Schlattners Werke findet man in wohl jeder transsylvanischen Buchhandlung, ebenso in rumänischen Schulbüchern für den Deutschunterricht. Er lebt nahe Hermannstadt/Sibiu als Pfarrer einer fast aufgelösten deutsch-evangelischen Gemeinde in dem Dorf Rothberg/Rosia, das heute weitgehend von Roma-Familien besiedelt ist.
Ich hatte bei meinem Besuch Schlattners autobiographisch angelehnten Roman „Rote Handschuhe“ im Gepäck, der das Grauen der Häftlinge in den Gefängnissen des kommunistischen Securitate-Geheimdienstes beschreibt. Kositza und Kubitschek hatten mir zu der Lektüre geraten. Besonders das Zusammenspiel zwischen dem gefangenen Protagonisten und den ihn verhörenden Geheimdienst-Offizieren empfand ich darin einerseits als erschütternd und zugleich als sehr erhellend für das Verständnis der Denkstrukturen in geschlossenen, faktisch totalitären Systemen. Und all das erinnerte mich natürlich sofort an manche heutigen Charakterbilder, etwa jene von der „antifaschistischen“ Indoktrination in Schulen und Medien geprägten.
Der Securitate-Offizier stellt dem Häftling Fragen zu einer angeblichen Verschwörung gegen das Regime, doch die Antworten spielen gar keine Rolle. Würde der Häftling alle „Verschwörungs“-Vorwürfe, die ihm zur Last gelegt werden, zugeben, wäre das die Bestätigung des paranoiden Systems. Streitet er alles ab, so ist das eben nur geschickte Täuschung und Tarnung – und die Verhöre müssen weitergehen. Gibt er Belanglosigkeiten von sich, so wird in diesen Wortkrumen nach jenen Elementen gesucht, die die Ängste und Denkstrukturen des Anklägers stets nur bestätigen.
Das erinnert mich an zahlreiche eigene Beobachtungen. Als ein Beispiel sei nur eine Begebenheit der frühen Jugend genannt, also der Zeit vom Ende der Schulzeit bis zu den ersten Semestern des Studiums. Damals hatte ich einmal Besuch vom Bekannten einer Bekannten. Es war einer jener ganz speziellen Juso-Typen, mit denen ich damals öfters zu tun hatte (es gab natürlich auch ganz andere), und die zu anderen Zeiten durchaus das Zeug zum Securitate-Offizier oder Stasi-Spitzel gehabt hätten.
Irgendwie war ich ihm damals wohl als „konservativ“ oder „rechts“ denkend bekannt, vielleicht weil ich mich nicht in Stamokap-Theorien vertieft hatte, und folglich stöberte er mit Jägermiene gewichtig durch mein Jugendzimmer. Und stets wurde er natürlich auch fündig, stockte dann bei etwas, von dem er eigentlich partout keine Ahnung hatte, zeigte dann etwa auf die „Edda“ im Bücherregal, die ich von einer verstorbenen früheren Nachbarin geerbt hatte, und legte dann eine Sorgenmiene auf oder stellte dumm-provozierende Fragen.
Daß etwa im selben Buchregal auch „Lenin für Anfänger“ oder das „Kommunistische Manifest“ zu finden war, interessierte gar nicht. Es wurde gesucht und gefunden, was der Bestätigung der Suche diente. Es hätte auch ein Kugelschreiber, ein Werbegeschenk des örtlichen Getränkemarktes, sein können, der zufälligerweise die Farbkombination Schwarz-Rot-Gold oder gar Schwarz-Weiß-Rot aufwies. Der Stöberer findet stets und hatte irgendwann ausreichend Stoff, um mit dem gewünschten Verhör loslegen zu können.
Aus der historischen Ferne gelesen, erscheinen die Begebenheiten in Schlattners Roman in absurdem Licht, weiß man doch um das drei Jahrzehnte später nahende Ende des Securitate-Regimes. Auch wenn, wie im gesamten Ostblock, die Täter selten bestraft wurden und sich statt dessen noch Pensionen oder lukrative Posten sicherten. Doch stellt sich die Situation für Betroffene ganz anders dar, wenn sie direkt in der Paranoia ihrer Zeit drinstecken, wenn das System-Ende noch nicht absehbar ist, statt dessen eher das eigene Verschwinden in den Mühlen der Repression sehr konkret erscheint.
Interessant an Schlattners Sezierung des Kommunismus ist dabei, daß die Täter, sofern sie sich als Ausführende in bestimmten Strukturen befinden, offenbar von der größten Angst angetrieben werden. Sie sind zwar blind in ihrem Glauben an die Vorsehung, wissen aber zugleich um die Gefährlichkeit des Systems. Auch und vor allem wer oben ist, kann aus nichtigen Gründen schnell abstürzen und sich selber als „Klassenfeind“ in einer kleinen Zelle wiederfinden. Vielleicht läßt sich auch das zum Teil auf einige der heutigen gruppendynamischen Prozesse, die im Zuge so mancher „political correctness“ stattfinden, übertragen.