß die meisten Teilnehmer und Zeitzeugen schon betagt oder verstorben sind, ist dabei von geringer Bedeutung. Den Ausschlag gibt, daß der 17. Juni keinen Platz mehr im Kollektivgedächtnis der Deutschen hat. Er ist einer besonderen Art von „Historisierung“ zum Opfer gefallen, einem Prozeß, der mit der Entwertung des 17. Juni als „Tag der deutschen Einheit“ begann.

Gera­de weil die west­deut­sche Regie­rung und maß­ge­ben­de gesell­schaft­li­che Kräf­te, vor allem die Gewerk­schaf­ten, das akti­ve Ein­grei­fen in die mit­tel­deut­sche Auf­stands­be­we­gung für unver­ant­wort­lich gehal­ten hat­ten, gab es nach dem Schei­tern der Erhe­bung einen brei­ten Kon­sens über deren Bedeu­tung. Das gilt, obwohl die Akzen­te ver­schie­den gesetzt wur­den. Wäh­rend die Bür­ger­li­chen den Cha­rak­ter des Volks­auf­stands her­vor­ho­ben, ver­such­te die SPD, die Revol­te als Sache der Arbei­ter zu rekla­mie­ren und die Lin­ke als Wah­re­rin der natio­na­len Inter­es­sen dar­zu­stel­len. Immer­hin war es Her­bert Weh­ner, der als Mit­glied des Gesamt­deut­schen Aus­schus­ses im Bun­des­tag die Bezeich­nung „Tag der deut­schen Ein­heit“ vor­schlug, und bis in die sech­zi­ger Jah­re unter­stütz­ten Sozi­al­de­mo­kra­ten und DGB die ein­drucks­vol­len Demons­tra­tio­nen zum 17. Juni, die aus­drück­lich das Ziel hat­ten, den Gedan­ken der Wie­der­ver­ei­ni­gung wachzuhalten.

Das änder­te sich nach­hal­tig bei Regie­rungs­über­nah­me der sozi­al­li­be­ra­len Koali­ti­on. Denn die „Neue Ost­po­li­tik“ des Kabi­netts Brandt-Scheel, die anfangs noch mit einer pro­non­ciert natio­na­len Ziel­set­zung ver­tei­digt wor­den war, wur­de bald ganz an der Déten­te der Super­mäch­te aus­ge­rich­tet. Die Ent­span­nung, die die Ver­ei­nig­ten Staa­ten und die Sowjet­uni­on anstreb­ten, soll­te aber vor allem dazu die­nen, deren Macht­be­rei­che zu sichern, was nur um den Preis der Spal­tung Deutsch­lands mög­lich war. Ein Gesichts­punkt, der die Deut­schen selbst je län­ger je weni­ger beun­ru­hig­te. Sie wünsch­ten den Ver­hei­ßun­gen Glau­ben zu schen­ken, die ein neu­es Zeit­al­ter in Aus­sicht stell­ten, das den Fort­schritt der Mensch­heit durch Gewalt­ver­zicht und Kol­lek­ti­ve Sicher­heit beför­dern würde.

Die Nei­gung, Ent­span­nungs­po­li­tik mit Illu­sio­nen über den Sowjet­block, die dort herr­schen­den Regime und ihre mili­tä­ri­schen Absich­ten zu ver­knüp­fen, ließ bis dahin von allen Par­tei­en der Bun­des­re­pu­blik akzep­tier­te deutsch­land­po­li­ti­sche Posi­tio­nen als „ent­span­nungs­feind­lich“ und inso­fern ver­werf­lich erschei­nen. Dazu gehör­te zwangs­läu­fig der Umgang mit dem 17. Juni, denn jeder Bezug düpier­te die DDR-Füh­rung und muß­te dar­an erin­nern, daß gera­de die Sozi­al­de­mo­kra­tie lan­ge Zeit auf eine Wie­der­ho­lung des Auf­stands (mit Hil­fe ihres „Ost­bü­ros“) gesetzt hat­te. Die Pri­va­ti­sie­rung des Fei­er­tags in der Kon­sum­ge­sell­schaft der sech­zi­ger Jah­re – die Nei­gung, sich „aus Anlaß des ver­geb­li­chen Ster­bens ande­rer … einen guten Tag“ (Wal­de­mar Bes­son) zu machen – erklärt den Bedeu­tungs­ver­lust des 17. Juni also nur zum Teil. Ent­schei­den­der war die gewoll­te Dele­gi­ti­ma­ti­on. Als 1978 aus Anlaß des fünf­und­zwan­zigs­ten Jah­res­tags Teil­neh­mer des Auf­stands zu Wort kamen, fand sich dar­un­ter auch Horst Bal­len­tin, der als jun­ger Arbei­ter mit­ge­hol­fen hat­te, die rote Fah­ne vom Bran­den­bur­ger Tor her­ab­zu­rei­ßen. Ange­sichts der Ein­stel­lung vie­ler West­deut­scher zu den dama­li­gen Ereig­nis­sen sag­te er: „Nie­mals wür­de ich noch­mals die Fah­ne her­un­ter­ho­len. Für wen?“

Seit dem Beginn der acht­zi­ger Jah­re wuchs die Zahl der Ver­su­che, den 17. Juni als „Tag der deut­schen Ein­heit“ voll­stän­dig zu besei­ti­gen. In den Begrün­dun­gen fand sich neben dem obli­ga­to­ri­schen Hin­weis auf das Des­in­ter­es­se der Bevöl­ke­rung eine Mischung aus der „Tag X“-Theorie wie sie die SED ver­trat (West­agen­ten und Lum­pen­pro­le­ta­ri­at hat­ten die Erhe­bung insze­niert und die Mas­sen ver­führt), der Leug­nung der natio­na­len Zie­le des Auf­stands und dem offe­nen Ver­lan­gen, jeden Gedan­ken an die Ein­heit auf­zu­ge­ben. So plä­dier­te der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Jus­tiz­mi­nis­ter Jür­gen Schmu­de 1982 offen für die Erset­zung durch einen „Ver­fas­sungs­tag“, und noch am 15. Juni 1989 trat der Bun­des­vor­stand der Grü­nen mit der For­de­rung an die Öffent­lich­keit, „… den 17. Juni im Wes­ten als Fei­er­tag abzu­schaf­fen“, der „pro­pa­gan­dis­tisch aus­ge­schlach­tet und für anti­kom­mu­nis­ti­sche Zwe­cke miß­braucht“ wor­den sei. Nur mit Mühe konn­te der Boy­kott der Fei­er­stun­de des Bun­des­tags durch die Grü­nen-Frak­ti­on abge­wen­det werden.

Die unmit­tel­bar fol­gen­den Ereig­nis­se haben die Lini­en der Ent­wick­lung völ­lig ver­än­dert. Wer als Bun­des­bür­ger nach der Öff­nung der Mau­er mit Men­schen aus der DDR sprach, muß­te den Ein­druck gewin­nen, daß es in Mit­tel­deutsch­land – gegen den ängst­lich gewahr­ten Anschein – sehr wohl eine Erin­ne­rung an den 17. Juni gege­ben hat­te. Regel­mä­ßig wur­de die Sor­ge laut, daß sich die Ereig­nis­se wie­der­ho­len und erneut sowje­ti­sche Pan­zer rol­len könn­ten und der Wes­ten taten­los bei­sei­te ste­hen wür­de. Daß es dazu nicht kam, gehört zu den weni­gen Glücks­mo­men­ten der neue­ren deut­schen Geschich­te. Aller­dings hat es die­ses Glücks­mo­ment – mehr noch als die Auf­he­bung des 17. Juni als Natio­nal­fei­er­tag unmit­tel­bar nach dem Voll­zug der Ein­heit – den Deut­schen schwer gemacht, den anti­kom­mu­nis­ti­schen Wider­stand und mit ihm den 17. Juni über­haupt ange­mes­sen zu beurteilen.

In einer wei­te­ren Per­spek­ti­ve erscheint die mit­tel­deut­sche Revol­te als Fanal einer Auf­stands­be­we­gung, die vom Tod Sta­lins aus­ge­löst wor­den war und nicht nur von klei­ne­ren Streiks und Demons­tra­tio­nen in der Tsche­cho­slo­wa­kei beglei­tet wur­de, son­dern schon am 24. Mai 1953 mit einer Gefan­ge­nen­re­vol­te im sibi­ri­schen Lager Norylsk begon­nen hat­te und zur Ent­ste­hung einer regel­rech­ten „Kat­or­gan-Armee“ (nach dem rus­si­schen Wort kat­or­gan für Ket­ten­häft­ling) im Gulag führ­te, die von so-wje­ti­schen Trup­pen erst 1954 mit bru­ta­len Mit­teln nie­der­ge­kämpft wer­den konn­te. Die Erhe­bun­gen hat­ten nie­mals nur eine Ver­bes­se­rung der Haft­be­din­gun­gen zum Ziel, son­dern immer eine prin­zi­pi­el­le Stoß­rich­tung: „Nie­der mit der Skla­ve­rei! Tod dem Kom­mu­nis­mus! Tod den mos­ko­wi­ti­schen Henkern!“

Die Geschich­te des Sowjet­blocks in den vier­zi­ger und fünf­zi­ger Jah­ren war auch die Geschich­te einer dau­ern­den, wenn­gleich unko­or­di­nier­ten Resis­tance gegen die Unter­drü­ckung, die ihren sicht­bars­ten Aus­druck in der pol­ni­schen Arbei­te­r­erhe­bung und der unga­ri­schen „Volks­re­vo­lu­ti­on“ von 1956, zuerst aber im Auf­stand des 17. Juni fand. Für die ande­ren Natio­nen, die unter sowje­ti­scher Herr­schaft gelit­ten haben, sind die­se Ereig­nis­se selbst­ver­ständ­lich Gegen­stand ehren­vol­ler Erin­ne­rung. Daß der Wider­stand erfolg­los war und in man­cher Hin­sicht zur Sta­bi­li­sie­rung des Ost­blocks bei­trug, tut dem kei­nen Abbruch. Nur die Deut­schen haben Mühe, den Wert die­ser „rei­nen Revol­te“ (Gün­ther Zehm) anzuerkennen.

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