über eine neonazistische Terrorzelle bieten eine willkommene Ablenkung: weg vom kriselnden Euro und hin zum ewigen Hitler in uns. Eine kontrollierte Hysterie könnte psychologisch den Boden bereiten für geplante Gesetzes- und Verfassungsänderungen.”
Neonazistischer Terror-Popanz zur Erneuerung und Verfestigung der deutschen NS-Traumatisierung also? Zu einem Zeitpunkt, an dem die Deutschen als Zahlmeister Europas gefragt sind wie nie zuvor und an dem sie beim Blick auf Griechenland, Italien oder die USA von einer Ahnung an Stolz auf die eigene, bessere Position beschlichen werden? Ein Schlag mit der Faschismus-Keule auf den Kopf einer wiederum ein vorsichtiges Schrittchen mehr selbstbewußten Nation?
Nehmen wir Spiegel-Online, das mit Abstand am meisten gelesene Nachrichtenportal deutscher Zunge. Der unsägliche Jakob Augstein benennt dort in kaum zu unterbietendem intellektuellem Tiefflug Stefan Georges Wort vom “Geheimen Deutschland” als jenen Ort, aus dem das Böse krieche – es liegt irgendwo zwischen Schwerin und Schmalkalden, Eisenach und Eisenhüttenstadt und ist von frustrierten jungen Männern besiedelt. Augstein behauptet allen Ernstes, die BRD habe im Kampf gegen rechts versagt und zieht Vergleiche zu den nationalistischen Morden aus der Revolutionszeit nach 1918. Ich verlinke auf Augsteins Beitrag nicht, er wird so oder so von viel zu vielen Leuten gelesen, heute.
Derweil geben sich die Politiker in der Kölner Keupstraße ein Stelldichein: Dort expoldierte am 9. Juni 2004 die Nagelbombe, für die ebenfalls das Zwickauer Trio verantwortlich gewesen sein soll. Der Spiegel-Online-Bericht über den SPD-Chef im Friseursalon von Özcan Yildirim ist an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Siegmar Gabriel entschuldigt sich bei einer Tasse Tee medienwirksam für die Taten seiner deutschen Terrorlandsleute, als es draußen vor dem Schaufenster zu rumoren beginnt. Ein paar Dutzend Leute wollen ins Geschäft drängen. Gabriels Personenschützer werden angewiesen: “Lassen Sie die Journalisten erstmal draußen.”
“Das sind keine Journalisten”, entgegnet umgehend ein großer Mann von der Spitze des Zuges. “Das ist die Bürgermeisterin von Köln, Frau Scho-Antwerpes.” Gabriels Gehilfe entschuldigt sich, doch die Bürgermeisterin von Köln muss trotzdem in der Kälte ausharren, genau wie die TV-Teams und Fotografen, die Hörfunkredakteure und Schreiber. “Ich kann auch wieder gehen, ich habe wirklich genug zu tun”, faucht Elfi Scho-Antwerpes – und rührt sich nicht von der Stelle.
Gesine Lötzsch (Bundesvorsitzende der Linken) war auch schon da, andere werden folgen und sich für ein paar Pressefotos erneut von ihrem Volk distanzieren.
Neben die Berichte über die Terror-Zelle, den “Tröster-Karneval” (nicht von mir!) und den geistigen Stuhlgang Jakob Augsteins hat Spiegel-Online eine interaktive Graphik über die braunen Zentren Deutschlands plaziert: Deutschland ist überall ein bißchen braun, am braunsten aber in den fünf Bundesländern jenseits der Umerziehungsgrenze. Die allgemeine Bedrohungslage ist damit visualisiert, und seit einer Woche diskutieren auch wir nicht mehr darüber, daß sich “unsere Ersparnisse, Lebensversicherungen und Altersvorsorgen verflüssigen” (Thorsten Hinz), sondern, daß es gut sein wird, wenn wir endlich von unserem Nazi-Gen befreit werden.
So interessant es wieder einmal war, sich in die Absurditäten und Verwirrungen der angeblich nun endgültig entdeckten Braunen Armee Fraktion zu beschäftigen – so müßig ist es andererseits, zu sehr eine reine Zeitverschwendung des Gaffens: Die Ereignisse ziehen über uns hinweg, man glaubt am Ende, was man glauben will und weiß genauso gut Bescheid wie über den Kenndy-Mord, das Okoberfest-Attentat, den Tod Barschels, den 9. September oder die Lebkuchenmesser-Attacke auf Herrn Mannichl.
Zwischenzeitlich wird sich der Rest an nationaler Souveränität auch noch verflüssigen, der deutsche, braune Impuls wird sich in einem völlig geeinten Europa auflösen, endlich. Vielleicht wäre es angesichts der Unaufhaltsamkeit der Ereignisse in den vergangen Tagen sinnvoller gewesen, altgriechische Vokabeln zu rekapitulieren oder ein Stückchen Gartenlandes umzugraben, bevor der Frost kommt.
Leser
Ich für meinen Teil habe die letzte Woche nur den Lokalteil in der Zeitung gelesen und auf sonstige Nachrichten verzichtet. Stattdessen habe ich meine Feierabende mit Klassikern verbracht, die ich bisher noch nicht gelesen habe. Da ist der geistige Ertrag ungleich größer.
Ich weiß allerdings auch, daß Sie kaum umhinkommen, diesbezüglich auf dem neuesten Stand zu sein, respektive sich dazu zu äußern, auch wenn die Beschäftigung damit, wie Sie selbst sagten, mehr als unbefriedigend ist.