in ihr zu lesen, es erfordert Zeit und sorgt über diese Dauer für manch ungewollten Kalauer: »Sag, weißt du, wo die deutsche Seele ist?« – »Ich hab sie zuletzt auf dem Kachelofen gesehen – oder in der Sauna?«
Thea Dorn, die blitzgescheite 41jährige Tausendsassa (Krimischriftstellerin, Philosophin, Film- und Theaterautorin, TV-Moderatorin) und Richard Wagner, der 59jährige banatstämmige Schriftsteller, haben sich auf Erkundungsgang durch das Innere unseres Wesens gemacht und 64 Stichpunkte versammelt, unter denen sie der »deutschen Seele« auf den Grund gehen wollen.
Dafür, daß sie ihr Unternehmen mit tüchtiger Empathie, ja Sympathie angehen, mag bereits sprechen, daß Stichwörter wie Besserwisserei, Ungastlichkeit und (Über)Pünktlichkeit fehlen; statt Lästereien über den deutschen Schilderwald finden wir einen launigen und einen kundigen Eintrag zu »Bruder Baum« und zur »Waldeinsamkeit«. Und überhaupt: daß die Autoren davon ausgehen, es gäbe dies noch, einen deutschen Nationalcharakter, eine eingrenzbare Eigenart, in Zeiten global glattgestriegelter Befindlichkeiten!
Dorn und Wagner belassen es nicht beim Beäugen neudeutsch-anerzogener Neurosen, sie wühlen tüchtig in den Trümmern der Zeiten, um urdeutsche Blüten, Früchte und Kuriosa zu bergen. Es ist geistes- und mentalitätsgeschichtliche Schwerstarbeit, die hier geleistet wird. Ein Wunder, daß diese Anstrengung dabei tänzerisch leicht wirkt, neben aller Gelehrsamkeit von Schreiblust zeugt und ein wahres Lesevergnügen ist!
Manche Lemmata werden pointiert auf wenigen Seiten abgehandelt (»Schadenfreude« und »Weihnachtsmarkt«); zu den hervorragenden Artikeln zählen die längsten Stücke, die der Deutschen Neigung zum »Abgrund«, zu »Krieg und Frieden«, zum »Weib« und zur »Musik« gewidmet sind. Wir lernen das Deutsche sowohl aus seiner Volksmitte als auch von seinen Rändern her zu begreifen.
Wer kennt schon Heinrich Pudor, jenen Autor der Aphorismensammlung Nackende Menschen jauchzen der Zukunft, der »in Pogromstimmung« gerät, sobald er ein einengendes Frauenkorsett erblickt (Stichwort »Freikörperkultur«), wer hätte schon vom Oberrieder Stollen gehört, jenem atomkriegssicheren Kulturbunker im Schwarzwald, wo in Edelstahlfässern über eine Milliarde Dokumente der deutschen Geschichte auf Mikrofilm gebannt schlummern?
Zu Hitler gibt es gemäß Register elf Fundstellen, er fällt, aufs Gesamte gesehen, etwas schwerer ins Gewicht als E. T. A. Hoffmann und Bertolt Brecht – von Schiller, Goethe, Luther, dem (Leipziger) Wagner, Nietzsche und selbst Napoleon ist häufiger die Rede.
Gelegentliche Einwände bei der Lektüre (etwa, daß »Kitsch« Russen und Südeuropäern womöglich vertrauter ist als uns, daß »Rabenmutter« seit vielen Jahren hierzulande nicht in bezichtigender Absicht verwendet wird, daß Riefenstahls Das blaue Licht unter dem Stichwort »Bergfilm« unzureichend interpretiert wird) trüben die Lesefreude nicht, sondern laden gerade zu vertiefter Auseinandersetzung ein.
Dem, der eine gewisse Leseerfahrung mit beiden Autoren hat, wird meist nach den ersten Sätzen deutlich, ob der jeweilige Artikel der luziden, teils sehr beschwingten Feder Dorns oder der des melancholisch-sachlichen Wagner entstammt – es ist eine anregende Mischung.
Dem Begriff »Heimat« nähert sich der Banater Schwabe aus der Sicht eines Mitglieds der deutschen Minderheit. »Wir waren Deutsche, wir legten Wert darauf, es zu sein. Man konnte jeden Augenblick zum Rumänen werden, ohne es zu erkennen, wie wir befürchteten.« Auf dem Akkordeon spielte er das Deutschlandlied und sang dazu, in aller Treuherzigkeit: »Ich hätte mir nicht vorstellen können, daß ein Lied mit der dritten Strophe beginnt.« Das ganze Gerede über Migration und Integration spare ja eines aus, schreibt Wagner, das Deutsche nämlich. »Ja, wir haben es vergessen. Manche meinen sogar, es sei gut gewesen, das alles zu vergessen, daß es Schnee von gestern sei, der unter Umständen wie Blei liegen würde. Diesen schweren Schnee, wer möchte ihn schon heben? Wer, wenn nicht wir?«
Die deutsche Seele ist ein Wälzer, der sowohl zur vertieften Lektüre als auch zum Schmökern einlädt. Den Genuß bereichert der gelungene Griff ins Bilderarchiv. Ein Holzstich von 1870/71 zeigt uns das Königlich Preußische Etablissement zur Fabrikation von Erbswürsten für die Armee (»Arbeitswut«); wir sehen ferner einen modernistischen Wehrmachtsbunker am Atlantikwall (»Bauhaus«), das Geburtshaus des Jeans-Erfinders Levi Strauss in Buttenheim (»Fachwerk«), Hermann Hesse beim Nacktklettern (»Freikörperkultur«) sowie Paul Breitner im Wohnzimmer unter einem Mao-Plakat.
Nach einem profunden Ritt zwischen Himmel und Hölle, zwischen »Arbeitswut«, »Reinheitsgebot« und »Gemütlichkeit«, widmet sich Thea Dorn als letztem Stichwort der »Zerrissenheit« und bittet, man möge genau diese ihr lassen. »Sie ist das Beste, was ich habe.« Wenn aus solch überschwenglicher Ambivalenz eine derart formidable Seelenkunde erwächst, dann wollen wir sie lieben; diese, ach, zwei Seelen.
Thea Dorn/ Richard Wagner: Die deutsche Seele. 560 Seiten, gebunden, 26,99 €.