Es ist Barbara Beuys anzurechnen, daß sie kein Schindluder treibt mit Sophie Scholl. Andere haben versucht, die Widerständlerin als »Kommunistin « zu stilisieren (weil sie Proviant der ihr unterstellten Mädel mit unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit einzusammeln und paritätisch zu verteilen pflegte); sie wurde als flotte Tanzmaus dargestellt, als Erz-Feministin ohnehin, und – von Sönke Zankel in seinen Büchern über die Scholls – als drogensüchtige Antijudaistin. Das alles tut ihr Beuys nicht an. Ihre Sophie Scholl ist eine erlösungshungrige Gottsucherin. Dutzende Briefe und Tagebucheinträge belegen dies in der Tat.
Dennoch ist das dicke Werk, anders als man es von dieser hervorragenden Biographin gewohnt ist, nicht rundum zufriedenstellend. Dabei tritt Beuys, die erstmals den 2005 eröffneten Nachlaß der Scholl-Schwester Inge (1917–1998) auswertet, den Scholls wirklich mit offenen Armen entgegen. Wie weit ihr Verständnis geht, ist erstaunlich. Inge, Hans und Sophie, die drei ältesten Scholl-Geschwister mit bündischem Hintergrund, haben weit über die »Kampfzeit« hinaus die nationalsozialistische Politik mitgetragen. Inge lobte 1933 in ihrem Tagebuch, daß Hitler sämtliche Jugendbünde auflösen will: »Die HJ erstürmt ein Heim nach dem anderen. Das ist gut. Da wird Deutschland immer einiger.« Hans streitet zur gleichen Zeit mit dem hitlerfeindlichen Vater. Der – zehn Jahre jünger als seine strenggläubige Gattin, zudem Atheist mit außerehelichem Kind, wie Beuys nachspürt – hängt die »feine Radierung« mit Hitlers Portrait über dem Bett des Sohnes wiederholt ab, Hans hängt sie wieder auf. 1937 treten Hans und Sophie als einzige unter den Konfirmanden in der Ulmer Pauluskirche in brauner Uniform vor den Altar: Beuys wertet dies bereits als Akt des Widerstands – weil andere Parteigänger sich ja von der Kirche abgewendet hätten. Als Führer ihrer HJGruppen traten die Scholls extrem schneidig auf, Hans forderte tollkühne Mutproben (etwa sich von Ast zu Ast aus den Wipfeln hoher Fichten herabfallen zu lassen), Sophie ging noch winters in Söckchen. Zeitzeugen zählten die blaugefrorenen Beine der strengen Führerin zu ihren Markenzeichen.
Die Biographin unterläßt nichts, um die treue Eingebundenheit der Scholl-Kinder ins System zu relativieren. Heißt: sie in Beziehung zu setzen; zur Stimmung der Zeit, zum Temperament der Scholls, ja, zu deren Gläubigkeit. »Gut und Böse liegen nicht säuberlich getrennt vor unseren Augen«, schreibt Beuys, sie verweist immer wieder auf systemopportune Parallelen zu anerkannten Widerständlern wie Stauffenberg und selbst Heinrich Böll. Solche Herangehensweise ist redlich und lobenswert.
Und doch bleiben Fragen offen, währenddessen breit aus teils kindlichen, teils kindischen Briefen der jungen Sophie zitiert wird, die der Erwähnung nicht bedürften. Wann und warum genau die Scholls mit dem System gebrochen haben, bleibt unklar. Sophie besuchte noch bis 1942 BDM-Abende! Ihre Briefe sprechen von generell empfundenem Außenseitertum, von Liebesnöten (sie lehnte körperliche Liebe ab) und, zunehmend intensiver, von ihrer Gottessuche. Politik kommt bis zum Schluß nur am Rande vor, und dann eher allgemein, als Hoffnung etwa, daß der Krieg bald ende. Zudem stören Nachlässigkeiten: Einmal ist das sechste Kind der Eltern Scholl mit drei Jahren verstorben, Hunderte Seiten vorher wurde es kein Jahr alt. Fritz Hartnagel, Jahrgang 1917, sei acht Jahre älter als seine Freundin Sophie – Jahrgang 1921. Und wie kommt die Zahl von 4000 bei Katyn von den Sowjets getöteten polnischen Offizieren zustande? Hans wurde 1937 nicht nur wegen »bündischer Umtriebe « verhaftet, sondern auch wegen Verstoß gegen §175. Letzterem wird von der Biographin nicht nachgegangen, obwohl Hinweise auf eine spätpubertäre Liebesbeziehung zwischen Hans (ähnliches gilt für den jüngeren Bruder Werner) und einem Kameraden vorliegen und sich Beuys den heterosexuellen Freundschaften des späteren Frauenschwarms gründlich widmet. Daß auf einen Fußnotenapparat verzichtet wird, mag der Lesbarkeit dienen – häufig jedoch ist nicht erkennbar, ob es sich bei Aussagen der Autorin um Zitate oder Auslegungen handelt.
Auch diesen Satz Sophie Scholls – ein halbes Jahr vor ihrem Tod – verdanken wir dem guten, aber eben nicht makellosen Buch: »Aber unsere Kinder werden sich vielleicht untereinander rühmen: Ätsch, mein Vater war im Konzentrationslager, meine Mutter hat im Gefängnis gesessen …«
(Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biographie, München: Hanser 2010, 493 S. mit Abb., 24.90 €)