plane. Es werde die Meinungsfreiheit zum Thema haben, und überhaupt sei seine Aufgabe die Herbeiführung von Glasnost und Perestroika in Deutschland.
Ich habe diese Äußerungen gut nutzen können für meine grundsätzliche Situationsanalyse des “Falls Sarrazin” bei der gestrigen Podiumsdiskussion in München.
Glasnost ist mit “Transparenz”, Perestroika mit “Umgestaltung” oder “Reform” ganz gut übersetzt. Der Journalist Alexander Kissler, der mit mir auf dem Podium saß, hat zurecht gesagt, daß ihn die Unbescheidenheit Sarrazins doch verblüffe: Schließlich handelte es sich bei diesen beiden Wörtern um welthistorische Begriffe, um zunächst systemstützende Reformvokabeln, die letztlich eine revolutionäre, systemstürzende Dynamik ausgelöst hätten. Er sehe zum einen nicht, woran Sarrazin eine ähnliche Wirkung seines Buches ablesen wolle; und zum anderen hoffe er sehr, daß eine systemstürzende Dynamik diesmal ausbleibe. Er käme ganz gut noch viele Jahre mit der in keiner Weise totalitären Bundesrepublik zurecht.
Ich meine (und sagte das gestern auch), daß wir die Wirkung von Deutschland schafft sich ab noch nicht abschätzen können, und ich halte Spekulationen und Prognosen über das, was stehen und was stürzen wird, für interessant, aber nicht vor vordringlich. Wichtig ist derzeit doch etwas anderes: Sarrazin hat in den vergangenen Monaten festgestellt, daß er den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht hat, oder, um es mit den beiden welthistorischen Begriffen zu sagen: Er hat Glasnost (Transparenz) als etwas der Demokratie Innewohnendes ganz selbstverständlich vorausgesetzt und wollte gleich zur Perestroika (Umgestaltung, Reform) übergehen.
Mittlerweile hat er erlebt und begriffen, daß er in Deutschland mitnichten das Selbstverständliche voraussetzen kann. Er ist nur knapp und aufgrund einer Mischung zuträglicher Umstände dem Schicksal der politischen und sozialen Abdrängung in die Nische derjenigen entgangen, die anscheinend “wenig hilfreichen” für diese Gesellschaft sind. Er hat die Hintergründe für diesen Versuch einer innerstaatlichen Abschiebung genau studiert und die Analysen gelesen, mit denen Kommunikationswissenschaftler wie Hans Mathias Kepplinger ihm in derselben nüchternen Art zur Seite traten, die ihn selbst auszeichnet.
Wer nachlesen möchte, wie weit Sarrazins Desillusionierung fortgeschritten ist, muß seinen vorweihnachtlichen Beitrag für die FAZ lesen. Er macht darin aus seiner Verachtung für die politische Klasse keine Hehl, und wer dabei im Hinterkopf behält, daß Sarrazin an seinem nächsten Buch arbeitet, kann den Artikel wie ein Exposé, wie eine Grobgliederung studieren.
Sarrazin wird also wohl über die Meinungsfreiheit schreiben. Er hat das bis vor kurzem nicht für notwendig gehalten, aber mittlerweile weiß er, daß es nicht reicht, auf das grundgesetzlich garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung zu pochen. Er wird sich längst in die Schweigespirale von Elisabeth Noelle-Neumann ebenso eingearbeitet haben wie in den Strukturwandel der Öffentlichkeit von Jürgen Habermas.
Die Demoskopin Noelle-Neumann spricht in der Schweigespirale von einem “doppelten Meinungsklima” und bezeichnet damit das Auseinanderklaffen der Ansichten tonangebender Kreise auf der einen und einer mit demoskopischem Instrumentarium erfaßbaren, nicht öffentlich artikulierten Mehrheitsmeinung auf der anderen Seite. Ihr Buch ist ein Standardwerk.
Ebenso als Standardwerk gilt Strukturwandel der Öffentlichkeit. Karlheinz Weißmann hat in seinem Beitrag für unser Sonderheft Sarrazin lesen darauf hingewiesen, daß Habermas die Demoskopie stets als Feindwissenschaft begriffen habe. Dennoch sei dessen abstraktem Buch die nützliche Unterscheidung dreier Meinungsformen zu entnehmen: Die nicht-öffentliche (Privat-)Meinung ist leicht zu unterscheiden von der öffentlichen Meinung im eigentlichen Sinne. Hinzu kommt jedoch die dritte, schwerer erkennbare Form – die “quasi-öffentliche Meinung”. Sie ist in etwa das, was der bereits erwähnte Hans Mathias Kepplinger in einem Aufsatz über die gescheiterte Skandalisierung Sarrazins so ausdrückt:
In modernen, liberalen Demokratien gehen die Gefahren für die Meinungsfreiheit nicht nur von der Politik aus, sondern auch von den Medien. Die Gründe hierfür liegen vor allem in den Meinungen im Journalismus, die erheblich von jenen in der Bevölkerung abweichen, gegen die sie sich normalerweise effektiv in Szene setzen; in der wechselseitigen Orientierung der Journalisten aneinander und den damit einhergehenden Selbstgewißheiten der Meinungsführer.
Die “quasi-öffentliche Meinung” gefährdet also die Meinungsfreiheit, weil es sich (diesmal in den Worten von Habermas) um Meinungen handelt,
die in einem verhältnismäßig engen Kreislauf über die Masse der Bevölkerung hinweg zwischen der großen politischen Presse, der räsonierenden Publizistik überhaupt, und den beratenden, beeinflussenden, beschließenden Organen mit politischen oder politisch relevanten Kompetenzen zirkulieren.
Was beutet Glasnost vor solchen ziemlich simplen, ziemlich offenkundigen Mechanismen der Meinungsbesetzung, Deutungsverteidigung und Debattenverhinderung? Glasnost bedeutet, diese Vorgänge transparent zu machen, und zwar auf eine so machtvolle Weise, daß diejenigen, die die trüben Scheiben polieren, nicht als “Quartalsirre” oder paranoide Verschwörungstheoretiker stigmatisiert und ins Abseits geschoben werden können.
Für die Veranstaltung, die wir gestern im Gasteig in München – also an zentralem, öffentlichem Ort – über Sarrazin abhielten, hatten wir rund zehn mögliche linke oder eher linke Podiumsteilnehmer um Teilnahme angefragt. Keiner sagte zu. Ich bin überzeugt, daß die Absagen aus zweierlei Gründen erfolgten: Zum einen hält man das Schneiden, Abdrängen und Beschweigen unserer Positionen noch immer für die beste Methode der jahrelang wie geschmiert laufenden Verteidigung des linken Selbstbildes; zum andern – und das wiegt schwerer – wissen die möglichen Kontrahenten, daß sie auf einem Feld anzutreten hätten, auf dem wir jedes Argument kennen und auf dem Sarrazin tatsächlich den finalen Beweis dafür erbracht hat, daß unsere Bestandsaufnahmen stimmen: Debattenverhinderung ist nichts anderes als die fortgesetzte “Verschleierung eigener Fehler und Versäumnisse” (abermals Kepplinger).
Im Aprilheft der Sezession vom vergangenen Jahr habe ich einen Briefwechsel abgedruckt, den ich mit dem Schriftsteller Richard Wagner führte. In diesem Briefwechsel ist die Problematik der Meinungsfreiheit in Deutschland ausgeführt und mit Schlüsselbegriffen abgesteckt. Von dem Briefwechsel ist hier ein Teil nachzulesen, die Druckausgabe (Heft 35) mit dem vollständigen Text ist hier verfügbar. Wir sandten das Heft Thilo Sarrazin seinerzeit zu, weil auch über ihn ein Beitrag darin handelte (“Sarrazin und seine Gegner”). Er bedankte sich und schrieb, daß er aus dem Briefwechsel mit Richard Wagner Aufschlußreiches über ein wichtiges Thema gelesen habe.
Es scheint, als würde dieses Thema nun zu seinem Thema, weil vor der Perestroika zunächst Glasnost von Nöten ist.
Martin
"Weh uns, wenn sich die Verhältnisse, in denen wir uns so behaglich und selbstgerecht aufgehoben fühlen, einmal zu unseren Ungunsten ändern sollten. Wir werden uns dann wundern über den überbordenden Opportunismus und die kriecherische Feigheit rings um uns."(Sarrazin - im verlinkten FAZ Artikel)
Dieser Satz hat in der heutigen Zeit allgemeingültigen Charakter und gilt für mich im Übrigen daher auch dann, wenn wider der derzeitigen Lage die Staatsvergötterer und Neo-Preußen der "neuen rechten" mal was zu sagen hätten ...