Toleranz – Die 9. Todsünde der zivilisierten Menschheit

pdf der Druckfassung aus Sezession 28 / Februar 2009

1973 veröffentlichte Konrad Lorenz Die acht Todsünden der...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

zivi­li­sier­ten Mensch­heit, eine kul­tur­kri­ti­sche, pes­si­mis­ti­sche Ana­ly­se der gesell­schaft­li­chen Ver­falls­er­schei­nun­gen und Zivi­li­sa­ti­ons­krank­hei­ten sei­ner Zeit. Er schrieb die­se Ana­ly­se ent­lang der wis­sen­schaft­li­chen Grund­sät­ze der Etho­lo­gie, der von ihm mit­be­grün­de­ten und aus­dif­fe­ren­zier­ten Leh­re vom Ver­hal­ten der Tie­re und Men­schen. Die­ses Ver­hal­ten kann in sei­nem rezen­ten, also jeweils aktu­el­len Zustand beob­ach­tet und als die Funk­ti­on eines Sys­tems beschrie­ben wer­den, »das sei­ne Exis­tenz wie sei­ne beson­de­re Form einem his­to­ri­schen Wer­de­gang ver­dankt, der sich in der Stam­mes­ge­schich­te, in der Ent­wick­lung des Indi­vi­du­ums und beim Men­schen, in der Kul­tur­ge­schich­te abge­spielt hat« (Kon­rad Lorenz).

Es steht also die Fra­ge im Raum, war­um wir Heu­ti­gen uns so oder so ver­hal­ten, und Lorenz betont an meh­re­ren Stel­len sei­ner Ana­ly­se, daß er erst über die Defor­mie­rung mensch­li­chen Ver­hal­tens zu der Fra­ge gelangt sei, wel­che Not­wen­dig­keit eigent­lich hin­ter dem So-Sein des Men­schen ste­he: »Wozu dient der Mensch­heit ihre maß­lo­se Ver­meh­rung, ihre sich bis zum Wahn­sinn stei­gern­de Hast des Wett­be­werbs, die zuneh­men­de, immer schreck­li­cher wer­den­de Bewaff­nung, die fort­schrei­ten­de Ver­weich­li­chung des ver­städ­ter­ten Men­schen usw. usf.? Bei nähe­rer Betrach­tung aber zeigt sich, daß so gut wie alle die­se Fehl­leis­tun­gen Stö­run­gen ganz bestimm­ter, ursprüng­lich sehr wohl einen Art­erhal­tungs­wert ent­wi­ckeln­der Ver­hal­tens-Mecha­nis­men sind. Mit ande­ren Wor­ten, sie sind als patho­lo­gisch aufzufassen.«
In acht Kapi­teln wirft Lorenz sei­nen etho­lo­gisch geschul­ten Blick auf anthro­po­lo­gi­sche Kon­stan­ten und zeit­be­ding­te Ent­wick­lun­gen und kommt zu ver­hee­ren­den Ergeb­nis­sen: Rund­um­ver­sor­gung und Mas­sen­kon­sum, Ver­weich­li­chung und Über­be­völ­ke­rung, Indok­tri­nier­bar­keit und gene­ti­scher Ver­fall – all dies tra­ge dazu bei, aus den Men­schen eine dege­ne­rie­ren­de, leicht mani­pu­lier­ba­re Mas­se zu machen. Vom Wunsch einer Höher­ent­wick­lung und Ver­ede­lung mensch­li­cher Mög­lich­kei­ten bleibt nicht viel übrig.
»Maß­los«, »Wahn­sinn«, »Fehl­leis­tun­gen«, »patho­lo­gisch«: Man hat Lorenz die Ver­wen­dung sol­cher Voka­beln vor­ge­wor­fen und bean­stan­det, er wer­te bereits durch sei­ne Wort­wahl den Gegen­stand, den er doch zunächst bloß zu beob­ach­ten habe. Der Vor­wurf stimmt: Lorenz weist sich mit sei­nen Tod­sün­den als kon­ser­va­ti­ver Kul­tur­kri­ti­ker aus, der dem Men­schen als Mas­se nicht viel abge­win­nen kann und auf­grund sei­ner All­tags- und Fall­stu­di­en einen Nie­der­gang aus eins­ti­ger Höhe kon­sta­tie­ren muß. Was aber ist an der Beschrei­bung von Lorenz anders als an den vie­len Kri­ti­ken und Ana­ly­sen, die bis heu­te das kon­ser­va­ti­ve Feuil­le­ton füllen?
Lorenz hat als Natur­wis­sen­schaft­ler har­te Fak­ten zur Hand, mit denen er sei­ne Beob­ach­tun­gen und Ablei­tun­gen stützt. Er geht als Etho­lo­ge von Dis­po­si­tio­nen aus, die den Men­schen wie ein Kor­sett umklam­mern. Sei­nen Genen, sei­nen Antrie­ben, Refle­xen und phy­lo­ge­ne­ti­schen Dis­po­si­tio­nen kann er nicht ent­flie­hen, er ist in Zwangs­läu­fig­kei­ten ein­ge­sperrt wie in einen Käfig. Auf Sei­te 56 in die­sem Heft ist das unter dem Begriff »Ver­haus­schwei­nung « ein­mal pole­misch durch­de­kli­niert: Die acht Tod­sün­den sind voll von wei­te­ren Bei­spie­len. Wenn Lorenz etwa die dem Men­schen typi­sche Erhö­hung der öko­no­mi­schen Umlauf­ge­schwin­dig­keit und die dar­aus resul­tie­ren­de Rast­lo­sig­keit in Kon­sum und Bedarfs­be­frie­di­gung als »Wett­lauf mit sich selbst« bezeich­net, stellt er als Erklä­rungs­mo­dell das Prin­zip des Regel­krei­ses dane­ben und zeigt, war­um lawi­nen­ar­ti­ge Pro­zes­se auf­grund aus­schließ­lich posi­ti­ver Rück­kop­pe­lung ins Ver­hee­ren­de und letzt­lich ins Ver­der­ben führen.

Das­sel­be gilt auch für die Über­be­völ­ke­rung, die Lorenz als die zen­tra­le Tod­sün­de an den Anfang stellt und von der her er die meis­ten ande­ren Fehl­ent­wick­lun­gen ablei­tet, etwa auch »Das Abrei­ßen der Tra­di­tio­nen«: Lorenz beschreibt, wie gefähr­lich es für die Ent­wick­lung eines Kin­des ist, wenn es bei sei­nen Eltern und in sei­ner nahen Umge­bung ver­ge­bens nach rang­ord­nungs­mä­ßi­ger Über­le­gen­heit sucht und in sei­nem Stre­ben und sei­ner Ent­wick­lung ohne (ver­eh­rungs­wür­di­ges) Ziel blei­ben muß. Lorenz macht das Ver­schwin­den unmit­tel­bar ein­leuch­ten­der Hier­ar­chien zum einen an der moder­nen Arbeits­welt fest: Die Aus­tausch­bar­keit von Mut­ter und Vater am Schreib­tisch ist ein revo­lu­tio­nä­rer Vor­gang der letz­ten zwei Gene­ra­tio­nen. Der ande­re Grund liegt in der Über­tra­gung einer Gleich­heits­leh­re vom Men­schen auf mög­lichst alle Lebens­be­rei­che: »Es ist eines der größ­ten Ver­bre­chen der pseu­do­de­mo­kra­ti­schen Dok­trin, das Bestehen einer natür­li­chen Rang­ord­nung zwi­schen zwei Men­schen als frus­trie­ren­des Hin­der­nis für alle wär­me­ren Gefüh­le zu erklä­ren: ohne sie gibt es nicht ein­mal die natür­lichs­te Form von Men­schen­lie­be, die nor­ma­ler­wei­se die Mit­glie­der einer Fami­lie mit­ein­an­der verbindet.«
Wäh­rend nun das gen­der main­strea­ming – das Lorenz noch nicht so nen­nen konn­te – Orgi­en der Gleich­heit zele­briert, Mann und Frau also wei­ter­hin auf Unun­ter­scheid­bar­keit getrimmt wer­den, scheint es mit der pseu­do-demo­kra­ti­schen Dok­trin nicht mehr über­all so aus­sichts­los gut zu ste­hen, wie Lorenz es noch ver­mu­ten muß­te. Wenn sich ihr Zeit­al­ter in der gro­ßen Poli­tik sei­nem Ende zuzu­nei­gen scheint, hat man doch bis in den Kin­der­gar­ten hin­ein die Durch­set­zung des Abstim­mungs­prin­zips bei glei­cher Stimm­ge­wich­tung von Erwach­se­nem und Klein­kind fest­zu­stel­len. Dies alles scheint einem Abbau der Not­wen­dig­keit einer Ent­schei­dung zu fol­gen: Wenn die Zeit kei­ne in ihrer Beson­der­heit wirk­sam her­aus­mo­del­lier­ten Män­ner und Frau­en, son­dern vor allem in ihrem Ein­heits­ge­schmack und ihrer Funk­ti­ons­tüch­tig­keit her­aus­mo­del­lier­te Ver­brau­cher erfor­dert, ver­hält sich die zivi­li­sier­te Mensch­heit wohl so, wie sie sich der­zeit ver­hält. Und wenn es nichts aus­macht, ob die Fähi­gen (etwa: die Erzie­her) oder alle (etwa: die Klein­kin­der) mit­ent­schei­den, dann hat man tat­säch­lich alle Zeit der Welt und kann die Kon­se­quen­zen von Fehl­ent­schei­dun­gen immer wie­der aus­bü­geln – und die beim Aus­bü­geln neu ent­stan­de­nen Fal­ten wie­der­um, und so weiter.
An Bei­spie­len wie dem vom Ver­lust der Rang­ord­nung und am Hin­weis auf eine pseu­do-demo­kra­ti­sche Dok­trin hat sich die Kri­tik fest­ge­bis­sen. Neben vie­len Refle­xen gibt es beden­kens­wer­te Ein­wür­fe, etwa den von Fried­rich Wil­helm Korff, der eine Neu­aus­ga­be der Tod­sün­den mit einem Nach­wort ver­sah. Er schreibt mit viel Sym­pa­thie über Lorenz’ pro­vo­zie­ren­des Buch und weist den Leser auf eine selt­sa­me Unstim­mig­keit, ein Pen­deln zwi­schen zwei Ebe­nen hin. Auf der einen Sei­te näm­lich las­se die aus dem uner­bitt­li­chen stam­mes­ge­schicht­li­chen Ver­lauf her­rüh­ren­de Fehl­ent­wick­lung der zivi­li­sier­ten Mensch­heit kei­ner­lei Raum für Hoff­nung: Etwas, das qua Gen oder Art­erhal­tungs­trieb so und nicht anders ablau­fen kön­ne, sei nicht auf­zu­hal­ten und nicht kor­ri­gier­bar. Auf der ande­ren Sei­te fin­de sich Lorenz eben nicht mit der Rol­le des kühl dia­gnos­ti­zie­ren­den Wis­sen­schaft­lers ab, son­dern gera­te ins Pre­di­gen und for­mu­lie­re pro Kapi­tel min­des­tens einen Auf­ruf, aus der Kau­sal­ket­te der zwangs­läu­fi­gen Ent­wick­lung aus­zu­stei­gen. Lorenz selbst hat die­se Ver­wi­schung der Kate­go­rien »Wis­sen­schaft« und »Pre­digt« in einem »Opti­mis­ti­schen Vor­wort« für spä­te­re Aus­ga­ben auf­zu­fan­gen ver­sucht, indem er etwa auf die Brei­ten­wir­kung der Öko­lo­gie-Bewe­gung hin­wies, von der bei Ver­fas­sen sei­ner Schrift noch nicht viel zu bemer­ken war. Im Grund aber blei­ben die Tod­sün­den bis heu­te ein star­kes Stück kon­ser­va­ti­ver Kulturkritik.

Was also ver­such­te Kon­rad Lorenz mit sei­nem Buch? Er ver­such­te auf den per­ma­nen­ten Ernst­fall hin­zu­wei­sen, den der »Abbau des Mensch­li­chen« (auch ein Buch­ti­tel von Lorenz) ver­ur­sacht: Das Erlah­men der Abwehr­be­reit­schaft ist der Ernst­fall an sich, und der Beweis, daß es längst ernst war, wird durch den tat­säch­lich von außen ein­tre­ten­den Ernst­fall nur noch erbracht: Klu­ge Pro­gno­sen konn­ten ihn lan­ge vor­her schon abse­hen. Es gibt kaum ein bes­se­res Bei­spiel für die­ses Erlah­men der Abwehr­be­reit­schaft als die Umdeu­tung des Wor­tes »Tole­ranz«. Die heu­ti­ge Form der Tole­ranz ist die 9. Tod­sün­de der zivi­li­sier­ten Mensch­heit. Ob sie in der Not­wen­dig­keit ihrer stam­mes­ge­schicht­li­chen Ent­wick­lung liegt, ver­mag nur ein Etho­lo­ge zu sagen. Fest­zu­ste­hen scheint, daß ihr trotz viel­stim­mi­ger Warn­ru­fe und glas­kla­rer Fak­ten nicht bei­zu­kom­men ist. Viel­leicht ist die­se wei­che, patho­lo­gi­sche Form der Tole­ranz tat­säch­lich ein wich­ti­ger Indi­ka­tor für einen an das Ende sei­ner Kraft gelang­ten Lebens­ent­wurf, hier also: den europäischen.
Tole­ranz ist näm­lich zunächst ganz und gar nichts Schwa­ches, son­dern die läs­si­ge Ges­te eines Star­ken gegen­über einem Schwa­chen. Wäh­rend ich hier sit­ze und ver­mes­sen den acht Tod­sün­den von Lorenz eine neun­te auf­satt­le, tole­rie­re ich, daß eine mei­ner Töch­ter im Zim­mer über mir trotz ange­ord­ne­ter Bett­ru­he ver­mut­lich einen Tanz ein­stu­diert. Von Tole­ranz die­sen rhyth­mi­schen Erschüt­te­run­gen gegen­über kann ich nur spre­chen, weil ich a) einen kla­ren Begriff von ange­mes­se­nem Ver­hal­ten in mir tra­ge und die Stö­rung als Abwei­chung von die­ser Norm erken­ne, b) in der Lage wäre, die­se Abwei­chung nicht zu tole­rie­ren, son­dern sie zu been­den, c) sie tat­säch­lich im Ver­lauf mei­nes Vater-Seins schon unzäh­li­ge Male nicht tole­riert habe.
Zur Ver­deut­li­chung hilft es, mit allen drei Kri­te­ri­en ein wenig zu spie­len: Wer a) nicht hat, also Ange­mes­sen­heit und Norm nicht kennt, muß nicht tole­rant sein: Er wird jede Ent­wick­lung hin­neh­men und sich ein­pas­sen oder ver­schwin­den, wenn es gar nicht mehr geht; wer b) nicht kann, der emp­fun­de­nen Stö­rung und Beein­träch­ti­gung also hilf­los gegen­über­steht, kann kei­ne Tole­ranz mehr üben: Er kann bit­ten und bet­teln und sich die Haa­re rau­fen oder über das Argu­ment und die Mit­leids­schie­ne den ande­ren zur Rück­sicht­nah­me bewe­gen. Das Kräf­te­ver­hält­nis hat sich jedoch ver­scho­ben, und wenn der Stö­rer kei­ne Rück­sicht neh­men will, bleibt dem Schwä­che­ren nur übrig, sich mit sei­ner Unter­le­gen­heit abzu­fin­den. Und c)? Tole­ranz kann kein Dau­er­zu­stand sein. Wer den Regel­ver­stoß dau­er­haft tole­riert, setzt eine neue Regel, wei­tet die Gren­ze des Mög­li­chen aus, akzep­tiert eine Ver­schie­bung der Norm. Zur Tole­ranz gehört der Beweis der Into­le­ranz wie zur Defi­ni­ti­on des Guten das Böse.
Tole­ranz ist also eine Hal­tung der Stär­ke, nie­mals eine, die aus einer Posi­ti­on der Schwä­che her­aus ein­ge­nom­men wer­den kann. Wer schwach ist, kann nicht tole­rant sein; wer den Mut zur eigent­lich not­wen­di­gen Gegen­wehr nicht auf­bringt, kann sei­ne Hal­tung nicht als Tole­ranz beschrei­ben, son­dern muß von Feig­heit, Rück­zug und Nie­der­la­ge spre­chen: Er gibt Ter­rain auf – geis­ti­ges, geo­gra­phi­sches, insti­tu­tio­nel­les Ter­rain. Es kann – das ver­steht sich von selbst – ab einem bestimm­ten Zeit­punkt sinn­voll sein, sich zurück­zu­zie­hen und neue Gren­zen der Tole­ranz zu zie­hen. Sol­che Kor­rek­tu­ren und Anpas­sun­gen an den Lauf der Din­ge hat es immer gege­ben, und star­re Gebil­de haben die Nei­gung zu zer­split­tern, wenn der Druck zu groß wird. Aber eine Neu­ord­nung in die­sem Sinn ist ein Beweis für Leben­dig­keit und nicht einer für Schwä­che und das oben beschrie­be­ne Erlah­men der Abwehrbereitschaft.

Auch der Spie­gel‑Kolumnist und Wort­füh­rer einer »Ach­se des Guten« (www.achgut.de), Hen­ryk M. Bro­der, hält Tole­ranz für ein gefähr­li­ches, weil sprach­ver­wir­ren­des Wort. In sei­nem jüngs­ten Buch übt er die Kri­tik der rei­nen Tole­ranz und schreibt gleich im Vor­wort Sät­ze, die an Deut­lich­keit nichts zu wün­schen übrig­las­sen: »In einer Gesell­schaft, in der ein Regie­ren­der Bür­ger­meis­ter die Teil­neh­mer einer SM-Fete per­sön­lich in der Stadt will­kom­men heißt; in einer Gesell­schaft, in der ein rechts­kräf­tig ver­ur­teil­ter Kin­des­mör­der Pro­zeß­kos­ten­bei­hil­fe bekommt, um einen Pro­zeß gegen die Bun­des­re­pu­blik füh­ren zu kön­nen, weil er noch nach Jah­ren dar­un­ter lei­det, daß ihm bei einer Ver­neh­mung Ohr­fei­gen ange­droht wur­den; in einer Gesell­schaft, in der jeder frei dar­über ent­schei­den kann, ob er sei­ne Feri­en im Club Med oder in einem Aus­bil­dungs­camp für Ter­ro­ris­ten ver­brin­gen möch­te, in einer sol­chen Gesell­schaft kann von einem Man­gel an Tole­ranz kei­ne Rede sein. Der­ma­ßen prak­ti­ziert, ist Tole­ranz die Anlei­tung zum Selbst­mord. Und Into­le­ranz ist eine Tugend, die mit Nach­druck ver­tre­ten wer­den muß.«
Das sind kla­re Wor­te, die außer­dem Bro­ders Mon­ta­ge­tech­nik ver­an­schau­li­chen. Sein Buch ist theo­re­tisch schwach und lebt von Fund­stü­cken aus Pres­se und Inter­net – mal aus­führ­lich beleuch­tet, mal bloß anein­an­der­ge­reiht. Jeder Schnip­sel belegt den bestür­zen­den Zustand der Ver­tei­di­gungs­be­reit­schaft selbst der banals­ten Wer­te unse­res Vol­kes, unse­rer Nati­on, unse­res kul­tu­rel­len Groß­raums. Nicht ohne Grund stellt unse­re Zeit­schrift ihre Begriffs­de­fi­ni­tio­nen auf der letz­ten Sei­te unter ein Mot­to von Kon­fu­zi­us: »Zuerst ver­wir­ren sich die Wor­te, dann ver­wir­ren sich die Begrif­fe und zuletzt ver­wir­ren sich die Sachen.« Bro­ders Kri­tik der rei­nen Tole­ranz kann als Samm­lung gefähr­li­cher Wort- und Begriffs­ver­wir­run­gen gele­sen wer­den, etwa wenn er neben die Tole­ranz ein ande­res rui­nier­tes Wort stellt: Zivilcourage.

Jeder will ja die­se Eigen­schaft besit­zen, will im ent­schei­den­den Moment »Sophie Scholl« sein (jedoch ohne Fall­beil). Leu­te wie Wolf­gang Thier­se aber haben das Wort Zivil­cou­ra­ge bis auf wei­te­res kaputt­ge­macht, indem sie wäh­rend eines Mas­sen­auf­laufs gegen »Rechts« jedem Teil­neh­mer Zivil­cou­ra­ge attes­tier­ten. Neben ein­hun­dert­tau­send ande­ren Leu­ten zu ste­hen und eine Ker­ze zu hal­ten, ist jedoch kein Beweis für Mut, es ist allen­falls ein Vor­satz, beim nächs­ten beob­ach­te­ten Glat­zen-Angriff auf einen schwar­zen Mit­bür­ger into­le­rant zu reagie­ren. »Tole­ranz ist gefühl­te Zivil­cou­ra­ge, die man nicht unter Beweis stel­len muß«, schreibt Bro­der etwas ver­wir­rend, aber er meint das Rich­ti­ge, näm­li­che das­sel­be wie Armin Moh­ler, der stets und vehe­ment davon abriet, Leu­te schon für ihre guten Vor­sät­ze zu prämieren.
Das Gebot der Stun­de ist also die Into­le­ranz, oder bes­ser: das Leh­ren und das Erler­nen der Into­le­ranz dort, wo das Eige­ne in sei­ner Sub­stanz bedroht ist. Hier kön­nen wir ein selt­sa­mes Phä­no­men beob­ach­ten: den Sieg der Erfah­rung über die Theo­rie. »So ist es nicht der klas­si­sche Spie­ßer, der über­all sein fürch­ter­li­ches Gesicht zeigt, son­dern der chro­nisch tole­ran­te Bil­dungs­bür­ger, der für jede Untat so lan­ge Ver­ständ­nis äußert, wie sie nicht unmit­tel­bar vor sei­ner Haus­tür pas­siert« (wie­der­um Bro­der). Dann aber! Dann aber! Dann kann man nur hof­fen, daß aus Erfah­rung klug wur­de, wes­sen Vor­stel­lungs­ver­mö­gen nicht hin­reich­te, die Lage des Gan­zen (etwa: der Nati­on) zu sei­ner eige­nen Sache zu machen.
Bro­ders Buch, Ulfkot­tes neue Schrift oder die Zurüs­tung zum Bür­ger­krieg von Thors­ten Hinz: Die Bei­spie­le für die ver­hee­ren­de Aus­wir­kung der rei­nen Tole­ranz auf die Ver­tei­di­gungs­be­reit­schaft und –fähig­keit auch nur unse­rer eige­nen Nati­on sind längst gesam­melt und kön­nen gele­sen und aus­ge­wer­tet wer­den. Aber die Flucht in die 9. Tod­sün­de, die Tole­ranz, scheint zu süß zu sein, und sie ist wohl ange­mes­sen für den Teil der Welt, der »schon Hem­mun­gen hat, sich selbst ›zivi­li­siert‹ zu nen­nen, um die ande­ren nicht zu krän­ken« (ein letz­tes Mal: Broder).

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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