Zivilgesellschaft – eine Deutung

pdf der Druckfassung aus Sezession 25/August 2008

sez_nr_255von Hans Becker von Sothen

Daß auch das angeblich freieste Land in eine totalitäre Herrschaft entgleiten kann, wußte schon Alexis de Tocqueville. Die moderne Zivilgesellschaft wirft nicht, wie die Diktaturen alten Stils, den Dissidenten in den Kerker, sondern sie geht subtiler vor: „Der Machthaber", so Tocqueville, „sagt hier nicht mehr: ‚Du denkst wie ich oder du stirbst‘; er sagt: ‚Du hast die Freiheit nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten; aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird dir nicht mehr nützen; denn wenn du von deinen Mitbürgern gewählt werden willst, werden sie dir ihre Stimme verweigern, ja, wenn du nur ihre Achtung begehrst, werden sie so tun, als versagten sie sie dir. Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren. Wenn du dich einem unter deinesgleichen nähern wirst, so wird er dich fliehen wie einen Aussätzigen; und selbst wer an deine Unschuld glaubt, wird dich verlassen, sonst meidet man auch ihn.‘"


Das kommt uns alles merk­wür­dig bekannt und modern vor. Der freie Bür­ger hat eine sol­che Angst vor dem Ver­dikt sei­ner Mit­bür­ger, daß er in vor­aus­ei­len­dem Gehor­sam all das in der Öffent­lich­keit sagt, wovon er annimmt, daß es der ver­mu­te­ten Mehr­heits­mei­nung mög­lichst nahe kommt. Gegen­läu­fi­ge und dis­si­den­te Ten­den­zen müs­sen mit Iso­la­ti­on bezahlt wer­den, auch wenn es sich tat­säch­lich mög­li­cher­wei­se gar nicht um eine Min­der­heits­mei­nung han­delt. Ent­schei­dend sind (damals wie heu­te) Stim­mung und Atmo­sphä­re. Eli­sa­beth Noel­le-Neu­mann hat die­sen Pro­zeß ein­mal als „Schwei­ge­spi­ra­le” bezeich­net. Jeder Mensch hat das Bedürf­nis, sich nicht zu iso­lie­ren. Wer also für sei­ne Mei­nung Rücken­wind spürt, wird sie ver­nehm­lich kund­tun. Wer sich in einer Rand­po­si­ti­on fühlt, wird ten­den­zi­ell eher schwei­gen. Iso­la­ti­ons­furcht muß dem ein­zel­nen aber gar nicht unbe­dingt bewußt wer­den. Das öff­net frei­lich Tür und Tor für Mani­pu­la­tio­nen des öffent­lich „gefühl­ten Rückenwinds”.
In Zei­ten von Mas­sen­ge­sell­schaft und Mas­sen­me­di­en ist die­ser Pro­zeß (trotz Inter­net) kein pri­vat ent­ste­hen­der mehr, son­dern ein auch maß­geb­lich durch funk­tio­nie­ren­de poli­tisch-media­le Netz­wer­ke pro­du­zier­ter. In den think tanks bei­spiels­wei­se, in denen die deut­sche poli­ti­sche Kon­sens­bil­dung statt­fin­det – von der Deut­schen Gesell­schaft für Aus­wär­ti­ge Poli­tik, über die Atlan­tik-Brü­cke, das Ber­li­ner Aspen-Insti­tut bis zur Ber­tels­mann-Stif­tung – über­all fin­den wir wich­ti­ge Mit­glie­der der deut­schen Medi­en­land­schaft wie­der – und alle bas­teln an einem ten­den­zi­ell anti­na­tio­na­len Kon­sens der poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Glo­ba­li­sie­rung und der unauf­hör­lich wie­der­hol­ten „Unum­kehr­bar­keit” die­ser Pro­zes­se. Dies ist kei­ne wüs­te Ver­schwö­rung, son­dern ein öffent­lich weit­ge­hend trans­pa­ren­ter Vorgang.

Neh­men wir die poli­ti­cal cor­rect­ness: Sie ist kei­ne geis­tig eigen­stän­di­ge Wil­lens­äu­ße­rung. Sie ist nicht ein­mal genu­in links, son­dern der Kon­sens- und Gehor­sams­re­flex der bür­ger­li­chen Gesell­schaft auf die bestehen­de lin­ke Hege­mo­nie in den Fra­gen poli­ti­scher (nicht wirt­schaft­li­cher) Defi­ni­tio­nen – ohne daß die kom­pli­zier­ten Begrün­dungs­ge­bäu­de über­nom­men wer­den müß­ten. Die Mecha­nis­men sind seit Toc­que­ville sehr ähn­lich. Dabei muß sich der poli­tisch Kor­rek­te im Zwei­fels­fall nicht von einer Aus­sa­ge distan­zie­ren, son­dern von dem Aus­sa­gen­den: Denn die Urangst des poli­tisch Kor­rek­ten ist der Bei­fall von der fal­schen Seite.
Auch das Dik­tum Max Hil­d­e­bert Boehms: „Der bür­ger­li­che Mensch als sol­cher ist fei­ge” dürf­te den meis­ten Kon­ser­va­ti­ven und Rech­ten in die­sem Zusam­men­hang bekannt vor­kom­men. Denn die Hege­mo­nie in der Zivil­ge­sell­schaft ver­stärkt sich unter nor­ma­len Umstän­den lau­fend selbst. Sie pro­du­ziert unent­wegt Zeit­geist­ver­stär­ker: Nicht sel­ten ist das Phä­no­men zu beob­ach­ten, daß auch Men­schen, die inner­lich mit bestimm­ten herr­schen­den Mei­nun­gen nicht kon­form gehen, die­se herr­schen­de Mei­nung in der Öffent­lich­keit auf das Bestimm­tes­te ver­tre­ten und sogar Zwei­feln­de auf die all­ge­mein ver­tre­te­ne Linie hin nach außen barsch zurecht­wei­sen. Der dadurch ent­ste­hen­de gesell­schaft­li­che Kon­for­mis­mus, eine Art vor­aus­ei­len­der zivil­ge­sell­schaft­li­cher Gehor­sam, ist ein wesent­li­ches Kenn­zei­chen der inne­ren Sta­bi­li­tät der Zivil­ge­sell­schaft und zen­tra­ler Bestand­teil ihrer Konsensbildung.
Nichts könn­te daher unzu­tref­fen­der sein, als von der Zivil­ge­sell­schaft und der Hege­mo­nie als einem Zustand der opti­ma­len Mei­nungs­frei­heit zu spre­chen. Der Zwang – die „Pan­ze­rung”, von der Gramsci spricht – kommt also nicht erst durch die staat­lich orga­ni­sier­te „poli­ti­sche Gesell­schaft” in die Welt, son­dern wohnt bereits der kon­sens­ori­en­tier­ten Zivil­ge­sell­schaft von Anfang an inne. Die Zwei­tei­lung von Zwang und Kon­sens ist eben des­halb falsch, weil die Kon­sens­fin­dung selbst auch ein Akt des Aus­schlie­ßens dis­sen­ter Mei­nun­gen ist und sein muß.
Wenn Imma­nu­el Kant den Pro­zeß der Auf­klä­rung als Gebrauch des eige­nen Ver­stan­des „ohne frem­de Anlei­tung” ver­steht, so ist damit bei wei­tem nicht nur der staat­li­che Unter­drü­ckungs­me­cha­nis­mus gemeint, den Kant ja selbst durch die preu­ßi­schen Zen­sur­be­hör­den des Herrn Wöll­ner zur Genü­ge kann­te, son­dern auch der der gegen­sei­ti­gen bür­ger­li­chen Kon­sens­fin­dung. Der Mecha­nis­mus die­ser Kon­sens­fin­dung, die auf dem Schul­hof damit beginnt, daß bestimm­te Din­ge cool sind, ande­re aber nicht, daß bestimm­te Mit­schü­ler aus­ge­grenzt wer­den oder sonst ein ande­rer Gegen­pol (häu­fig in der Erwach­se­nen­welt) gesucht wird, um die eige­ne Iden­ti­tät zu fin­den, ist bekannt. Sie setzt sich fort in kul­tu­rel­ler und sub­kul­tu­rel­ler Iden­ti­täts­fin­dung, die gesell­schaft­li­che Kon­sen­se oder auch nur Sub­kon­sen­se ein­zel­ner Grup­pen findet.

War noch Lenin der Mei­nung, in einer bür­ger­lich-kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft beru­he die Macht­aus­übung der „herr­schen­den Klas­se” über­wie­gend auf Mecha­nis­men der staat­li­chen Unter­drü­ckung, die allein durch die Revo­lu­ti­on über­wun­den wer­den müß­ten, sah man bald, daß die „west­li­chen” bür­ger­li­chen Gesell­schaf­ten so nicht funk­tio­nier­ten. Der sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­re Chef der ers­ten rus­si­schen Repu­blik von Febru­ar 1917, Alex­an­der Ker­en­ski, mein­te in sei­nen Memoi­ren, daß eine rela­tiv gut funk­tio­nie­ren­de bür­ger­li­che Gesell­schaft wie die in Deutsch­land einen Putsch à la Lenin nicht gedul­det hät­te, die rus­si­sche aber ihrem eige­nen Schick­sal starr und regungs­los zuge­schaut hatte.
Als klar wur­de, daß mit Lenins Revo­lu­ti­ons­theo­rie irgend etwas nicht stim­men konn­te, frag­te sich der ita­lie­ni­sche Kom­mu­nist Anto­nio Gramsci, war­um gera­de west­li­che Gesell­schaf­ten, die auf einem Sys­tem rela­tiv gerin­ger äuße­rer staat­li­cher Repres­si­on und hoher inner­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ni­sa­ti­ons- und Kon­troll­me­cha­nis­men beruh­ten, rela­tiv sta­bi­ler erschie­nen als Gesell­schaf­ten mit einem star­ken staat­li­chen Kon­troll­ap­pa­rat. Die rela­ti­ve Sta­bi­li­tät des (westlich-)kapitalistischen Staa­tes muß­te also noch ande­re Ursa­chen haben, als die blo­ße Repres­si­on von oben, wie sich die meis­ten Kom­mu­nis­ten ange­wöhnt hat­ten zu den­ken. Gramsci kam zu dem Ergeb­nis, daß es eben die­se rela­tiv staats­fer­ne Zivil­ge­sell­schaft war, die eine sys­tem­sta­bi­li­sie­ren­de Hege­mo­nie auf­zu­rich­ten imstan­de war. Sys­tem­sta­bi­li­sie­rend des­halb, weil eine Zivil­ge­sell­schaft auf die Her­stel­lung von all­ge­mei­nem Kon­sens gerich­tet ist.
Die Zivil­ge­sell­schaft, ein heu­te von der radi­ka­len Lin­ken bis in die CDU hin­ein infla­tio­när gebrauch­ter und durch­weg posi­tiv besetz­ter Begriff, basiert auf den Vor­stel­lun­gen Gramscis. Der maxis­ti­sche Dis­kurs griff die Bestim­mung Hegels auf, der die „bür­ger­li­che Gesell­schaft” als die Sphä­re der Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen und Ein­zel­be­dürf­nis­se, des uni­ver­sel­len Ego­is­mus’, defi­nier­te, der gegen­über erst der Staat die ein­heits­stif­ten­de und ver­ant­wort­li­che Gestal­tung des Gemein­we­sens im Inter­es­se aller berück­sich­ti­ge. „Bür­ger­li­che Gesell­schaft”, das klingt im Deut­schen aller­dings nur wenig hinreißend.
Als Rück­über­set­zung von socié­té civi­le, civil socie­ty oder socie­tà civi­le des Hegel­schen Begriffs kehrt die „bür­ger­li­che Gesell­schaft” (so wur­de das Phä­no­men im Anschluß an Hegel und Marx vor 1990 bezeich­net) über Gramsci als „Zivil­ge­sell­schaft”, pünkt­lich zum 100. Geburts­tag des ita­lie­ni­schen Kom­mu­nis­ten, 1991, nach Deutsch­land zurück, um eine erstaun­li­che Kar­rie­re zu machen, die ihr wohl unter der alten Bezeich­nung nicht ver­gönnt gewe­sen wäre. Die Rück­über­set­zung des Begriffs socie­tà civi­le nicht als Begriff „bür­ger­li­che Gesell­schaft”, wie wir sie von Hegel und Marx ken­nen, son­dern als Begriff „Zivil­ge­sell­schaft” ver­dankt sich den deut­schen Über­set­zern der Gefäng­nis­hef­te, einer Grup­pe um Wolf­gang F. Haug und die Ham­bur­ger mar­xis­ti­sche Theo­rie-Zeit­schrift Das Argu­ment.

Erst seit die­sem Jahr wird mas­siv der Begriff „Zivil­ge­sell­schaft” in der deutsch­spra­chi­gen Dis­kus­si­on ein­ge­führt. Auch die füh­ren­de deut­sche Gramsci-Ken­ne­rin, Sabi­ne Kebir, hat­te noch in den 1980er Jah­ren dafür durch­ge­hend den Begriff „bür­ger­li­che Gesell­schaft” verwendet.
Zwei Din­ge nun fas­zi­nie­ren die Lin­ke seit etwa 1990 an der „Zivil­ge­sell­schaft”: zum einen ihre Sta­bi­li­tät, zum ande­ren ihre angeb­li­che Staats­fer­ne, die es erleich­tert, den Begriff still­schwei­gend nor­ma­tiv umzu­bie­gen. Die­se „Staats­fer­ne” beruht jedoch min­des­tens teil­wei­se auf einem Miß­ver­ständ­nis, denn in Wirk­lich­keit sind, so Gramsci, Staat und Zivil­ge­sell­schaft ein und das­sel­be, so daß auch der Libe­ra­lis­mus „eine ‚Regu­lie­rung‘ staat­li­cher Natur ist, ein­ge­führt und auf­recht­erhal­ten auf dem Wege der Gesetz­ge­bung und des Zwan­ges”. Die­se Deu­tung von Zivil­ge­sell­schaft ent­wi­ckelt für die heu­ti­ge, stark ent­theo­re­ti­sier­te Lin­ke einen gewis­sen Charme: Denn in die­ses nicht-staat­li­che Kon­zept kön­nen, da es tat­säch­lich ein ideo­lo­gisch neu­tra­les Kon­strukt ist, aller­lei Träu­me und Vor­stel­lun­gen hin­ein­ge­gos­sen wer­den, etwa die einer nicht-staat­li­chen „Selbst­re­gie­rung der asso­zi­ier­ten Indi­vi­du­en”. Die­ses Kon­zept schloß naht­los an den intel­lek­tu­el­len Bank­rott der ortho­do­xen, halbor­tho­do­xen oder mao­is­ti­schen Lin­ken an und hat bis heu­te bei den west­li­chen Lin­ken als Gesell­schafts­kon­zept nichts von sei­ner Anzie­hungs­kraft verloren.
Es ist kein Zufall, daß sich mit dem seman­ti­schen Trick der Umbe­nen­nung von „bür­ger­li­cher Gesell­schaft” in „Zivil­ge­sell­schaft” in der Zeit des Umbruchs 1989/90 auch der deut­schen Lin­ken nach dem Zusam­men­bruch des „real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus” ein neu­es Feld der lin­ken Uto­pie eröff­ne­te. Aus­ge­wei­tet auf eine „Welt­zi­vil­ge­sell­schaft” ver­wen­det die UNO den Begriff seit den 1990er Jah­ren – und meint damit ein glo­ba­les und supra­na­tio­na­les Wirt­schafts­sys­tem, gere­gelt durch die WTO und fern von demo­kra­tisch legi­ti­mier­ten Instan­zen wie den Par­la­men­ten. Hand in Hand mit die­ser Gering­schät­zung des Sou­ve­räns arbei­ten die eben­falls nicht legi­ti­mier­ten NGOs.
Inzwi­schen wird die­ses von der UNO befür­wor­te­te Sys­tem der „Welt­zi­vil­ge­sell­schaft” wie­der­um nur noch ver­kürzt „Zivil­ge­sell­schaft” oder „zivil­ge­sell­schaft­lich” genannt, was zusätz­li­che Begriffs­ver­wir­rung beschert. Doch der Kon­sens, den die Zivil­ge­sell­schaft fin­det, muß kei­nes­wegs not­wen­dig ein lin­ker Kon­sens sein.
Der Blick auf Deutsch­land zeigt als Tätig­keits­feld der Zivil­ge­sell­schaft den „Kampf gegen Rechts”. Doch was sich hier „zivil­ge­sell­schaft­lich” nennt, ist oft genug eine staat­li­che Ver­an­stal­tung. Denn der Staat in der Bun­des­re­pu­blik ver­sucht dort, wo die Zivil­ge­sell­schaft ihren angeb­li­chen „Pflich­ten” zur eman­zi­pa­to­ri­schen Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Gesell­schaft nicht mehr nach­kommt, ent­we­der zivil­ge­sell­schaft­li­ches Han­deln zu för­dern oder sogar selbst zu organisieren.

Wie weit die­se staat­li­che Len­kung den ursprüng­li­chen Sinn der Zivil­ge­sell­schaft als nicht­staat­li­cher Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on bereits in sein Gegen­teil ver­kehrt hat, zeigt das Bei­spiel des Bür­ger­meis­ters der vor­pom­mer­schen Stadt Wol­gast, Jür­gen Kanehl (SPD), der einen ört­li­chen mit­tel­stän­di­schen Dru­cke­rei­be­trieb dar­auf auf­merk­sam mach­te, daß dort auch eine rech­te Zeit­schrift gedruckt wur­de und, als der Besit­zer der Dru­cke­rei die­se Auf­trä­ge nicht sofort stor­nier­te, die­sem von der Stadt damit gedroht wur­de, alle staat­li­chen Auf­trä­ge zu ent­zie­hen. Der Dru­cker gab schließ­lich nach, distan­zier­te sich von dem rech­ten Druckerzeug­nis, das er nie gele­sen hat­te und ent­schul­dig­te sich öffent­lich. Er behielt die staat­li­chen Auf­trä­ge; in der Öffent­lich­keit wur­de dies als Sieg „zivil­ge­sell­schaft­li­cher Initia­ti­ven” gefei­ert. Natür­lich han­delt es sich hier­bei kei­nes­wegs um eine zivil­ge­sell­schaft­li­che Akti­on, son­dern um eine staat­li­che, die eine nach Mei­nung staat­li­cher Stel­len wünsch­ba­re Akti­on aus der Zivil­ge­sell­schaft nun­mehr selbst vor­nimmt. Man mag das Han­deln des Bür­ger­meis­ters für berech­tigt hal­ten oder nicht, nur eines ist es eben sicher nicht: zivil­ge­sell­schaft­lich. Das trifft letzt­lich auch auf die meis­ten staat­lich finan­zier­ten „zivil­ge­sell­schaft­li­chen” Orga­ni­sa­tio­nen zu.
Bei­spie­le sol­cher schein-zivil­ge­sell­schaft­li­chen Aktio­nen staat­li­cher Insti­tu­tio­nen gibt es seit eini­gen Jah­ren zuhauf. Kon­ten- oder Tele­fon­an­schluß­kün­di­gun­gen durch die Nach­fol­ge­or­ga­ni­sa­tio­nen des staat­li­chen Post­mo­no­pols – und auf Druck staat­li­cher Stel­len -, Stö­run­gen poli­zei­lich geneh­mig­ter Demons­tra­tio­nen durch Ange­hö­ri­ge von Staats­or­ga­nen, augen­zwin­kern­des Gut­hei­ßen von Regie­rungs­ver­tre­tern, es mit den Geset­zen nicht so genau hal­ten zu müs­sen, wenn es um die gute und rich­ti­ge Sache geht.
Der „Auf­stand der Anstän­di­gen”, der ja Ende Sep­tem­ber, Anfang Okto­ber 2000 von der Regie­rung Schrö­der aus­ge­ru­fen wur­de, ist eben­falls ein ganz klas­si­sches Bei­spiel eines Ver­suchs der Instru­men­ta­li­sie­rung der Zivil­ge­sell­schaft für staat­li­che Zwe­cke und durch den Staat. „Kam­pa­gnen gegen Rechts”, wie sie seit dem Jahr 2000 staat­li­cher­seits orches­triert wer­den, und die die Zivil­ge­sell­schaft (in die­sem Fall: Kir­chen, Gewerk­schaf­ten, Medi­en, Bil­dungs­an­stal­ten etc.) „in die Pflicht” neh­men, blei­ben nicht ohne Wirkung.
Doch hier han­delt es sich nicht um eigent­lich hoheit­li­ches Han­deln, das einem Staat qua Gesetz zukä­me, son­dern um ein qua­si-pri­va­tes Han­deln staat­li­cher Insti­tu­tio­nen, die doch eigent­lich dem staat­li­chen Neu­tra­li­täts­ge­bot ver­pflich­tet wären. Hier ist ein außer­or­dent­lich gefähr­li­cher Weg beschrit­ten wor­den, da zivil­ge­sell­schaft­li­ches Han­deln sich nicht not­wen­dig an die staat­lich garan­tier­te Gleich­be­hand­lung aller Bür­ger durch den Staat hal­ten muß. Der Staat als Mit­wir­ken­der oder Orga­ni­sa­tor zivil­ge­sell­schaft­li­chen Han­delns ver­liert also mit­tel­fris­tig zwei Eigen­schaf­ten: die der Unpar­tei­lich­keit und die der Rechts­staat­lich­keit. Er wird damit etwas, was man bis dahin nur aus Par­tei­dik­ta­tu­ren kann­te: er wird in der Behand­lung sei­ner eige­nen Bür­ger selbst Par­tei. Die Zivil­ge­sell­schaft ord­net sich ohne den Staat und sei­ne Geset­ze – und das durch gegen­sei­ti­ge Über­wa­chung und nach­bar­schaft­li­che Kon­trol­le zum Teil repres­si­ver als der Staat. Ein Staat, der ver­sucht, sei­ne Bür­ger sel­ber mit den Mit­teln der Zivil­ge­sell­schaft zu len­ken und zu mani­pu­lie­ren, setzt den Rechts­staat außer Kraft. Lang­fris­tig führt eine staat­lich gelenk­te „Zivil­ge­sell­schaft” wie­der dahin, wohin Par­tei­en immer füh­ren, wenn sie sich selbst für das Gan­ze hal­ten: güns­tigs­ten­falls zum „vor­mund­schaft­li­chen Staat”, der über das Gewis­sen sei­ner Bür­ger wacht – und der eine feh­ler­haf­te Gesin­nung bei fort­ge­setz­ter Unfolg­sam­keit bestraft. Im schlech­te­ren Fall führt sie wie­der in die Zeit vor Toc­que­ville, in die Dik­ta­tur einer Mei­nung über eine ande­re. Aus den edels­ten Grün­den – ver­steht sich.

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