England und Deutschland

Um Wandlungen in der deutschen und englischen Gesellschaft geht im aktuellen Merkur (Nr. 720). Der Freiburger Soziologe Friedrich Pohlmann, ...

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

… des­sen Bei­trä­ge eigent­lich immer her­vor­ra­gend sind, beschreibt am Bei­spiel des Wohn­vier­tels, in dem er (Jg. 1950) auf­wuchs, ein­dring­lich die Ver­grei­sung und Frag­men­tie­rung unse­rer Gesell­schaft. Sei­ne Eltern, Hei­mat­ver­trie­be­ne, zogen 1956 mit fünf Kin­dern in die­ses Viertel.

Das Vier­tel bedeck­te ein Are­al von etwa einem Kilo­me­ter in der Län­ge und sechs­hun­dert Metern in der Brei­te, und als wir dort ein­zo­gen, waren drum­her­um nur Wie­sen. Errich­tet wur­de es im Natio­nal­so­zia­lis­mus, eine Her­kunft, auf die zwei städ­te­bau­lich durch­aus posi­tiv bewert­ba­re Cha­rak­te­ris­ti­ka hin­deu­ten: die sehr gro­ßen, für Vier­tel die­ser Zeit typi­schen Grün­flä­chen zwi­schen den Häu­sern und die abge­stuf­ten Wohnungsgrößen.

Pohl­mann ver­mu­tet, daß mit letz­te­rem Merk­mal die Idee der Volks­ge­mein­schaft ver­wirk­licht wer­den soll­te: das Vier­tel bestand aus Vier­fa­mi­li­en­häu­sern, mit unter­schied­lich gro­ßen Woh­nun­gen, die in jedem Haus jedoch gleich waren. So fan­den sich in jedem Haus vom Sta­tus her ähn­li­che Fami­li­en zusam­men, im Vier­tel gab es aber eine Sta­tus­dif­fe­renz zwi­schen jedem Haus. Die vier Fami­li­en in Pohl­manns Haus hat­te 16 Kin­der, das Erschei­nungs­bild des Vier­tels wur­de dadurch ent­spre­chend geprägt. Heu­te ist die­ses Vier­tel “ent­leert und ver­greist”, es gibt auch kei­ne “Migran­ten”:

Letz­tes Merk­mal der Atmo­sphä­re im Vier­tel ist die Stil­le, eine Stil­le mit ver­schie­de­nen Schat­tie­run­gen, die manch­mal, vor­nehm­lich bei schö­nem Wet­ter, beru­hi­gend wirkt, öfter aber, und zwar vor allem in den Häu­sern mit meh­re­ren alten Men­schen, bedrückt.

Der schot­ti­sche Schrift­stel­ler Andrew O’Ha­gan for­mu­liert unter dem unge­wohn­ten Titel “Das Zeit­al­ter der Indif­fe­renz. Wann rafft sich die eng­li­sche Arbei­ter­klas­se end­lich auf?” sei­ne Sicht auf die Eng­län­der. Dabei geht es nicht um Klas­sen­kampf, son­dern dar­um, daß die Eng­län­der, ins­be­son­de­re die ein­fa­chen Leu­te, anders sind als in ande­ren Län­dern. Ein Kind­heits­er­leb­nis mit Eng­län­dern hat O’Ha­gan zu der Theo­rie gebracht,

dass näm­lich die Schot­ten und die Iren ein Volk waren, eine klar abge­grenz­te Gemein­schaft, von Natur aus bei­sam­men und reich an Lie­dern und Reden über sich selbst, wäh­rend die Eng­län­der etwas ande­res waren: ein Tohu­wa­bo­hu des Indi­vi­dua­lis­mus ohne ein wirk­li­ches Gefühl für ein gemein­sa­mes Ziel und als Stamm ohne einen kol­lek­ti­ven Willen.

Im fol­gen­den geht er der Fra­ge nach, war­um der eng­li­sche Natio­na­lis­mus so nega­ti­ve Asso­zia­tio­nen hervorruft:

Ein guter Natio­na­lis­mus muss sich prin­zi­pi­ell auf die ein­fa­chen Leu­te stüt­zen, auf Mythen des kämp­fen­den gemei­nen Vol­kes. Selt­sam, dass der schot­ti­sche Natio­na­lis­mus und der iri­sche Natio­na­lis­mus und der wali­si­sche Natio­na­lis­mus trotz all ihrer Feh­ler immer noch von vie­len als gesun­de, far­ben­fro­he Bewe­gun­gen betrach­tet wer­den, wäh­rend der eng­li­sche Natio­na­lis­mus die Men­schen an Fuß­ball­hoo­li­gans, Enoch Powell, Oswald Mos­ley und die rechts­extre­me Bri­tish Natio­nal Par­ty den­ken läßt.

O’Ha­gan sieht den Grund in den auf Res­sen­ti­ments, Zorn und Empö­rung beru­hen­den Gemein­sam­kei­ten der Eng­län­der, deren Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl in der impe­ria­lis­ti­schen Über­heb­lich­keit der ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­te ver­dor­ben wur­de. Die nega­ti­ve Bewer­tung Powells kann in die­sem Zusam­men­hang als Beleg für die The­se O’Ha­gans gel­ten. Powell gilt gemein­hin als Ver­tre­ter eines ver­krampf­ten, künst­li­chen Natio­na­lis­mus obwohl er in vie­len Fra­gen ledig­lich die Mei­nung des Vol­kes ver­trat. Mit ähn­li­chen Vor­wür­fen muß sich jeder deut­sche Natio­na­list herumschlagen.

Das depri­mie­ren­de Bild, das er von der eng­li­schen Gesell­schaft zeich­net, wirkt, wenn man den Pohl­mann-Arti­kel im Hin­ter­kopf hat, wie eine Zustands­be­schrei­bung des “alten” Euro­pa, das nur noch eine folk­lo­ris­ti­sche und tou­ris­ti­sche Daseins­be­rech­ti­gung hat.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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