Vaterlose Gesellen – das Beispiel Ludin

pdf der Druckfassung aus Sezession 21/Dezember 2007

sez_nr_213Ludin? Wir (wenigstens die Internet-Suchmaschine google tut dies) assoziieren zuvörderst den Vornamen Fereshta: So heißt die „deutsche" Lehrerin aus Afghanistan, die den Kopftuchstreit auslöste, einen Justizfall, in dem Frau Ludin ihren betuchten Kopf letztlich nicht durchsetzen konnte.
Dann: Ludin, der Zweite (nach google-Hierarchie), wieder eine „Haupt"-sache, wieder justitiabel: Hanns Elard Ludin hielt vor sechzig Jahren seinen Kopf hin. Am 9. Dezember 1947 ließ die tschechoslowakische Regierung den ehemaligen SA-Führer und späteren Gesandten in der Slowakei strangulieren. Ludin hinterließ seine Frau und sechs Kinder. Diese Kinder, vier Töchter und zwei Söhne, gingen ihren Weg fortan vaterlos.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.


Daß die Ältes­te, Eri­ka, und der Zweit­jüngs­te, Mal­te, an ihrem Vater geschei­tert sind, legen zwei Ver­öf­fent­li­chun­gen nahe: Mal­te Ludin (gebo­ren 1942, Diplom-Poli­to­lo­ge und Regis­seur unter ande­rem von Kin­der­fil­men wie Mulo, eine Zigeu­ner­ge­schich­te und Scha­lom Tat­ja­na) dreh­te 2004 den Film über 2 oder 3 Din­ge, die ich von ihm weiß. 2005 lief die hoch­emo­tio­na­le, gera­de­zu gespens­tisch anmu­ten­de Fami­li­en­do­ku in (Pro­gramm-) Kinos und im Fern­se­hen. Im Sep­tem­ber zeig­te die ARD aber­mals die­se oppor­tu­ne zwei­te Hin­rich­tung des Hanns Ludin, die zuvor in zahl­lo­sen Rezen­sio­nen (die weni­gen kri­ti­schen Bespre­chun­gen der DVD führt die offi­zi­el­le Film­sei­te nicht auf) als ful­mi­nan­ter Tabu­bruch gefei­ert wurde.
Eri­ka wie­der­um schrieb oder film­te nicht selbst, son­dern fand in ihrer Toch­ter Alex­an­dra (also der Enke­lin des Hanns Ludin) eine empha­ti­sche Bio­gra­phin: 2007 erschien das Buch Schwei­gen tut weh. Das Titel­bild zeigt in sug­ges­ti­ver Nah­auf­nah­me die klei­ne „Eri” bei einer offi­zi­el­len Blüm­chen­über­ga­be an Hit­ler: Der Vater – augen­fäl­lig der Kon­trast zwi­schen sei­nem Lächeln und dem wuch­ti­gen Leder­hand­schuh auf Eri­kas Rücken – führt die adrett geklei­de­te, bezopf­te klei­ne Toch­ter dem Füh­rer zu, der sich (eben­falls unter dem Schirm der Uni­form­müt­ze her­vor­lä­chelnd) zum sich ker­zen­ge­ra­de hal­ten­den Mäd­chen niederbeugt.
Mal­te Ludin und Alex­an­dra Senfft: Bei­de, der Sohn wie die Enke­lin, ope­rie­ren argu­men­ta­tiv – direkt oder indi­rekt – mit dem Mit­scher­lich-Best­sel­ler Die Unfä­hig­keit zu trau­ern. Daß der Ahn ein Kriegs­ver­bre­cher und, mehr noch, Täter mit bes­tia­li­schem Poten­ti­al, gewe­sen sei und daß sich gera­de sei­ne Töch­ter die­sem axio­ma­tisch immer und immer wie­der her­vor­ge­brach­ten Sach­be­stand ver­wei­ger­ten, – dies wur­de bei­der­seits als Erbe angenommen.
Zumin­dest für die Erläu­te­rung von Mal­te Ludins Kla­ge­feld­zug wäre ein eben­so popu­lä­res Buch aus der Feder des Psy­cho­ana­ly­ti­kers Alex­an­der Mit­scher­lich als Inter­pre­ta­ti­ons­grund­la­ge dien­lich: Auf dem Weg zur vater­lo­sen Gesell­schaft. Die Vater­lo­sig­keit ist bei Ludin jun. kei­ne Opti­on, kei­ne gleich­sam meta­phy­si­sche Gege­ben­heit (im Sin­ne eines klas­si­schen ödi­pa­len Kon­flikts), son­dern, ganz real­prak­tisch, die Grund­la­ge. Sich des Vaters, den er leib­lich zeit­le­bens ent­behr­te, auch geis­tig zu ent­le­di­gen, des­sen Erbe so weit als mög­lich in den Wind zu schla­gen, zor­nig, uner­bitt­lich und gegen jeg­li­che fami­liä­re Soli­da­ri­tät, ist Mal­te Ludins Ansin­nen. Ein Vater­mord, posthum.

Wie nennt man das: fei­ge? Den hin­ter­lis­ti­gen Dolch­stoß des Nach­ge­bo­re­nen, mit Hel­den­po­se voll­führt an einem Toten? Das Gros der Rezen­sen­ten nennt es „mutig”, fin­det es „span­nend”. Mal­te Ludins Grund­the­se ist, daß sei­ne Geburts­fa­mi­lie (nicht zufäl­lig, das sagt er selbst, hat er aus­ge­rech­net eine Tsche­chin gehei­ra­tet, eine aus­ge­wie­se­ne Anti­fa­schis­tin, die sei­nen Film pro­du­zier­te) sich nie der Tat­sa­che gestellt habe, einen Kriegs­ver­bre­cher als Mann und Vater zu ehren. Inso­fern sei sei­ne Fami­li­en­ge­schich­te eine „typisch deut­sche”. Zu Leb­zei­ten der Mut­ter Erla (sie starb 1997) habe er sich nicht an die­sen Film gewagt; sie sei „der Grals­hü­ter der fami­liä­ren Wahr­heit über unse­ren Vater” gewe­sen, zudem die „ein­zi­ge Bezugs­per­son” des jüngs­ten Soh­nes in der Fami­lie. Auf ihre Zunei­gung woll­te er nicht ver­zich­ten – „und die hät­te ich garan­tiert verloren.”
Bru­der Til­man, früh nach Süd­afri­ka aus­ge­wan­dert, ist bereits ver­stor­ben; er galt als Lieb­ling des Vaters – auch die­sem Hin­weis mag eine Bedeu­tung zukom­men. Gemein­sam mit sei­nen drei noch leben­den Schwes­tern (Buch­händ­le­rin und Künst­le­rin Bar­bel, Gale­ris­tin Andrea und Jour­na­lis­tin Ellen) beugt sich der Regis­seur über die Hin­ter­las­sen­schaf­ten des Vaters. Hager, spitz­bäu­chig, das Halb­oval der roten Bril­le vorn auf der Nasen­spit­ze, liest der Sohn aus dem letz­ten Brief des Vaters. Kopf­schüt­telnd, in nach­läs­si­gem Nuschel­ton: „Pffpff…!” Er gräbt Zei­tungs­ar­ti­kel aus, etwa den zeit­ge­nös­si­schen Bericht einer Jour­na­lis­tin über die Fami­lie Ludin. Gemäß Mal­tes Kom­men­ta­ren ist hier alles faul, alles ver­bre­che­risch, etwa bereits die For­mu­lie­rung über Erlas „blon­de Schön­heit”. Dies sind nur Auf­tak­te zu den Anstren­gun­gen, die dem Zuschau­er bevor­ste­hen. Insis­tie­rend rüt­telt der Sohn am posi­ti­ven Vater­bild sei­ner Schwes­tern, die ihm teils schnei­dend (Andrea), teils hoch­mü­tig („So ist der Krieg, Mal­te­chen!”: die furio­se Bar­bel) und, tief ver­letzt, mit­un­ter den Trä­nen nahe (Ellen) ihr Ver­ständ­nis der dama­li­gen Zeit, der Umstän­de und des stets auf­rech­ten Vaters entgegenhalten.
Wir wer­den mit sug­ges­ti­ven Film­schnit­ten kon­fron­tiert: Bar­bel (sie lehn­te eine Teil­nah­me an der Doku­men­ta­ti­on zunächst ab, sah dann aber eine Mög­lich­keit, dar­in ihr Bild des Vaters zu ver­tre­ten) berich­tet von der Zeit, die die Fami­lie in der Slo­wa­kei ver­brach­te. Für die Kin­der eine schö­ne Zeit; man leb­te wohl­be­hü­tet in einer ent­eig­ne­ten Vil­la. Die Ver­gan­gen­heit wird jäh zer­schnit­ten, der Regis­seur fügt die Erzäh­lung eines jüdi­schen Nach­barn ein, um die hei­le Täter­kin­der-Welt effekt­voll zu kon­tras­tie­ren. Hier Bar­bels detail­lier­te Erin­ne­run­gen an Raum­auf­tei­lun­gen und All­tags­be­ge­ben­hei­ten, dort das Juden­kind, das fern der Hei­mat in einer Vieh­trän­ke schla­fen mußte.

In beson­de­rer Wei­se erschre­ckend sind die Stim­men der Ludin-Enkel. Oder sind es deren Gesich­ter? Näselnd und nase­weis wird Hanns Ludins Ver­ant­wort­lich­keit „für die grau­sams­ten Ver­bre­chen der Mensch­heits­ge­schich­te” auf­ge­sagt. Aal­glatt die Gesich­ter, iro­nisch gekräu­selt die Mün­der: sie sagen alles – und nichts zugleich. Zum Teil spre­chen sie (es sind Nich­ten und Nef­fen des selbst kin­der­lo­sen – das ist außer­halb jeder demo­gra­phi­schen Betrach­tung bedeu­tungs­voll – Regis­seurs) kein Deutsch mehr und kul­ti­vie­ren in ande­ren Tei­len der Welt eine Selbst­auf­ga­be, wie es wohl nur Deut­sche hinbekommen.
Wo Ludin jun. auf Wider­stän­de stößt, glei­chen die Gesprächs­si­tua­tio­nen Ver­hö­ren, und es ver­steht sich, daß der Regis­seur durch­ge­hend psy­cho­lo­gi­sche Bera­ter am Set beschäf­tig­te. Auch für sich selbst? Für einen unvor­ein­ge­nom­me­nen Psy­cho­lo­gen ergä­ben Mal­te Ludin und sein präö­di­pa­les Agi­tie­ren jeden­falls eine fei­ne Fall­ge­schich­te. Der Medi­zi­ner und Psy­cho­the­ra­peut Edu­ard Peter Koch, der sich vor Jah­ren des Väter­man­gel­syn­droms ange­nom­men hat, nennt solch sym­bo­li­sche „Vater­ver­bren­nung” eine Fol­ge der „Ent­re­la­ti­vie­rung” von Geschich­te. Inso­fern las­se sich die Ent­na­zi­fi­zie­rung (gemäß Koch „kein his­to­risch abge­schlos­se­ner Vor­gang”) als „gewalt­sa­me Ver­nich­tung des väter­li­chen Prin­zips” beschrei­ben. Bei­spiel­haft für Mal­te Ludins „Vater­ver­bren­nung” sind neben den hef­ti­gen Wort­ge­fech­ten mit der stu­ren Bar­bel („Ich glau­be schon, daß er [also: Hanns Ludin] bes­ser war als ich – und viel­leicht sogar als du!”) die Auf­nah­men mit Ellen. Wäh­rend die grau­haa­ri­ge Frau lei­se und mit schwim­men­den Augen spricht, an Kleid und Schal nes­telt und den Ver­lust des Vaters offen­sicht­lich so wenig ver­wun­den hat wie die Anschul­di­gung, des­sen Erbe ja in sich zu tra­gen, gibt Ludin den Inqui­si­tor, der weiß, daß er nichts zu ver­lie­ren hat: Nach­läs­sig hockt er auf dem Stuhl, die Leh­ne zwi­schen den Bei­nen, das Kinn auf­ge­stützt – hier ist kei­ner, der die Wahr­heit sucht. Er hat sie längst für sich gepachtet.
Nicht in die­sem Maße abge­si­chert hat sich Alex­an­dra Senfft auf die Spu­ren­su­che bege­ben. Man mag ihr 350 Sei­ten star­kes, reich bebil­der­tes Buch für eine öffent­lich aus­ge­tra­ge­ne Psy­cho­the­ra­pie hal­ten – es ist eine detail­lier­te Wahr­heits­su­che von schier herz­zer­rei­ßen­der Offen­heit. Und es ist, ganz neben­bei, eine Gesell­schafts- und Sit­ten­ge­schich­te der Nach­kriegs­zeit. Senffts Mut­ter, Eri­ka Ludin, Jahr­gang 1933, galt früh schon als „schwie­ri­ges Kind” mit einer star­ken, ambi­va­len­ten Eltern­bin­dung. Toch­ter Alex­an­dra zitiert aus inni­gen Brie­fen der Salem-Schü­le­rin an Mut­ter und Vater, zeich­net den Kum­mer der Halb­wai­se nach und deren Ver­su­che einer Bewäl­ti­gung. Noch als Jugend­li­che trug sie die alte Jacke des Vaters, schrieb auf sei­nem Brief­pa­pier. Als jun­ger Frau gelang ihr der Auf­stieg in die ton­an­ge­ben­den Krei­se der jun­gen Repu­blik, sie hei­ra­te­te den her­aus­ra­gen­den lin­ken Jour­na­lis­ten Hei­ner Senfft. In ihrem Haus ver­kehr­ten Wal­ser und Rad­datz; die Ehe­paa­re Gaus, Aug­stein und Brandt sowie Romy Schnei­der zähl­ten zum Freun­des­kreis. Zeit­le­bens rast­los und labil, gab sich Eri­ka Senfft bereits in frü­hen Jah­ren Alko­hol und Depres­sio­nen hin, hat­te etli­che außer­ehe­li­che „Män­ner­ge­schich­ten” und starb 1998 einen grau­sa­men Tod.

Die Toch­ter (ein femi­ni­nes Abbild des Groß­va­ters), gebo­ren 1961, einst Grü­nen-Refe­ren­tin, dann als UN-Mit­ar­bei­te­rin in der West­bank und im Gaza­strei­fen tätig – auch die­se Orts­wahl nach eige­ner Ein­schät­zung „kein Zufall” -, läßt kei­nen Zwei­fel an der Schuld Hanns Ludins. Doch sie pflegt, anders als Onkel Mal­te, einen behut­sa­men Ton: „Ich sehe die­sen, nein, nicht die­sen: mei­nen Groß­va­ter am Gal­gen hän­gen und stel­le mir vor, wie es gewe­sen wäre, wenn er nicht hin­ge­rich­tet wor­den wäre und ich als Kind auf sei­nem Schoß hät­te sit­zen kön­nen. Wäre er in Deutsch­land vor Gericht gekom­men und nicht in der Slo­wa­kei, hät­te man ihn ver­mut­lich nicht zum Tode ver­ur­teilt. Ich neh­me an, er hät­te eine Haft­stra­fe absit­zen müs­sen und wäre dann irgend­wann wie­der ent­las­sen wor­den. Im Nach­kriegs­deutsch­land sind doch so vie­le davon­ge­kom­men (an ande­rer Stel­le nennt Senfft bei­spiel­haft Ernst von Weiz­sä­cker, der wie Ludin, und von noch höhe­rer Stel­le, Juden­de­por­ta­tio­nen „abzeich­ne­te”). Mei­ne Kin­der hät­te er dann viel­leicht auch noch ken­nen­ge­lernt; ob er sie auch so sanft und ent­zückt im Arm gewo­gen hät­te wie mei­ne Groß­mutter Erla?”
Wer war Hanns Ludin – über die „zwei oder drei Din­ge” hin­aus, die sein Sohn von ihm zu wis­sen vor­gibt? Wer war die­ser Groß­va­ter, des­sen Schat­ten­wurf noch die Enke­lin zu einer ver­zwei­fel­ten See­len­schau ver­an­laßt? Hanns Elard Ludin wur­de 1905 als ein­zi­ges Kind eines Gym­na­si­al­leh­rers und einer Male­rin gebo­ren. Nach dem Abitur trat er 1924 in die Reichs­wehr ein. 1930 wur­de der jun­ge Leut­nant gemein­sam mit Richard Sche­rin­ger und Hans Fried­rich Wendt im Ulmer Reichs­wehr­pro­zeß wegen des „Ver­suchs natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Zel­len­bil­dung” zu acht­zehn Mona­ten Fes­tungs­haft ver­ur­teilt. Nach acht Mona­ten kam er frei und trat der NSDAP bei. Ab April 1933 fun­gier­te er als Füh­rer der SA-Grup­pe Süd­west, wur­de im Rah­men des Röhm-Put­sches ver­haf­tet, jedoch von Hit­ler per­sön­lich begna­digt. 1939/40 nahm er als Bat­te­rie­füh­rer am Polen- und Frank­eich­feld­zug teil. Ab Anfang 1941 resi­dier­te er in Preß­burg und hat­te dort die Stel­lung als „Gesand­ter und Bevoll­mäch­tig­ter Minis­ter des Groß­deut­schen Rei­ches” im Vasal­len­staat Slo­wa­kei inne. Zu den Slo­wa­ken unter­hielt er ein freund­schaft­li­ches Ver­hält­nis. Für natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Gegen­spie­ler, die sich um sei­ne Abset­zung bemüh­ten, agier­te er zu nach­gie­big – für den Sohn fällt der Ein­satz des Vaters für slo­wa­ki­sche Eigen­in­itia­ti­ven unter die Kate­go­rie einer berech­nen­den poli­ti­schen Klugheit.

Hanns Ludin, der die Depor­ta­ti­ons­be­feh­le für rund 60.000 slo­wa­ki­sche Juden unter­schrieb, muß ein beein­dru­cken­der Mensch gewe­sen sein. Allent­hal­ben fin­den wir die­sen Lebe­mann mit „baro­cker Ader” als Idea­lis­ten beschrie­ben: gebil­det und nach­denk­lich, immer gut­wil­lig, weder Hitz­kopf noch Kar­rie­rist. Daß Ludin 1945 von den Ame­ri­ka­nern fest­ge­nom­men wur­de, wie das ein­schlä­gi­ge Inter­net-Lexi­kon fest­hält, ist nur die hal­be Wahr­heit. Ludin hat sich gestellt, nach­dem er von der Inhaf­tie­rung des slo­wa­ki­schen Prä­si­den­ten Jozef Tiso hör­te. Noch als Ludins Freund Sche­rin­ger (sein Brief­kor­re­spon­dent bis zum Tode) längst zum Kom­mu­nis­mus über­ge­wech­selt war, beschreibt er die Sze­ne­rie, wie Ludin im Lager, in dem auch Tizo ein­saß, vor­stel­lig wur­de: „Die Ame­ri­ka­ner glaub­ten ihm nicht, als er behaup­te­te, er sei deut­scher Gesand­ter in der Slo­wa­kei gewe­sen, und nah­men ihn erst nach län­ge­rem Drän­gen im Lager auf.” Sche­rin­ger berei­te­te alles für eine Flucht Ludins vor, hat­te fal­sche Papie­re besorgt, „aber Ludin woll­te nicht hin­aus (…) Ludin wies alle Hil­fe zurück. Im Gegen­satz zu jenen, die sich drück­ten, woll­te er der Gerech­tig­keit genü­ge tun.”
Noch spä­ter hat­te Ludin mehr­fach Gele­gen­heit zur Flucht. Unter ande­rem woll­te ihm der ehe­ma­li­ge Frei­korps­kämp­fer und Schrift­stel­ler Ernst von Salo­mon dazu ver­hel­fen. Von Salo­mon (1902–1972) hat Ludin in sei­nem auto­bio­gra­phi­schen Erfolgs­ro­man Der Fra­ge­bo­gen ein Denk­mal gesetzt. Die bei­den lern­ten sich 1945 im baye­ri­schen US-Gefan­ge­nen­la­ger Nat­tern­berg per­sön­lich ken­nen. Ludin galt dort als „der weit­aus belieb­tes­te Mann (…) Er war auch der bes­te Natio­nal­so­zia­list, den ich kann­te.” Ein­mal war „Spieß­ru­ten­lau­fen” befoh­len; die Gefan­ge­nen hat­ten in alpha­be­ti­scher Rei­hen­fol­ge anzu­tre­ten: „Ludin war auf­ge­ru­fen wor­den. Ludin lief nicht. Er ging im Lager­schritt. Sie dro­schen auf ihn ein. Ludin ging gleich­mü­tig wei­ter. Als er bei Wislow­ski ange­langt war, ver­lor er einen sei­ner Holz­schu­he. Er mach­te kehrt und angel­te mit dem nack­ten Fuß nach sei­nem Schuh. Wislow­ski lief hin­ter ihm her und schlug auf ihn ein. Dabei ver­lor Wislow­ski sei­nen Gum­mi­knüp­pel. Ludin bück­te sich und über­reich­te ihn Wislow­ski.” Nach­dem dem jäh­zor­ni­gen Auf­se­her aber­mals die Waf­fe ent­glit­ten war, brach man den „Appell” ab. „Das Lager lach­te, das gan­ze Lager von L bis Z lach­te wie befreit. Ludin, alter, bra­ver Ludin, ver­ste­he einer die Welt! Ludin ver­stand sie.”
Von plan­mä­ßi­gem Mas­sen­mord an Juden habe Ludin nichts gewußt, schreibt von Salo­mon. Davon in Kennt­nis gesetzt, habe Ludin dies eine „boden­lo­se Saue­rei” geschimpft. Was nutzt es? Ludin wird als war cri­mi­nal dem Natio­nal­ge­richt in Preß­burg über­stellt. Eine letz­te Mög­lich­keit zur Flucht läßt er unge­nutzt: „Ich habe geschwankt, ich habe Irr­tü­mer und Feh­ler began­gen, aber kein Ver­bre­chen. Ich lege daher die Ent­schei­dung über mein Schick­sal ganz ruhig in Ihre Hän­de.” Jeg­li­che Ver­tei­di­gung, auch die lei­den­schaft­li­che Für­spra­che des Reform­päd­ago­gen und Salem-Grün­ders Kurt Hahn, kön­nen das Todes­ur­teil gegen den „Ex-Men­schen” (Chef-Anklä­ger Mich­al Gerö) nicht abwen­den. Nur einer unter zwei Dut­zend Ankla­ge­punk­ten betraf die Juden­de­por­ta­ti­on. Ludin, so von Salo­mon, woll­te nicht, „daß mei­ne Kin­der jemals von ihrem Vater sagen kön­nen, er habe für sei­ne Sache nicht gera­de­ge­stan­den”. Für den Sohn Mal­te dürf­te die­ses Ansin­nen kei­ne Rol­le gespielt haben.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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