Diskurs und Macht – 80 Jahre Jürgen Habermas

pdf der Druckfassung aus Sezession 29 / April 2009

von Harald Seubert

Wer, wie der Verfasser, Habermas aus einer gewissen Nähe zeitweise als akademischen Lehrer erlebte, wird nicht umhinkönnen, an die hohe Sachlichkeit und Diskussionskultur zu erinnern. Eitelkeiten, arroganten Gestus, Selbstgefälligkeit gab es bei ihm nicht. Politische Korrektheit galt nichts ohne Argument. In seinem Seminar schuf er in bestem angelsächsischen Sinn jene Anerkennungsverhältnisse, die er als öffentlicher Intellektueller allzu oft verweigerte. Es soll aus diesem Grund in diesem Beitrag um den Philosophen Habermas und sein Erbe gehen, nicht um den politischen Habermas. Man muß sich indes darüber im klaren sein, daß die wissenschaftliche Institution »Habermas« zu einem nicht geringen Teil (wenn nicht sogar meistenteils) durch geschickte Rezeptionspolitik, Diskursinszenierungen und ein wirkungsvolles, verdecktes Wegbeißen ideologischer Gegenspieler entstand.

Aber zur Phi­lo­so­phie: Haber­mas’ Prä­gun­gen hin­gen nicht von Anfang an von der Frank­fur­ter Schu­le ab. Er ging in die Schu­le des Bon­ner Ordi­na­ri­us Roth­acker, des Anthro­po­lo­gen und Kul­tur­phi­lo­so­phen; hier bereits stieß er auf den um eini­ge Jah­re älte­ren lang­jäh­ri­gen Frank­fur­ter Kol­le­gen Karl-Otto Apel. Schon als Stu­dent rezen­sier­te Haber­mas für die FAZ. Die Bespre­chung der Edi­ti­on von Heid­eg­gers Vor­le­sung Ein­füh­rung in die Meta­phy­sik im Juli 1953 mach­te ihn bekannt. Haber­mas war in die­ser Zeit phi­lo­so­phisch noch von Heid­eg­ger geprägt, des­sen Haupt­werk Sein und Zeit (1927) er bis heu­te sei­ne Ach­tung nicht ver­sagt. Daß Heid­eg­ger ohne eine Ver­än­de­rung am Vor­le­sungs­text von 1935 einen Satz publi­zier­te, in dem von der »inne­ren Wahr­heit und Grö­ße« der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Bewe­gung die Rede ist, ließ Haber­mas den poli­ti­schen Pro­zeß gegen ihn eröffnen.
Dabei war Haber­mas auch nie ein ech­ter Schü­ler Ador­nos gewe­sen. Er hat selbst berich­tet, daß der Bann der her­me­ti­schen Vor­le­sun­gen und ihrer Wun­der­kind­vir­tuo­si­tät ihm schnell ste­ril wur­de. Tat­säch­lich: Von der Ver­wei­ge­rung gegen den ame­ri­ka­ni­schen Prag­ma­tis­mus, von dem mes­sia­ni­schen Licht aus dem Para­dies, die­sem Grund­ge­dan­ken Wal­ter Ben­ja­mins, den Ador­no auf das Feld der Ästhe­tik pro­ji­zier­te, ist bei Haber­mas nur noch in his­to­ri­schen Remi­nis­zen­zen die Rede.
Wir kön­nen eine tie­fe Ambi­va­lenz in Haber­mas’ Bil­dungs­weg kon­sta­tie­ren: Einer­seits ver­schie­ben sich sei­ne Koor­di­na­ten nach der ers­ten Frank­fur­ter Zeit wei­ter nach links. Die Habi­li­ta­ti­on bei Wolf­gang Abend­roth in Mar­burg ist ein Indiz dafür. Ande­rer­seits ver­wan­del­te sich Haber­mas die bür­ger­li­che Stra­te­gie an, ganz in der Fol­ge des ihm nicht eben gewo­ge­nen Max Hork­hei­mer, der mit dem Frank­fur­ter Rek­to­rat, einem guten Gesprächs­ver­hält­nis zu Ade­nau­er und wich­ti­gen Auf­trä­gen zu empi­ri­schen Unter­su­chun­gen in der Wirt­schaft aus­ge­spro­chen erfolg­reich gewe­sen war. Und es war Hans-Georg Gada­mer, der unge­mein ein­fluß­rei­che Heid­eg­ger­schü­ler und Her­me­neu­ti­ker, der noch vor der Habi­li­ta­ti­on für einen Ruf von Haber­mas als Extra­or­di­na­ri­us nach Hei­del­berg sorg­te. Nicht zu Unrecht erin­ner­te sich noch der alte Gada­mer, er habe Haber­mas »gemacht«. 1964 folg­te Haber­mas dann Hork­hei­mer auf des­sen Lehr­stuhl nach. Die Antritts­vor­le­sung über »Erkennt­nis und Inter­es­se«, ein poin­tier­tes Lehr­stück über tra­di­tio­nel­le und kri­ti­sche Theo­rie, nahm in aller Öffent­lich­keit den Faden der frü­hen kri­ti­schen Theo­rie auf.

Haber­mas’ Stär­ke liegt bis heu­te dar­in, The­men und Dis­kur­se zu erken­nen und zu beset­zen. Der ori­gi­nä­re phi­lo­so­phi­sche Blick zeich­net ihn weni­ger aus. Phi­lo­so­phi­sche Fra­gen sind für ihn immer auch ideen­po­li­tisch und stra­te­gisch von Inter­es­se. Er mar­kiert sich einen Weg in die Laby­rin­the von Posi­tio­nen und Gegen­po­si­tio­nen, wobei er mit Abbre­via­tu­ren arbei­tet. Haber­mas’ Hegel oder Nietz­sche ist nicht mit dem Den­ken die­ser Klas­si­ker selbst gleich­zu­set­zen. Intel­lek­tu­el­le Red­lich­keit zeigt der Theo­re­ti­ker Haber­mas aller­dings unstrit­tig in Selbst­re­vi­sio­nen gegen­über Ein­wän­den, vor allem den Detail­ein­wän­den von Freun­den. Geg­ner im Grund­sätz­li­chen wer­den jedoch häu­fig ins Vor­feld abge­wie­sen und des Vor­mo­der­nen, Kon­ven­tio­nel­len, Regres­si­ven beschul­digt. Mit der »Rit­ter­schu­le « oder dem ame­ri­ka­ni­schen Kom­mu­ni­ta­ris­mus ver­fuhr Haber­mas so, und lei­der ver­tei­dig­ten die Ange­grif­fe­nen nur sel­ten kon­se­quent und mit ähn­li­chem Durch­set­zungs­wil­len ihre Posi­tio­nen. Niklas Luh­mann ist eine rühm­li­che Aus­nah­me, er hielt Haber­mas vor, »ideen- oder eman­zi­pa­ti­ons­kon­ser­va­tiv « zu sein.
Der frü­he Haber­mas bewegt sich rasch sou­ve­rän in den Kate­go­rien mar­xis­ti­scher Theo­rie­bil­dung: »Legi­ti­ma­ti­ons­pro­ble­me des Spät­ka­pi­ta­lis­mus « ist ein ein­schlä­gi­ger Ter­mi­nus. Zugleich nimmt er Huss­erls, von Alfred Schütz bereits zur sozio­lo­gi­schen Grund­ka­te­go­rie ent­wi­ckel­ten Begriff der »Lebens­welt« auf. Der Lebens­welt­be­griff ist des­halb für Haber­mas so wich­tig, weil er in sei­nen Stu­di­en zu Erkennt­nis und Inter­es­se nicht nur an den ame­ri­ka­ni­schen Prag­ma­tis­mus, son­dern zugleich an Nietz­sche anschlie­ßend zeigt, daß es kei­ne Erkennt­nis gibt, die nicht auf Inter­es­sen zurück­zu­füh­ren ist. Ver­meint­li­che Objek­ti­vi­tät wis­sen­schaft­li­cher Gel­tungs­an­sprü­che ist vor die­sem Hin­ter­grund in Fra­ge zu stel­len. Tech­ni­sches und his­to­risch-her­me­neu­ti­sches Erkennt­nis­in­ter­es­se wer­den dabei von Haber­mas unter­schie­den. Obwohl die ideo­lo­gie­kri­ti­schen Debat­ten der frü­hen sieb­zi­ger Jah­re in die­ser Gedan­ken­fi­gur unschwer wie­der­zu­er­ken­nen sind, klingt doch auch die Fra­ge nach dem Nut­zen und Nach­teil der Phi­lo­so­phie für das Leben an. Und eben hier hat Haber­mas unbe­streit­bar und mit gro­ßer Wir­kung auf Geis­tes- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten eine grund­le­gen­de Kor­rek­tur des Revi­si­ons­an­spruchs mar­xis­ti­scher Theo­rie­bil­dung ange­zeigt. Der Marx­sche Öko­no­mis­mus, die Reduk­ti­on auf Pro­duk­ti­on, läßt nur instru­men­tel­les, aber nicht kom­mu­ni­ka­ti­ves Han­deln zu. Haber­mas hat aber immer auf die­ser Unter­schei­dung bestan­den, in der man letzt­lich die Unter­schei­dung von Natur und Geist wie­der­fin­den kann. Des­halb hat­te Haber­mas nie­mals etwas gemein mit den Wort-für-Wort-Exege­ten des ortho­do­xen Mar­xis­mus, die bis in die acht­zi­ger Jah­re ihre Kate­che­sen ausführten.
Als eigent­lich genia­len Coup von Haber­mas wird man ver­zeich­nen müs­sen, daß es ihm gelang, Tra­di­tio­nen der ame­ri­ka­ni­schen prag­ma­tis­ti­schen Phi­lo­so­phie, von James und Dew­ey, ja den west­li­chen Libe­ra­lis­mus mit neo­mar­xis­ti­schen Impul­sen zu ver­bin­den. Daß er, der mehr als jeder ande­re mit den sich radi­ka­li­sie­ren­den Stu­den­ten im Frank­furt der­spä­ten sech­zi­ger Jah­re dis­ku­tiert hat­te, Dutsch­ke und ande­ren Schwarm­geis­tern, hin­ter denen der Ter­ror sich ankün­dig­te, »Links­fa­schis­mus« vor­hielt, war kein Zufall. Die­ser von Haber­mas voll­zo­ge­nen Unbe­stech­lich­keit und »Tap­fer­keit vor dem Freund« wird man den Respekt nicht ver­wei­gern können.

Ein wei­te­rer Bau­stein: die Freud­sche Psy­cho­ana­ly­se. Das Freud­sche Modell der »Theo­rie­bil­dung im Rah­men der Selbst­re­fle­xi­on« wird von Haber­mas auf die Gesell­schafts­theo­rie über­tra­gen. Der Begriff der »Sozi­al­phi­lo­so­phie « als Kenn­zeich­nung für Haber­mas’ Arbeit ist alles ande­re als zufäl­lig – und er ist kei­nes­wegs unschul­dig: Wird doch damit das Ende der Phi­lo­so­phie im Marx­schen Sin­ne beschrie­ben. Dies bedeu­tet aber zugleich, daß Haber­mas Kon­stan­ten der Anthro­po­lo­gie, den Men­schen als Män­gel­we­sen, die Unhin­ter­geh­bar­keit der Her­kunft in Gesell­schafts­ana­ly­se trans­for­miert und damit unkennt­lich macht. Gleich­wohl ist die Ent­las­tungs­the­se von Geh­len und Schelsky für Haber­mas von gro­ßer Inspi­ra­ti­ons­kraft gewe­sen. Sein Begriff der Frei­heit bedarf der Insti­tu­tio­nen. Das Inter­es­se an deren trieb­bän­di­gen­der Macht tritt erst in den Hin­ter­grund, wenn das Kon­strukt eines »herr­schafts­frei­en Dis­kur­ses« ent­wi­ckelt wird.
Die­ser Haber­mas­sche Grund­be­griff ist unstrit­tig eine – fast reli­giö­se – Uto­pie. Res­sour­cen­knapp­heit, Lebens­end­lich­keit, Pro­blem­druck wer­den über­gan­gen: Zu Recht haben die Ver­tre­ter der Schu­le von Joa­chim Rit­ter, vor allem Spae­mann und Lüb­be, auf die­se Lebens­blind­heit des Haber­mas­schen Ansat­zes ver­wie­sen. Auch das von Haber­mas benann­te Modell der »Sci­en­ti­fic com­mu­ni­ty« kann allen­falls in einem idea­len, nicht in einem rea­len Sinn die­sen unend­li­chen Dis­kurs erklären.
Haber­mas ist aber nie­mals nur Phi­lo­soph und Sozio­lo­ge oder ein schwer ent­wirr­ba­res Amal­gam aus bei­dem. Die stra­te­gi­sche Pla­zie­rung ist ihm zumin­dest genau­so wich­tig wie der eigent­li­che Gedan­ken­gang. Er ist immer auch als öffent­li­cher Intel­lek­tu­el­ler auf­ge­tre­ten. Sei­ne Reden und Auf­sät­ze geben eine Spie­ge­lung der Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik in links­li­be­ra­ler Per­spek­ti­ve, die zuneh­mend mit dem Main­stream ver­schmolz. »Neue Unüber­sicht­lich­keit«, »Ent­sor­gung der Ver­gan­gen­heit«, »DM-Natio­na­lis­mus«, »Ende des Natio­nal­staats« sind viel­zi­tier­te Stich­wor­te von rhe­to­ri­scher Ein­gän­gig­keit – bis hin zur Dem­ago­gie. Der öffent­li­che Intel­lek­tu­el­le Haber­mas ist nicht so skru­pu­lös wie der Phi­lo­soph, der dem Lern­pro­zeß nicht aus­wich und bis ins Alter eine Rezep­ti­ons­leis­tung ande­rer Theo­rien erbringt.
Als (weit weni­ger kom­for­ta­bel aus­ge­stat­te­ter) zwei­ter Direk­tor neben Carl Fried­rich von Weiz­sä­cker ging Haber­mas in den frü­hen sieb­zi­ger Jah­ren an das neu begrün­de­te Max-Planck-Insti­tut zur Erfor­schung der moder­nen Lebens­wel­ten. In Frank­furt war er nur noch als Hono­rar­pro­fes­sor prä­sent. Ador­nos Tod in jenem mythi­schen Som­mer 1969 bedeu­te­te auch hier eine Zäsur. Die Bilanz des Starn­ber­ger Insti­tuts ist indes­sen ernüch­ternd. Haber­mas gelang es aber, sein Opus magnum, Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns (1981 publi­ziert) in die­ser Zeit zu schrei­ben. Es geht davon aus, daß kom­mu­ni­ka­ti­ve Pra­xis auf Kon­sens ange­legt sei; Ent­schei­dung und Kon­flikt, nach Carl Schmitt die eigent­lich poli­ti­sche Unter­schei­dung zwi­schen Freund und Feind, haben kei­nen Raum. Dahin­ter steckt der für Haber­mas nor­ma­ti­ve Begriff der »Öffent­lich­keit«. Bereits in sei­ner Habi­li­ta­ti­ons­schrift Struk­tur­wan­del der Öffent­lich­keit (1962) for­mu­liert Haber­mas nach­drück­lich den Vor­schlag, »Begrif­fe wie Wahr­heit, mora­li­sche Gel­tung, Legi­ti­mi­tät usw., mit Blick auf Ver­fah­ren zu erklä­ren, in denen wir Grün­de ange­ben und ande­re überzeugen«.

Im zwei­ten Teil der Theo­rie des kom­mu­ni­ka­ti­ven Han­delns ent­wi­ckelt Haber­mas eine »Kri­tik der funk­tio­na­lis­ti­schen Ver­nunft«. Ori­en­tiert an der Modern­epa­tho­lo­gie Max Webers, spricht er von der »Kolo­nia­li­sie­rung der Lebens­welt«, die aber durch die Steue­rungs­me­di­en von Macht oder Geld zuneh­mend unkennt­lich wer­de. Ein haus­ba­cke­ner Kon­ser­va­ti­vis­mus, der jene Patho­mor­phien leug­net, konn­te Haber­mas nicht gewach­sen sein. Die Theo­rie endet indes­sen offen: Ob Exper­ten­kul­tu­ren und poli­ti­sche Sys­te­ma­tik an die Lebens­welt zurück­ge­bun­den wer­den kön­nen, begreift Haber­mas als Über­le­bens­fra­ge moder­ner Gesell­schaft. Nicht von unge­fähr ist Haber­mas’ eige­ne Pro­gno­se dar­über, ob dies gelingt, in den fol­gen­den Jah­ren düs­te­rer und skep­ti­scher geworden.
Haber­mas hat spä­ter die moder­ne ana­ly­ti­sche Sprach­phi­lo­so­phie, aus­ge­hend von Witt­gen­stein, gründ­lich rezi­piert, ohne sich sei­ne Fra­gen von ihr dik­tie­ren zu las­sen. Die Aus­prä­gung sei­ner Dis­kurs­ethik (zeit­wei­se in enger Koope­ra­ti­on mit Apel in den acht­zi­ger Jah­ren wie­der in Frank­furt ent­wi­ckelt) grün­det in einer inten­si­ven Befas­sung mit der Fra­ge nach der Wahr­heit. Haber­mas wider­setzt sich einem Wahr­heits­re­la­ti­vis­mus, wie er in der Post­mo­der­ne zur klin­gen­den, bil­li­gen Mün­ze wur­de. Für Haber­mas ist Wahr­heit uni­ver­sal, auch wenn sie in den Dif­fe­ren­zen von Kul­tu­ren und Reli­gio­nen begeg­net. Er hat die­ses Fun­da­ment der Dis­kurs­ethik auf den Grund­satz gebracht: »Gül­tig sind genau die Hand­lungs­nor­men, denen alle mög­li­cher­wei­se Betrof­fe­nen als Teil­neh­mer an ratio­na­len Dis­kur­sen zustim­men kön­nen«. Man erkennt sogleich, daß Haber­mas damit an Kants Kate­go­ri­schen Impe­ra­tiv anschließt.
Crux war für Haber­mas aller­dings, Moral­phi­lo­so­phie auf die Gerech­tig­keit, nicht mehr das gute Leben im Aris­to­te­li­schen Sin­ne zu bezie­hen. Die­sem Ansatz ist zu Recht wider­spro­chen wor­den. Den­noch ist zuzu­ge­ben, daß Haber­mas’ Kon­zep­ti­on weit über Uti­li­ta­ris­men oder die Ver­la­ge­rung von Moral in Intui­ti­on hin­aus­geht, wie sie in heu­ti­ger Ethik zumeist begeg­net. Rela­ti­vis­mus brin­ge mora­li­sche Gebo­te um ihren Sinn und, so Haber­mas, mora­li­sche Ver­pflich­tung um ihre Poin­te. Frei­lich stellt sich in einer glo­ba­len Welt, die von Dif­fe­ren­zen durch­ris­sen ist, und in der deut­lich wird, daß der west­li­che Uni­ver­sa­lis­mus selbst sei­ne Ursprungs­ge­schich­te hat, die Fra­ge, ob Haber­mas’ Ant­wor­ten noch tref­fen kön­nen. Schon 1977 hat Rein­hart Mau­rer dage­gen trif­tig ein­ge­wandt, die freie, schier unend­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­mein­schaft, die Haber­mas beschwö­re, habe tota­li­tä­re Züge. Und, so füg­te Mau­rer sei­ner­zeit bereits hin­zu, Haber­mas’ Den­ken sei genu­in von der Nach­kriegs­epo­che geprägt.
Man muß ihm indes gerecht wer­den: Haber­mas hat nicht behaup­tet, daß der Kon­sens, der in einem Dis­kurs erzielt wird, das Kri­te­ri­um für des­sen Wahr­heit sei, wie ihm mit­un­ter unter­stellt wird. Wahr­heit eig­net, auch für Haber­mas, eine Unbe­dingt­heit. Der Dis­kurs ist selbst eine »kon­tra­fak­ti­sche Unter­stel­lung«, – an der sich die Rea­li­tät mes­sen las­sen müs­se. Dem unmit­tel­ba­ren Zugriff der Fra­ge nach dem guten Leben, der Eudai­mo­nie, aber auch der Dimen­si­on des Gebo­tes ist die­se ethi­sche Refle­xi­ons­theo­rie durch Lebens­welt­fer­ne unter­le­gen. Ihre anthro­po­lo­gi­sche Ent­halt­sam­keit und hohe For­ma­li­tät ist durch den Preis der Blut­ar­mut erkauft. Die gro­ßen Para­do­xien: Schuld und Ver­ge­bung – die die Moral an die Reli­gi­on gren­zen las­sen – haben bei ihm kei­nen Ort. For­ma­le Lee­re aber ist offen für die Ein­tra­gung belie­bi­ger Gehal­te und Ideo­lo­ge­me. Das Wirk­li­che mit den Ver­nünf­ti­gen zu ver­mit­teln, dies Hegel­sche Pro­gramm bleibt Haber­mas schuldig.

Sei­ne Rechts­phi­lo­so­phie Fak­ti­zi­tät und Gel­tung (1992) nimmt bemer­kens­wer­ter­wei­se die Hegel­sche Unter­schei­dung zwi­schen for­ma­ler Mora­li­tät und Sitt­lich­keit, die Ver­flech­tung von Moral und Recht auf. Es ist das Recht, das nach Haber­mas zwi­schen Sys­tem und Lebens­welt ver­mit­teln kann. Daß geld­ge­steu­er­te Öko­no­mie und macht­ge­steu­er­te Admi­nis­tra­ti­on die Lebens­welt nicht über­wu­chern, ist wesent­lich eine Fra­ge des Rech­tes. In der Tris­tesse gegen­wär­ti­ger Kon­sens­de­mo­kra­tie, die mit der Aus­höh­lung von Grund­rech­ten ein­her­geht, könn­te Haber­mas’ Rechts­phi­lo­so­phie ein gewis­ses kri­ti­sches Poten­ti­al entfalten.
Es ist para­dox: Je mehr die deut­sche Repu­blik Haber­mas zu ihrem phi­lo­so­phi­schen Reprä­sen­tan­ten erho­ben hat, umso weni­ger ent­spricht ihre Rea­li­tät sei­nen nor­ma­ti­ven Ansprü­chen, ohne daß der Prae­cep­tor dies reflek­tier­te! Die Rechts­phi­lo­so­phie zeigt noch ande­re Gren­zen von Haber­mas: Er reflek­tiert kaum, wie stark Poli­tik medi­al ver­mit­telt ist. Auch für Inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen und die »neue Welt­un­ord­nung« nach 1989 zeigt Haber­mas kein Sensorium.
Seit er in der Rede zum Frie­dens­preis des deut­schen Buch­han­dels 2001 wie­der an die alte Fra­ge von Reli­gi­on und Ver­nunft, Glau­ben und Wis­sen anknüpf­te, zeigt sich eine Ver­än­de­rung. Haber­mas scheint zu sehen, daß die ent­fes­sel­te Auf­klä­rung aus sich selbst Unge­heu­er gebiert, und, wenn sich ihr kei­ne Gegen­kraft wider­setzt, auch kei­ne Mög­lich­keit hat, ihre eige­ne Patho­lo­gie zu erken­nen. In die­sen Zusam­men­hang gehört der viel­be­ach­te­te Mün­che­ner Dis­put zwi­schen Ratz­in­ger und Haber­mas im Jahr 2004. Haber­mas kommt immer­hin zu der Auf­fas­sung, daß die Bezie­hung von säku­la­rer Welt und Reli­gi­on ein kom­ple­men­tä­rer Lern­pro­zeß sein müs­se. Er ahnt, daß das sozia­le Band reißt. Dies ist der exis­ten­ti­el­le Hin­ter­grund, der beim spä­ten Haber­mas eine Abkehr vom For­ma­lis­mus, jenem Grund­de­fi­zit der aka­de­mi­schen Phi­lo­so­phie der Gegen­wart, beför­dert hat.
Aber phi­lo­so­phisch über­zeu­gend wäre die­se spä­te Wen­dung erst dann, wenn Haber­mas sei­nen Begriff »nach­me­ta­phy­si­scher« Phi­lo­so­phie auf den Prüf­stand stell­te. Dies schie­ne mir unum­gäng­lich, um Reli­gi­on und Ver­nunft mit­ein­an­der zu ver­bin­den. Eben damit, daß er sein phi­lo­so­phi­sches Pro­gramm von den Quel­len der Phi­lo­so­phia peren­nis ablös­te und sei­ne poli­ti­sche Intel­lek­tua­li­tät von der Tra­di­ti­on, hat Haber­mas den For­ma­lis­mus, die Belang­lo­sig­keit und öde Exper­ten­kul­tur in der gegen­wär­ti­gen Phi­lo­so­phie mit beför­dert, auch jenen post­mo­der­nen Rela­ti­vis­mus. An der Unsit­te, Fra­gen nur auf­zu­neh­men, wenn sie gera­de »in« sind, an der die heu­ti­ge kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Bolo­gna-Uni­ver­si­tät zehrt, ist die­ser Phi­lo­so­phie­be­griff nicht unschuldig.
Es bleibt eine ambi­va­len­te Bilanz: Im Jahr sei­nes 80. Geburts­tags ist Haber­mas’ Phi­lo­so­phie so sehr ins all­ge­mei­ne Bewußt­sein ein­ge­gan­gen, daß er kaum mehr gele­sen, umso mehr zitiert wird. Dies jedoch ist ein Feh­ler. Haber­mas ist von ande­rem intel­lek­tu­el­len Kali­ber als die Zeit­geis­t­rit­ter und poli­tisch kor­rek­ten Schwa­dro­neu­re, die auf allen Kanä­len zu sehen und zu hören sind. Als er nach 1998 zum Staats­phi­lo­so­phen der avan­cier­ten Acht­und­sech­zi­ger erklärt wur­de, fand er sich doch unter sei­nem Niveau plaziert.
Man wird als Kon­ser­va­ti­ver aus der Lage der Welt am Anfang des 21. Jahr­hun­derts dia­me­tral ande­re Kon­se­quen­zen zie­hen als Haber­mas. Und doch muß man sich mit ihm beschäf­ti­gen. Sei­ne Wir­kung ist auch des­halb so weit­rei­chend, weil er zumin­dest seit Geh­lens Tod kei­nen wirk­li­chen intel­lek­tu­el­len Wider­part gehabt hat. Doch es gibt eine Kehr­sei­te: Haber­mas’ intel­lek­tu­el­les Niveau war für die heu­ti­ge Lage weni­ger aus­schlag­ge­bend als sein geschick­tes Spiel auf der mora­li­schen Kla­via­tur der Herr­schaft des Verdachts.

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