Das kommt uns alles merkwürdig bekannt und modern vor. Der freie Bürger hat eine solche Angst vor dem Verdikt seiner Mitbürger, daß er in vorauseilendem Gehorsam all das in der Öffentlichkeit sagt, wovon er annimmt, daß es der vermuteten Mehrheitsmeinung möglichst nahe kommt. Gegenläufige und dissidente Tendenzen müssen mit Isolation bezahlt werden, auch wenn es sich tatsächlich möglicherweise gar nicht um eine Minderheitsmeinung handelt. Entscheidend sind (damals wie heute) Stimmung und Atmosphäre. Elisabeth Noelle-Neumann hat diesen Prozeß einmal als „Schweigespirale” bezeichnet. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, sich nicht zu isolieren. Wer also für seine Meinung Rückenwind spürt, wird sie vernehmlich kundtun. Wer sich in einer Randposition fühlt, wird tendenziell eher schweigen. Isolationsfurcht muß dem einzelnen aber gar nicht unbedingt bewußt werden. Das öffnet freilich Tür und Tor für Manipulationen des öffentlich „gefühlten Rückenwinds”.
In Zeiten von Massengesellschaft und Massenmedien ist dieser Prozeß (trotz Internet) kein privat entstehender mehr, sondern ein auch maßgeblich durch funktionierende politisch-mediale Netzwerke produzierter. In den think tanks beispielsweise, in denen die deutsche politische Konsensbildung stattfindet – von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, über die Atlantik-Brücke, das Berliner Aspen-Institut bis zur Bertelsmann-Stiftung – überall finden wir wichtige Mitglieder der deutschen Medienlandschaft wieder – und alle basteln an einem tendenziell antinationalen Konsens der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung und der unaufhörlich wiederholten „Unumkehrbarkeit” dieser Prozesse. Dies ist keine wüste Verschwörung, sondern ein öffentlich weitgehend transparenter Vorgang.
Nehmen wir die political correctness: Sie ist keine geistig eigenständige Willensäußerung. Sie ist nicht einmal genuin links, sondern der Konsens- und Gehorsamsreflex der bürgerlichen Gesellschaft auf die bestehende linke Hegemonie in den Fragen politischer (nicht wirtschaftlicher) Definitionen – ohne daß die komplizierten Begründungsgebäude übernommen werden müßten. Die Mechanismen sind seit Tocqueville sehr ähnlich. Dabei muß sich der politisch Korrekte im Zweifelsfall nicht von einer Aussage distanzieren, sondern von dem Aussagenden: Denn die Urangst des politisch Korrekten ist der Beifall von der falschen Seite.
Auch das Diktum Max Hildebert Boehms: „Der bürgerliche Mensch als solcher ist feige” dürfte den meisten Konservativen und Rechten in diesem Zusammenhang bekannt vorkommen. Denn die Hegemonie in der Zivilgesellschaft verstärkt sich unter normalen Umständen laufend selbst. Sie produziert unentwegt Zeitgeistverstärker: Nicht selten ist das Phänomen zu beobachten, daß auch Menschen, die innerlich mit bestimmten herrschenden Meinungen nicht konform gehen, diese herrschende Meinung in der Öffentlichkeit auf das Bestimmteste vertreten und sogar Zweifelnde auf die allgemein vertretene Linie hin nach außen barsch zurechtweisen. Der dadurch entstehende gesellschaftliche Konformismus, eine Art vorauseilender zivilgesellschaftlicher Gehorsam, ist ein wesentliches Kennzeichen der inneren Stabilität der Zivilgesellschaft und zentraler Bestandteil ihrer Konsensbildung.
Nichts könnte daher unzutreffender sein, als von der Zivilgesellschaft und der Hegemonie als einem Zustand der optimalen Meinungsfreiheit zu sprechen. Der Zwang – die „Panzerung”, von der Gramsci spricht – kommt also nicht erst durch die staatlich organisierte „politische Gesellschaft” in die Welt, sondern wohnt bereits der konsensorientierten Zivilgesellschaft von Anfang an inne. Die Zweiteilung von Zwang und Konsens ist eben deshalb falsch, weil die Konsensfindung selbst auch ein Akt des Ausschließens dissenter Meinungen ist und sein muß.
Wenn Immanuel Kant den Prozeß der Aufklärung als Gebrauch des eigenen Verstandes „ohne fremde Anleitung” versteht, so ist damit bei weitem nicht nur der staatliche Unterdrückungsmechanismus gemeint, den Kant ja selbst durch die preußischen Zensurbehörden des Herrn Wöllner zur Genüge kannte, sondern auch der der gegenseitigen bürgerlichen Konsensfindung. Der Mechanismus dieser Konsensfindung, die auf dem Schulhof damit beginnt, daß bestimmte Dinge cool sind, andere aber nicht, daß bestimmte Mitschüler ausgegrenzt werden oder sonst ein anderer Gegenpol (häufig in der Erwachsenenwelt) gesucht wird, um die eigene Identität zu finden, ist bekannt. Sie setzt sich fort in kultureller und subkultureller Identitätsfindung, die gesellschaftliche Konsense oder auch nur Subkonsense einzelner Gruppen findet.
War noch Lenin der Meinung, in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beruhe die Machtausübung der „herrschenden Klasse” überwiegend auf Mechanismen der staatlichen Unterdrückung, die allein durch die Revolution überwunden werden müßten, sah man bald, daß die „westlichen” bürgerlichen Gesellschaften so nicht funktionierten. Der sozialrevolutionäre Chef der ersten russischen Republik von Februar 1917, Alexander Kerenski, meinte in seinen Memoiren, daß eine relativ gut funktionierende bürgerliche Gesellschaft wie die in Deutschland einen Putsch à la Lenin nicht geduldet hätte, die russische aber ihrem eigenen Schicksal starr und regungslos zugeschaut hatte.
Als klar wurde, daß mit Lenins Revolutionstheorie irgend etwas nicht stimmen konnte, fragte sich der italienische Kommunist Antonio Gramsci, warum gerade westliche Gesellschaften, die auf einem System relativ geringer äußerer staatlicher Repression und hoher innergesellschaftlicher Organisations- und Kontrollmechanismen beruhten, relativ stabiler erschienen als Gesellschaften mit einem starken staatlichen Kontrollapparat. Die relative Stabilität des (westlich-)kapitalistischen Staates mußte also noch andere Ursachen haben, als die bloße Repression von oben, wie sich die meisten Kommunisten angewöhnt hatten zu denken. Gramsci kam zu dem Ergebnis, daß es eben diese relativ staatsferne Zivilgesellschaft war, die eine systemstabilisierende Hegemonie aufzurichten imstande war. Systemstabilisierend deshalb, weil eine Zivilgesellschaft auf die Herstellung von allgemeinem Konsens gerichtet ist.
Die Zivilgesellschaft, ein heute von der radikalen Linken bis in die CDU hinein inflationär gebrauchter und durchweg positiv besetzter Begriff, basiert auf den Vorstellungen Gramscis. Der maxistische Diskurs griff die Bestimmung Hegels auf, der die „bürgerliche Gesellschaft” als die Sphäre der Partikularinteressen und Einzelbedürfnisse, des universellen Egoismus’, definierte, der gegenüber erst der Staat die einheitsstiftende und verantwortliche Gestaltung des Gemeinwesens im Interesse aller berücksichtige. „Bürgerliche Gesellschaft”, das klingt im Deutschen allerdings nur wenig hinreißend.
Als Rückübersetzung von société civile, civil society oder società civile des Hegelschen Begriffs kehrt die „bürgerliche Gesellschaft” (so wurde das Phänomen im Anschluß an Hegel und Marx vor 1990 bezeichnet) über Gramsci als „Zivilgesellschaft”, pünktlich zum 100. Geburtstag des italienischen Kommunisten, 1991, nach Deutschland zurück, um eine erstaunliche Karriere zu machen, die ihr wohl unter der alten Bezeichnung nicht vergönnt gewesen wäre. Die Rückübersetzung des Begriffs società civile nicht als Begriff „bürgerliche Gesellschaft”, wie wir sie von Hegel und Marx kennen, sondern als Begriff „Zivilgesellschaft” verdankt sich den deutschen Übersetzern der Gefängnishefte, einer Gruppe um Wolfgang F. Haug und die Hamburger marxistische Theorie-Zeitschrift Das Argument.
Erst seit diesem Jahr wird massiv der Begriff „Zivilgesellschaft” in der deutschsprachigen Diskussion eingeführt. Auch die führende deutsche Gramsci-Kennerin, Sabine Kebir, hatte noch in den 1980er Jahren dafür durchgehend den Begriff „bürgerliche Gesellschaft” verwendet.
Zwei Dinge nun faszinieren die Linke seit etwa 1990 an der „Zivilgesellschaft”: zum einen ihre Stabilität, zum anderen ihre angebliche Staatsferne, die es erleichtert, den Begriff stillschweigend normativ umzubiegen. Diese „Staatsferne” beruht jedoch mindestens teilweise auf einem Mißverständnis, denn in Wirklichkeit sind, so Gramsci, Staat und Zivilgesellschaft ein und dasselbe, so daß auch der Liberalismus „eine ‚Regulierung‘ staatlicher Natur ist, eingeführt und aufrechterhalten auf dem Wege der Gesetzgebung und des Zwanges”. Diese Deutung von Zivilgesellschaft entwickelt für die heutige, stark enttheoretisierte Linke einen gewissen Charme: Denn in dieses nicht-staatliche Konzept können, da es tatsächlich ein ideologisch neutrales Konstrukt ist, allerlei Träume und Vorstellungen hineingegossen werden, etwa die einer nicht-staatlichen „Selbstregierung der assoziierten Individuen”. Dieses Konzept schloß nahtlos an den intellektuellen Bankrott der orthodoxen, halborthodoxen oder maoistischen Linken an und hat bis heute bei den westlichen Linken als Gesellschaftskonzept nichts von seiner Anziehungskraft verloren.
Es ist kein Zufall, daß sich mit dem semantischen Trick der Umbenennung von „bürgerlicher Gesellschaft” in „Zivilgesellschaft” in der Zeit des Umbruchs 1989/90 auch der deutschen Linken nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus” ein neues Feld der linken Utopie eröffnete. Ausgeweitet auf eine „Weltzivilgesellschaft” verwendet die UNO den Begriff seit den 1990er Jahren – und meint damit ein globales und supranationales Wirtschaftssystem, geregelt durch die WTO und fern von demokratisch legitimierten Instanzen wie den Parlamenten. Hand in Hand mit dieser Geringschätzung des Souveräns arbeiten die ebenfalls nicht legitimierten NGOs.
Inzwischen wird dieses von der UNO befürwortete System der „Weltzivilgesellschaft” wiederum nur noch verkürzt „Zivilgesellschaft” oder „zivilgesellschaftlich” genannt, was zusätzliche Begriffsverwirrung beschert. Doch der Konsens, den die Zivilgesellschaft findet, muß keineswegs notwendig ein linker Konsens sein.
Der Blick auf Deutschland zeigt als Tätigkeitsfeld der Zivilgesellschaft den „Kampf gegen Rechts”. Doch was sich hier „zivilgesellschaftlich” nennt, ist oft genug eine staatliche Veranstaltung. Denn der Staat in der Bundesrepublik versucht dort, wo die Zivilgesellschaft ihren angeblichen „Pflichten” zur emanzipatorischen Selbstorganisation der Gesellschaft nicht mehr nachkommt, entweder zivilgesellschaftliches Handeln zu fördern oder sogar selbst zu organisieren.
Wie weit diese staatliche Lenkung den ursprünglichen Sinn der Zivilgesellschaft als nichtstaatlicher Selbstorganisation bereits in sein Gegenteil verkehrt hat, zeigt das Beispiel des Bürgermeisters der vorpommerschen Stadt Wolgast, Jürgen Kanehl (SPD), der einen örtlichen mittelständischen Druckereibetrieb darauf aufmerksam machte, daß dort auch eine rechte Zeitschrift gedruckt wurde und, als der Besitzer der Druckerei diese Aufträge nicht sofort stornierte, diesem von der Stadt damit gedroht wurde, alle staatlichen Aufträge zu entziehen. Der Drucker gab schließlich nach, distanzierte sich von dem rechten Druckerzeugnis, das er nie gelesen hatte und entschuldigte sich öffentlich. Er behielt die staatlichen Aufträge; in der Öffentlichkeit wurde dies als Sieg „zivilgesellschaftlicher Initiativen” gefeiert. Natürlich handelt es sich hierbei keineswegs um eine zivilgesellschaftliche Aktion, sondern um eine staatliche, die eine nach Meinung staatlicher Stellen wünschbare Aktion aus der Zivilgesellschaft nunmehr selbst vornimmt. Man mag das Handeln des Bürgermeisters für berechtigt halten oder nicht, nur eines ist es eben sicher nicht: zivilgesellschaftlich. Das trifft letztlich auch auf die meisten staatlich finanzierten „zivilgesellschaftlichen” Organisationen zu.
Beispiele solcher schein-zivilgesellschaftlichen Aktionen staatlicher Institutionen gibt es seit einigen Jahren zuhauf. Konten- oder Telefonanschlußkündigungen durch die Nachfolgeorganisationen des staatlichen Postmonopols – und auf Druck staatlicher Stellen -, Störungen polizeilich genehmigter Demonstrationen durch Angehörige von Staatsorganen, augenzwinkerndes Gutheißen von Regierungsvertretern, es mit den Gesetzen nicht so genau halten zu müssen, wenn es um die gute und richtige Sache geht.
Der „Aufstand der Anständigen”, der ja Ende September, Anfang Oktober 2000 von der Regierung Schröder ausgerufen wurde, ist ebenfalls ein ganz klassisches Beispiel eines Versuchs der Instrumentalisierung der Zivilgesellschaft für staatliche Zwecke und durch den Staat. „Kampagnen gegen Rechts”, wie sie seit dem Jahr 2000 staatlicherseits orchestriert werden, und die die Zivilgesellschaft (in diesem Fall: Kirchen, Gewerkschaften, Medien, Bildungsanstalten etc.) „in die Pflicht” nehmen, bleiben nicht ohne Wirkung.
Doch hier handelt es sich nicht um eigentlich hoheitliches Handeln, das einem Staat qua Gesetz zukäme, sondern um ein quasi-privates Handeln staatlicher Institutionen, die doch eigentlich dem staatlichen Neutralitätsgebot verpflichtet wären. Hier ist ein außerordentlich gefährlicher Weg beschritten worden, da zivilgesellschaftliches Handeln sich nicht notwendig an die staatlich garantierte Gleichbehandlung aller Bürger durch den Staat halten muß. Der Staat als Mitwirkender oder Organisator zivilgesellschaftlichen Handelns verliert also mittelfristig zwei Eigenschaften: die der Unparteilichkeit und die der Rechtsstaatlichkeit. Er wird damit etwas, was man bis dahin nur aus Parteidiktaturen kannte: er wird in der Behandlung seiner eigenen Bürger selbst Partei. Die Zivilgesellschaft ordnet sich ohne den Staat und seine Gesetze – und das durch gegenseitige Überwachung und nachbarschaftliche Kontrolle zum Teil repressiver als der Staat. Ein Staat, der versucht, seine Bürger selber mit den Mitteln der Zivilgesellschaft zu lenken und zu manipulieren, setzt den Rechtsstaat außer Kraft. Langfristig führt eine staatlich gelenkte „Zivilgesellschaft” wieder dahin, wohin Parteien immer führen, wenn sie sich selbst für das Ganze halten: günstigstenfalls zum „vormundschaftlichen Staat”, der über das Gewissen seiner Bürger wacht – und der eine fehlerhafte Gesinnung bei fortgesetzter Unfolgsamkeit bestraft. Im schlechteren Fall führt sie wieder in die Zeit vor Tocqueville, in die Diktatur einer Meinung über eine andere. Aus den edelsten Gründen – versteht sich.