Herausforderung Soziobiologie

pdf der Druckfassung aus Sezession 28 / Februar 2009

von Andreas Vonderach

Noch zu Lebzeiten von Konrad Lorenz wurde die Verhaltensforschung, wie er sie betrieben hatte, durch eine neue, spektakuläre Theorie herausgefordert, die Soziobiologie.

Die grenzt sich bewußt von der klas­si­schen Ver­hal­tens­for­schung ab und stellt zen­tra­le Annah­men von Kon­rad Lorenz in Frage.

Die Sozio­bio­lo­gie besteht in der kon­se­quen­ten Anwen­dung des Dar­win­schen Modells der Evo­lu­ti­on auf das Sozi­al­ver­hal­ten von Tie­ren und Men­schen. Ihre Ursprün­ge lie­gen in den sech­zi­ger Jah­ren in Groß­bri­tan­ni­en und den USA. Den Durch­bruch bedeu­te­te das 1975 erschie­ne­ne Buch Socio­bio­lo­gy: The New Syn­the­sis, des an der renom­mier­ten Har­vard Uni­ver­si­tät leh­ren­den Amei­sen­spe­zia­lis­ten Edward O. Wil­son (geb. 1929). Die Sozio­bio­lo­gie hat seit­dem welt­weit Aner­ken­nung gefun­den und sich an zahl­rei­chen Uni­ver­si­tä­ten als For­schungs­rich­tung mit eige­nen Lehr­stüh­len eta­bliert, ist aber auch nach wie vor sehr umstrit­ten. Das gilt ins­be­son­de­re für die Human­so­zio­bio­lo­gie, das heißt für die Unter­su­chung der Fra­ge, inwie­weit die Model­le der Sozio­bio­lo­gie auch für die Erklä­rung des mensch­li­chen Ver­hal­tens her­an­ge­zo­gen wer­den können.
Die Sozio­bio­lo­gie geht von fol­gen­den Grund­an­nah­men aus: 1. Die Ange­hö­ri­gen einer Popu­la­ti­on pflan­zen sich mit unter­schied­lich gro­ßer Nach­kom­men­schaft fort, 2. die Indi­vi­du­en unter­schei­den sich in ihrer gene­ti­schen Aus­stat­tung, 3. das Ver­hal­ten der Indi­vi­du­en ist zumin­dest teil­wei­se gene­tisch beein­flußt, und schließ­lich 4. die für die Fort­pflan­zung not­wen­di­gen Res­sour­cen sind nur begrenzt vor­han­den. Sol­che Res­sour­cen sind zum Bei­spiel Nah­rung, Brut­plät­ze, Geschlechts­part­ner, elter­li­che Für­sor­ge und sozia­le Unter­stüt­zung durch ande­re. Aus die­sen Vor­aus­set­zun­gen resul­tiert die Kon­kur­renz unter den Mit­glie­dern einer Popu­la­ti­on: Eini­ge Indi­vi­du­en ver­mö­gen auf­grund ihrer Eigen­schaf­ten die Res­sour­cen für sich bes­ser zu erschlie­ßen und in Fort­pflan­zungs­er­folg, im sozio­bio­lo gischen Jar­gon Fit­neß genannt, umzu­set­zen als ande­re. Das Ergeb­nis ist, daß Gene, die ihre Trä­ger bes­ser für die Kon­kur­renz aus­ge­stat­tet haben, in der Popu­la­ti­on zuneh­men. Die­ser Vor­gang wird in der Evo­lu­ti­ons­bio­lo­gie »Anpas­sung«, und sein Ergeb­nis »Ange­paßt­heit« genannt. Unse­re heu­ti­gen Eigen­schaf­ten sind nach die­ser Auf­fas­sung das Ergeb­nis von Opti­mie­rungs­pro­zes­sen in der Ver­gan­gen­heit, in denen sie sich repro­duk­tiv durch­set­zen konnten.
Das zen­tra­le Para­dig­ma der Sozio­bio­lo­gie ist das von der »Gen­zen­triert­heit« der Selek­ti­on. Die Selek­ti­on setzt zwar am Phä­no­typ der Indi­vi­du­en an, die eigent­li­che Ebe­ne der bio­lo­gi­schen Anpas­sungs­vor­gän­ge ist aber das Gen, nicht das Indi­vi­du­um und auch nicht die Popu­la­ti­on oder die Art. Nur in den Genen ist die stam­mes­ge­schicht­li­che Erfah­rung gene­ra­tio­nen­über­grei­fend gespei­chert. Aller­dings sind die Gene der Sozio­bio­lo­gie weit­ge­hend hypo­the­tisch. Es dürf­te sich auch weni­ger um ein­zel­ne DNS-Sequen­zen, als viel­mehr um das Zusam­men­spiel meh­re­rer Gene han­deln, die das Ver­hal­ten beein­flus­sen. Die­se »Gene« sind die ten­den­zi­ell unsterb­li­chen »Repli­ka­to­ren«, die sich unend­lich oft repro­du­zie­ren kön­nen, wäh­rend die Indi­vi­du­en, also auch wir, nur ihre zeit­wei­li­gen Vehi­kel sind, die den Zweck haben, ein opti­ma­les Medi­um zur Repli­ka­ti­on der Gene zu sein. Nicht um das Wohl­erge­hen der Indi­vi­du­en geht es in der Evo­lu­ti­on, son­dern um das Über­le­ben der Gene.

Das Ver­hal­ten von Tie­ren und Men­schen läßt sich nach der Vor­stel­lung der Sozio­bio­lo­gie auf zwei unter­schied­li­chen Ebe­nen erklä­ren. Auf der »ulti­ma­ten«, letzt­lich aus­schlag­ge­ben­den Ebe­ne, ist immer die »Fit­neß­ma­xi­mie­rung « das Ziel, das heißt das Über­le­ben und die maxi­ma­le Ver­brei­tung der eige­nen Gene. Sie erklärt, wie­so ein Ver­hal­ten evo­lu­ie­ren konn­te bezie­hungs­wei­se wel­chen Fit­neß­vor­teil es hat­te und gege­be­nen­falls immer noch hat. Das heißt, das unbe­wuß­te Gene­ral­ziel des tie­ri­schen und mensch­li­chen Ver­hal­tens ist immer die Maxi­mie­rung der Gesamt­fit­neß. Die ande­re, »pro­xi­ma­te« Ebe­ne, das sind die phy­sio­lo­gi­schen Regel­me­cha­nis­men, wie die Aus­lö­se­me­cha­nis­men für ein Balz­ver­hal­ten oder die Hor­mo­ne, die die Bedürf­nis­se steu­ern, etwa nach Nah­rung, Zuwen­dung oder Sex. Beim Men­schen gehö­ren zur pro­xi­ma­ten Ebe­ne auch die gesell­schaft­li­chen Nor­men und das kul­tu­rel­le Milieu, Sozia­li­sa­ti­ons­er­fah­run­gen, öko­no­mi­schen Inter­es­sen und über­haupt alle bewuß­ten Vor­stel­lun­gen und Handlungsmotive.
Im Mit­tel­punkt der sozio­bio­lo­gi­schen Theo­rie steht das Kon­zept der Ver­wand­ten­se­lek­ti­on. Aus­gangs­punkt war das Pro­blem des Altru­is­mus. Wie kann man es erklä­ren, wenn zum Bei­spiel ein Tier durch sei­nen Warn­ruf sei­ne Art­ge­nos­sen vor einem gefähr­li­chen Räu­ber warnt, wodurch die sich in Sicher­heit brin­gen kön­nen, es aber des­sen Auf­merk­sam­keit dadurch auf sich selbst zieht? Die Sozio­bio­lo­gie erklärt sol­chen phä­no­ty­pi­schen Altru­is­mus mit dem Kon­zept der Ver­wand­ten­se­lek­ti­on: Die beinhal­tet, daß sich altru­is­ti­sches Ver­hal­ten dann gene­tisch behaup­ten kann, wenn der Altru­ist durch sein Ver­hal­ten die Repro­duk­ti­ons­chan­cen sei­ner Bluts­ver­wand­ten erhöht. Vor­aus­set­zung ist, daß die soge­nann­te Hamil­ton-Unglei­chung erfüllt ist: K < r x N. Die Kos­ten (K) für den Altru­is­ten müs­sen gerin­ger sein als der Nut­zen (N), den der oder die Nutz­nie­ßer des altru­is­ti­schen Ver­hal­tens haben, gewich­tet mit des­sen bezie­hungs­wei­se deren Ver­wandt­schaft zu dem Altruisten.
Der Grad der Ver­wandt­schaft wird durch den Ver­wandt­schafts­ko­ef­fi­zi­en­ten ® aus­ge­drückt. Der ist ein Maß für die gemein­sa­men Gene, die zwei Indi­vi­du­en haben, bezo­gen auf die Varia­bi­li­tät einer Popu­la­ti­on (die etwa 99 Pro­zent der Gene, die alle Men­schen gemein­sam haben, inter­es­sie­ren hier­für nicht). Ein Indi­vi­du­um hat zu sich selbst einen Ver­wandt­schafts­ko­ef­fi­zi­en­ten von 1 und zwei nicht ver­wand­te Men­schen einen von 0. Eltern und Kin­der bzw. Geschwis­ter haben die Hälf­te ihrer Gene gemein­sam (r = 0,5), Groß­el­tern und Enkel und Onkel und Nef­fen 25 Pro­zent (r = 0,25) und Groß­el­tern und Uren­kel und Vet­tern 12,5 Pro­zent (r = 0,125). So kommt zu der direk­ten Fort­pflan­zung eines Indi­vi­du­ums (direk­te Fit­neß) noch der indi­rek­te Fort­pflan­zungs­er­folg durch sei­ne Ver­wand­ten (indi­rek­te Fit­neß) hin­zu. Erst bei­des zusam­men bil­det den wirk­li­chen Fort­pflan­zungs­er­folg eines Indi­vi­du­ums, die »Gesamt­fit­neß«. Pla­ka­tiv gespro­chen besagt die Hamil­ton-Unglei­chung, daß es sich gene­tisch »lohnt«, sich selbst zu opfern (K = 1), um zum Bei­spiel drei sei­ner Kin­der (N = 3 x 0,5) oder fünf sei­ner Nef­fen (N = 5 x 0,25) zu retten.

Neben die­sem nepo­tis­ti­schen Altru­is­mus gibt es auch noch den Altru­is­mus auf Gegen­sei­tig­keit, den rezi­pro­ken Altru­is­mus. Bei die­sem unter­stüt­zen sich nicht­ver­wand­te Indi­vi­du­en, wenn sie davon aus­ge­hen kön­nen, daß der ande­re sich bei Gele­gen­heit erkennt­lich zei­gen wird. Ange­bo­re­ne Ver­hal­tens­mus­ter sor­gen dafür, daß das Ver­hal­ten der ande­ren Grup­pen­mit­glie­der beob­ach­tet und »Betrü­ger« gemie­den wer­den. Aller­dings zei­gen Unter­su­chun­gen, daß auch hier­bei die gegen­sei­ti­ge Unter­stüt­zung umso wahr­schein­li­cher ist, je enger Geber und Neh­mer mit­ein­an­der ver­wandt sind.
Es ist den Sozio­bio­lo­gen mit ihren Modell­rech­nun­gen gelun­gen, Ver­hal­tens­wei­sen zu erklä­ren, denen die klas­si­sche Ver­hal­tens­for­schung mit Unver­ständ­nis gegen­über­stand. Dazu gehört zum Bei­spiel die Tötung von Art­ge­nos­sen, etwa der Kin­der von Riva­len oder von Grup­pen­frem­den. Auch der sozia­le Wett­be­werb steht dem­nach im Diens­te der Fit­neß­ma­xi­mie­rung. Alpha-Tie­re und Männ­chen, die ihre Kon­kur­ren­ten im Wett­kampf besie­gen, haben bevor­zug­ten Zugang zu den Weib­chen und geben ihre Gene über­pro­por­tio­nal an die nächs­te Gene­ra­ti­on wei­ter. Die­ses Prin­zip stellt sicher, daß sich nur die Gene der gesün­des­ten und stärks­ten Indi­vi­du­en repli­zie­ren. Den glei­chen Zusam­men­hang gibt es auch in tra­di­tio­nel­len mensch­li­chen Gesell­schaf­ten. Unter­su­chun­gen zei­gen, daß in Jäger-und-Samm­ler-Gesell­schaf­ten und in bäu­er­li­chen Gesell­schaf­ten wie in Euro­pa bis ins 19. Jahr­hun­dert der sozia­le und wirt­schaft­li­che Erfolg posi­tiv mit der Zahl der Nach­kom­men kor­re­liert war. Auch in unse­rer moder­nen Gesell­schaft besteht noch ein deut­li­cher Zusam­men­hang zwi­schen sozi­al­öko­no­mi­schem Sta­tus und sexu­el­lem Erfolg, der sich aller­dings nicht mehr in Repro­duk­ti­ons­er­folg umsetzt.
Die Sozio­bio­lo­gen grenz­ten sich deut­lich von der klas­si­schen Ver­hal­tens­for­schung, wie sie Kon­rad Lorenz ver­trat, ab. Nicht ganz zu Unrecht war­fen sie ihr vor, in einem »natu­ra­lis­ti­schen Fehl­schluß« aus der Natur Wer­te abzu­lei­ten und dem in der moder­nen Zivi­li­sa­ti­on dege­ne­rier­ten Men­schen qua­si die Tie­re als die bes­se­ren Men­schen vor­zu­hal­ten. Der ande­re Kon­flikt­punkt war die Fra­ge der Ebe­ne, auf der die Selek­ti­on statt­fin­det. Die Ver­hal­tens­for­schung hat­te die Evo­lu­ti­on von grup­pen­dien­li­chen Ver­hal­tens­wei­sen auf die Idee des Art­wohls zurück­ge­führt. Dies zei­ge zum Bei­spiel die Scho­nung von Geg­nern in Kom­ment­kämp­fen. Die Tötung von Art­ge­nos­sen wur­de als patho­lo­gi­sche Erschei­nung gewer­tet, die unter Domes­ti­ka­ti­ons­be­din­gun­gen auf­tre­te und in der Natur rasch aus­ge­merzt wür­de. Es han­del­te sich gewis­ser­ma­ßen um ein »nai­ves« Kon­zept der Grup­pen­se­lek­ti­on. »Naiv« des­halb, weil man dar­auf ver­zich­te­te, das Funk­tio­nie­ren der Grup­pen­se­lek­ti­on anhand von mathe­ma­ti­schen Model­len nach­zu­prü­fen. Da die Sozio­bio­lo­gen von Anfang an in dem Ver­dacht stan­den, eine bio­lo­gis­ti­sche und rech­te Ideo­lo­gie zu ver­tre­ten, war für sie beson­ders in Deutsch­land die Abgren­zung von der als kon­ser­va­tiv gel­ten­den Ver­hal­tens­for­schung ein wich­ti­ges Argu­ment bei der aka­de­mi­schen Eta­blie­rung des Faches.

So galt das Kon­zept der Grup­pen­se­lek­ti­on seit den sieb­zi­ger Jah­ren als wis­sen­schaft­lich obso­let. In letz­ter Zeit meh­ren sich jedoch die Stim­men, die für ein modi­fi­zier­tes, auf popu­la­ti­ons­ge­ne­ti­schen Model­len beru­hen­des Kon­zept der Grup­pen­se­lek­ti­on ein­tre­ten. An füh­ren­der Stel­le ist hier der ame­ri­ka­ni­sche Evo­lu­ti­ons­bio­lo­ge David Slo­an Wil­son (geb. 1949) zu nen­nen. Flan­ken­schutz erhält er dabei aus­ge­rech­net von dem Grün­der­va­ter der Sozio­bio­lo­gie, Edward O. Wil­son. Tat­säch­lich gibt es vie­le Bei­spie­le für grup­pen­dien­li­ches, »eth­no­zen­tri­sches« Ver­hal­ten bei Men­schen und Tie­ren. Aller­dings ist es kaum mög­lich, das Funk­tio­nie­ren eines sol­chen Ver­hal­tens im Sin­ne eines gene­ti­schen Vor­teils für die Grup­pen­mit­glie­der mathe­ma­tisch zu bele­gen. Danach setzt es extre­me Bedin­gun­gen, ins­be­son­de­re sehr hohe extinc­tion rates, das heißt die häu­fi­ge Aus­lö­schung gan­zer Grup­pen, vor­aus. Zwar ist offen­sicht­lich, daß Grup­pen mit grup­pen­dien­li­chem Ver­hal­ten einen Kon­kur­renz­vor­teil gegen­über ande­ren Grup­pen haben. Zugleich sind sol­che Grup­pen aber auch sehr anfäl­lig für die Zer­set­zung durch »Tritt­brett­fah­rer«, die sich dadurch einen gene­ti­schen Vor­teil inner­halb der Grup­pe ver­schaf­fen, daß sie das altru­is­ti­sche Ver­hal­ten nur vor­täu­schen. David S. Wil­son zeigt nun, daß das Kon­zept der Grup­pen­se­lek­ti­on vor allem dann funk­tio­niert, wenn es um kul­tu­rel­le Fak­to­ren ergänzt wird. Einen sol­chen Fak­tor sieht er in eth­no­zen­tri­schen Ideo­lo­gien, vor allem aber in der Reli­gi­on. Um den Zustrom von Tritt­brett­fah­rern ein­zu­däm­men, ist eine star­ke sozia­le Nor­men­kon­trol­le not­wen­dig. Indem sie einen unsicht­ba­ren »stra­fen­den Beob­ach­ter« instal­liert, gelingt der Reli­gi­on eine wesent­lich effi­zi­en­te­re Nor­men­durch­set­zung und eine Erhö­hung des Koope­ra­ti­ons­ni­veaus inner­halb der Grup­pe. Je grö­ßer eine Popu­la­ti­on ist und je gerin­ger die Ver­wandt­schaft ihrer Mit­glie­der, des­to not­wen­di­ger ist eine star­ke Nor­men­kon­trol­le. Grup­pen, denen es gelingt, sich vor der inne­ren Zer­set­zung zu schüt­zen, haben einen evo­lu­ti­ven Vor­teil vor ande­ren Grup­pen und kön­nen sich ent­spre­chend aus­brei­ten. Die gro­ßen mono­the­is­ti­schen Reli­gio­nen schei­nen dies­be­züg­lich effi­zi­en­ter als die poly­the­is­ti­schen Sys­te­me und die Natur­re­li­gio­nen zu sein und haben sich ent­spre­chend erfolg­reich aus­ge­brei­tet. Bei gro­ßen, mehr kul­tu­rell als genea­lo­gisch defi­nier­ten Grup­pen, kommt dem­nach zuneh­mend die Grup­pen­se­lek­ti­on zum Tragen.
Übri­gens hat auch Kon­rad Lorenz die Bedeu­tung der Kul­tur für die Grup­pen­se­lek­ti­on schon gese­hen. »Wenn man irgend ein aus­ge­spro­chen ›altru­is­ti­sches‹ Ver­hal­ten als Bei­spiel wählt«, heißt es bei ihm, »und sich fragt, war­um nicht die Aus­fall­mu­ta­tio­nen, die ein sol­ches Ver­hal­ten zwei­fel­los von Zeit zu Zeit tref­fen müs­sen, wegen ihres offen­sicht­li­chen Selek­ti­ons­vor­teils als­bald in Men­ge her­aus­ge­züch­tet wür­den, fin­det man kei­ne Ant­wort. Die Fra­ge, wel­che Fak­to­ren ein gehäuf­tes Auf­tre­ten sozia­ler Para­si­ten ver­hin­dern, ist auf der Ebe­ne tie­ri­scher Sozie­tä­ten noch ziem­lich unge­löst. … Auf der Ebe­ne der mensch­li­chen Kul­tur ken­nen wir kei­ne ein­zi­ge eth­ni­sche Grup­pe, bei der nicht ein … kom­ple­xes Sys­tem von Geset­zen und Tabus jeden sozia­len Para­si­tis­mus unterdrückt.«

Aller­dings ist es schwie­rig, Grup­pen­se­lek­ti­on theo­re­tisch von Ver­wand­ten­se­lek­ti­on sau­ber zu tren­nen. Grup­pen­se­lek­tio­nis­ti­sche Model­le kön­nen je nach Blick­win­kel als Ver­wand­ten- oder als Grup­pen­evo­lu­ti­on inter­pre­tiert wer­den. Letzt­lich sind ja die Mit­glie­der einer Grup­pe meist mit­ein­an­der ver­wandt. Wenn nur die Kos­ten-Nut­zen- Rela­ti­on stimmt, rech­net sich altru­is­ti­sches Ver­hal­ten auch bei der Unter­stüt­zung von ent­fern­te­ren Ver­wand­ten. Hin­zu kommt, daß unter dem Ein­fluß der Behaup­tung, Ras­sen hät­ten kei­ne rea­le gene­ti­sche Grund­la­ge, die gemein­sa­me Ver­wandt­schaft inner­halb von eth­ni­schen Grup­pen lan­ge Zeit unter­schätzt wor­den ist.
Der ame­ri­ka­ni­sche Gene­ti­ker Hen­ry Har­pen­ding hat den gene­ti­schen Nut­zen eines »eth­ni­schen« Altru­is­mus anhand einer erwei­ter­ten Hamil­ton- Unglei­chung berech­net. Die Fra­ge ist dabei, wie vie­le Ange­hö­ri­ge des eige­nen Vol­kes durch die altru­is­ti­sche Tat eines Ein­zel­nen vor ihrer Ver­drän­gung durch frem­de Sied­ler bewahrt wer­den müs­sen, damit sich sein Opfer für ihn gene­tisch »lohnt«. Er kam zu dem Ergeb­nis, daß sich »eth­ni­scher « Altru­is­mus in einem Kon­flikt zwi­schen rela­tiv nah ver­wand­ten Eng­län­dern und Dänen (wie zum Bei­spiel zur Zeit Knuts des Gro­ßen im Mit­tel­al­ter), erst bei der Ret­tung von 120 Volks­an­ge­hö­ri­gen lohnt. Dage­gen rech­net es sich in einer Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Schwar­zen und Wei­ßen, etwa im kolo­nia­len Afri­ka, bereits, wenn nur 2,2 Ange­hö­ri­ge der eige­nen Grup­pe geret­tet wer­den. (Als Maß für die Grup­pen­un­ter­schie­de leg­te Har­pen­ding die gene­ti­schen Distan­zen aus Caval­li-Sfor­za, Histo­ry and Geo­gra­phy of Human Genes, zugrun­de).
Grup­pen­kon­flik­te sind in der Geschich­te des Men­schen wahr­schein­lich eher die Regel als die Aus­nah­me. So kann es nicht ver­wun­dern, daß unser Ver­hal­ten auch evo­lu­tiv stark von ihnen geprägt wur­de. Mit Recht spricht der Sozio­bio­lo­ge Eck­art Voland von »unse­rer in Zwi­schen­grup­pen­kon­flik­ten evo­lu­ier­ten Psy­che«. Sie gehört zu unse­rem gene­ti­schen Erbe, mit dem wir in einer gewan­del­ten, moder­nen Welt zurecht­kom­men müssen.

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