Daß die Älteste, Erika, und der Zweitjüngste, Malte, an ihrem Vater gescheitert sind, legen zwei Veröffentlichungen nahe: Malte Ludin (geboren 1942, Diplom-Politologe und Regisseur unter anderem von Kinderfilmen wie Mulo, eine Zigeunergeschichte und Schalom Tatjana) drehte 2004 den Film über 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß. 2005 lief die hochemotionale, geradezu gespenstisch anmutende Familiendoku in (Programm-) Kinos und im Fernsehen. Im September zeigte die ARD abermals diese opportune zweite Hinrichtung des Hanns Ludin, die zuvor in zahllosen Rezensionen (die wenigen kritischen Besprechungen der DVD führt die offizielle Filmseite nicht auf) als fulminanter Tabubruch gefeiert wurde.
Erika wiederum schrieb oder filmte nicht selbst, sondern fand in ihrer Tochter Alexandra (also der Enkelin des Hanns Ludin) eine emphatische Biographin: 2007 erschien das Buch Schweigen tut weh. Das Titelbild zeigt in suggestiver Nahaufnahme die kleine „Eri” bei einer offiziellen Blümchenübergabe an Hitler: Der Vater – augenfällig der Kontrast zwischen seinem Lächeln und dem wuchtigen Lederhandschuh auf Erikas Rücken – führt die adrett gekleidete, bezopfte kleine Tochter dem Führer zu, der sich (ebenfalls unter dem Schirm der Uniformmütze hervorlächelnd) zum sich kerzengerade haltenden Mädchen niederbeugt.
Malte Ludin und Alexandra Senfft: Beide, der Sohn wie die Enkelin, operieren argumentativ – direkt oder indirekt – mit dem Mitscherlich-Bestseller Die Unfähigkeit zu trauern. Daß der Ahn ein Kriegsverbrecher und, mehr noch, Täter mit bestialischem Potential, gewesen sei und daß sich gerade seine Töchter diesem axiomatisch immer und immer wieder hervorgebrachten Sachbestand verweigerten, – dies wurde beiderseits als Erbe angenommen.
Zumindest für die Erläuterung von Malte Ludins Klagefeldzug wäre ein ebenso populäres Buch aus der Feder des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich als Interpretationsgrundlage dienlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Die Vaterlosigkeit ist bei Ludin jun. keine Option, keine gleichsam metaphysische Gegebenheit (im Sinne eines klassischen ödipalen Konflikts), sondern, ganz realpraktisch, die Grundlage. Sich des Vaters, den er leiblich zeitlebens entbehrte, auch geistig zu entledigen, dessen Erbe so weit als möglich in den Wind zu schlagen, zornig, unerbittlich und gegen jegliche familiäre Solidarität, ist Malte Ludins Ansinnen. Ein Vatermord, posthum.
Wie nennt man das: feige? Den hinterlistigen Dolchstoß des Nachgeborenen, mit Heldenpose vollführt an einem Toten? Das Gros der Rezensenten nennt es „mutig”, findet es „spannend”. Malte Ludins Grundthese ist, daß seine Geburtsfamilie (nicht zufällig, das sagt er selbst, hat er ausgerechnet eine Tschechin geheiratet, eine ausgewiesene Antifaschistin, die seinen Film produzierte) sich nie der Tatsache gestellt habe, einen Kriegsverbrecher als Mann und Vater zu ehren. Insofern sei seine Familiengeschichte eine „typisch deutsche”. Zu Lebzeiten der Mutter Erla (sie starb 1997) habe er sich nicht an diesen Film gewagt; sie sei „der Gralshüter der familiären Wahrheit über unseren Vater” gewesen, zudem die „einzige Bezugsperson” des jüngsten Sohnes in der Familie. Auf ihre Zuneigung wollte er nicht verzichten – „und die hätte ich garantiert verloren.”
Bruder Tilman, früh nach Südafrika ausgewandert, ist bereits verstorben; er galt als Liebling des Vaters – auch diesem Hinweis mag eine Bedeutung zukommen. Gemeinsam mit seinen drei noch lebenden Schwestern (Buchhändlerin und Künstlerin Barbel, Galeristin Andrea und Journalistin Ellen) beugt sich der Regisseur über die Hinterlassenschaften des Vaters. Hager, spitzbäuchig, das Halboval der roten Brille vorn auf der Nasenspitze, liest der Sohn aus dem letzten Brief des Vaters. Kopfschüttelnd, in nachlässigem Nuschelton: „Pffpff…!” Er gräbt Zeitungsartikel aus, etwa den zeitgenössischen Bericht einer Journalistin über die Familie Ludin. Gemäß Maltes Kommentaren ist hier alles faul, alles verbrecherisch, etwa bereits die Formulierung über Erlas „blonde Schönheit”. Dies sind nur Auftakte zu den Anstrengungen, die dem Zuschauer bevorstehen. Insistierend rüttelt der Sohn am positiven Vaterbild seiner Schwestern, die ihm teils schneidend (Andrea), teils hochmütig („So ist der Krieg, Maltechen!”: die furiose Barbel) und, tief verletzt, mitunter den Tränen nahe (Ellen) ihr Verständnis der damaligen Zeit, der Umstände und des stets aufrechten Vaters entgegenhalten.
Wir werden mit suggestiven Filmschnitten konfrontiert: Barbel (sie lehnte eine Teilnahme an der Dokumentation zunächst ab, sah dann aber eine Möglichkeit, darin ihr Bild des Vaters zu vertreten) berichtet von der Zeit, die die Familie in der Slowakei verbrachte. Für die Kinder eine schöne Zeit; man lebte wohlbehütet in einer enteigneten Villa. Die Vergangenheit wird jäh zerschnitten, der Regisseur fügt die Erzählung eines jüdischen Nachbarn ein, um die heile Täterkinder-Welt effektvoll zu kontrastieren. Hier Barbels detaillierte Erinnerungen an Raumaufteilungen und Alltagsbegebenheiten, dort das Judenkind, das fern der Heimat in einer Viehtränke schlafen mußte.
In besonderer Weise erschreckend sind die Stimmen der Ludin-Enkel. Oder sind es deren Gesichter? Näselnd und naseweis wird Hanns Ludins Verantwortlichkeit „für die grausamsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte” aufgesagt. Aalglatt die Gesichter, ironisch gekräuselt die Münder: sie sagen alles – und nichts zugleich. Zum Teil sprechen sie (es sind Nichten und Neffen des selbst kinderlosen – das ist außerhalb jeder demographischen Betrachtung bedeutungsvoll – Regisseurs) kein Deutsch mehr und kultivieren in anderen Teilen der Welt eine Selbstaufgabe, wie es wohl nur Deutsche hinbekommen.
Wo Ludin jun. auf Widerstände stößt, gleichen die Gesprächssituationen Verhören, und es versteht sich, daß der Regisseur durchgehend psychologische Berater am Set beschäftigte. Auch für sich selbst? Für einen unvoreingenommenen Psychologen ergäben Malte Ludin und sein präödipales Agitieren jedenfalls eine feine Fallgeschichte. Der Mediziner und Psychotherapeut Eduard Peter Koch, der sich vor Jahren des Vätermangelsyndroms angenommen hat, nennt solch symbolische „Vaterverbrennung” eine Folge der „Entrelativierung” von Geschichte. Insofern lasse sich die Entnazifizierung (gemäß Koch „kein historisch abgeschlossener Vorgang”) als „gewaltsame Vernichtung des väterlichen Prinzips” beschreiben. Beispielhaft für Malte Ludins „Vaterverbrennung” sind neben den heftigen Wortgefechten mit der sturen Barbel („Ich glaube schon, daß er [also: Hanns Ludin] besser war als ich – und vielleicht sogar als du!”) die Aufnahmen mit Ellen. Während die grauhaarige Frau leise und mit schwimmenden Augen spricht, an Kleid und Schal nestelt und den Verlust des Vaters offensichtlich so wenig verwunden hat wie die Anschuldigung, dessen Erbe ja in sich zu tragen, gibt Ludin den Inquisitor, der weiß, daß er nichts zu verlieren hat: Nachlässig hockt er auf dem Stuhl, die Lehne zwischen den Beinen, das Kinn aufgestützt – hier ist keiner, der die Wahrheit sucht. Er hat sie längst für sich gepachtet.
Nicht in diesem Maße abgesichert hat sich Alexandra Senfft auf die Spurensuche begeben. Man mag ihr 350 Seiten starkes, reich bebildertes Buch für eine öffentlich ausgetragene Psychotherapie halten – es ist eine detaillierte Wahrheitssuche von schier herzzerreißender Offenheit. Und es ist, ganz nebenbei, eine Gesellschafts- und Sittengeschichte der Nachkriegszeit. Senffts Mutter, Erika Ludin, Jahrgang 1933, galt früh schon als „schwieriges Kind” mit einer starken, ambivalenten Elternbindung. Tochter Alexandra zitiert aus innigen Briefen der Salem-Schülerin an Mutter und Vater, zeichnet den Kummer der Halbwaise nach und deren Versuche einer Bewältigung. Noch als Jugendliche trug sie die alte Jacke des Vaters, schrieb auf seinem Briefpapier. Als junger Frau gelang ihr der Aufstieg in die tonangebenden Kreise der jungen Republik, sie heiratete den herausragenden linken Journalisten Heiner Senfft. In ihrem Haus verkehrten Walser und Raddatz; die Ehepaare Gaus, Augstein und Brandt sowie Romy Schneider zählten zum Freundeskreis. Zeitlebens rastlos und labil, gab sich Erika Senfft bereits in frühen Jahren Alkohol und Depressionen hin, hatte etliche außereheliche „Männergeschichten” und starb 1998 einen grausamen Tod.
Die Tochter (ein feminines Abbild des Großvaters), geboren 1961, einst Grünen-Referentin, dann als UN-Mitarbeiterin in der Westbank und im Gazastreifen tätig – auch diese Ortswahl nach eigener Einschätzung „kein Zufall” -, läßt keinen Zweifel an der Schuld Hanns Ludins. Doch sie pflegt, anders als Onkel Malte, einen behutsamen Ton: „Ich sehe diesen, nein, nicht diesen: meinen Großvater am Galgen hängen und stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn er nicht hingerichtet worden wäre und ich als Kind auf seinem Schoß hätte sitzen können. Wäre er in Deutschland vor Gericht gekommen und nicht in der Slowakei, hätte man ihn vermutlich nicht zum Tode verurteilt. Ich nehme an, er hätte eine Haftstrafe absitzen müssen und wäre dann irgendwann wieder entlassen worden. Im Nachkriegsdeutschland sind doch so viele davongekommen (an anderer Stelle nennt Senfft beispielhaft Ernst von Weizsäcker, der wie Ludin, und von noch höherer Stelle, Judendeportationen „abzeichnete”). Meine Kinder hätte er dann vielleicht auch noch kennengelernt; ob er sie auch so sanft und entzückt im Arm gewogen hätte wie meine Großmutter Erla?”
Wer war Hanns Ludin – über die „zwei oder drei Dinge” hinaus, die sein Sohn von ihm zu wissen vorgibt? Wer war dieser Großvater, dessen Schattenwurf noch die Enkelin zu einer verzweifelten Seelenschau veranlaßt? Hanns Elard Ludin wurde 1905 als einziges Kind eines Gymnasiallehrers und einer Malerin geboren. Nach dem Abitur trat er 1924 in die Reichswehr ein. 1930 wurde der junge Leutnant gemeinsam mit Richard Scheringer und Hans Friedrich Wendt im Ulmer Reichswehrprozeß wegen des „Versuchs nationalsozialistischer Zellenbildung” zu achtzehn Monaten Festungshaft verurteilt. Nach acht Monaten kam er frei und trat der NSDAP bei. Ab April 1933 fungierte er als Führer der SA-Gruppe Südwest, wurde im Rahmen des Röhm-Putsches verhaftet, jedoch von Hitler persönlich begnadigt. 1939/40 nahm er als Batterieführer am Polen- und Frankeichfeldzug teil. Ab Anfang 1941 residierte er in Preßburg und hatte dort die Stellung als „Gesandter und Bevollmächtigter Minister des Großdeutschen Reiches” im Vasallenstaat Slowakei inne. Zu den Slowaken unterhielt er ein freundschaftliches Verhältnis. Für nationalsozialistische Gegenspieler, die sich um seine Absetzung bemühten, agierte er zu nachgiebig – für den Sohn fällt der Einsatz des Vaters für slowakische Eigeninitiativen unter die Kategorie einer berechnenden politischen Klugheit.
Hanns Ludin, der die Deportationsbefehle für rund 60.000 slowakische Juden unterschrieb, muß ein beeindruckender Mensch gewesen sein. Allenthalben finden wir diesen Lebemann mit „barocker Ader” als Idealisten beschrieben: gebildet und nachdenklich, immer gutwillig, weder Hitzkopf noch Karrierist. Daß Ludin 1945 von den Amerikanern festgenommen wurde, wie das einschlägige Internet-Lexikon festhält, ist nur die halbe Wahrheit. Ludin hat sich gestellt, nachdem er von der Inhaftierung des slowakischen Präsidenten Jozef Tiso hörte. Noch als Ludins Freund Scheringer (sein Briefkorrespondent bis zum Tode) längst zum Kommunismus übergewechselt war, beschreibt er die Szenerie, wie Ludin im Lager, in dem auch Tizo einsaß, vorstellig wurde: „Die Amerikaner glaubten ihm nicht, als er behauptete, er sei deutscher Gesandter in der Slowakei gewesen, und nahmen ihn erst nach längerem Drängen im Lager auf.” Scheringer bereitete alles für eine Flucht Ludins vor, hatte falsche Papiere besorgt, „aber Ludin wollte nicht hinaus (…) Ludin wies alle Hilfe zurück. Im Gegensatz zu jenen, die sich drückten, wollte er der Gerechtigkeit genüge tun.”
Noch später hatte Ludin mehrfach Gelegenheit zur Flucht. Unter anderem wollte ihm der ehemalige Freikorpskämpfer und Schriftsteller Ernst von Salomon dazu verhelfen. Von Salomon (1902–1972) hat Ludin in seinem autobiographischen Erfolgsroman Der Fragebogen ein Denkmal gesetzt. Die beiden lernten sich 1945 im bayerischen US-Gefangenenlager Natternberg persönlich kennen. Ludin galt dort als „der weitaus beliebteste Mann (…) Er war auch der beste Nationalsozialist, den ich kannte.” Einmal war „Spießrutenlaufen” befohlen; die Gefangenen hatten in alphabetischer Reihenfolge anzutreten: „Ludin war aufgerufen worden. Ludin lief nicht. Er ging im Lagerschritt. Sie droschen auf ihn ein. Ludin ging gleichmütig weiter. Als er bei Wislowski angelangt war, verlor er einen seiner Holzschuhe. Er machte kehrt und angelte mit dem nackten Fuß nach seinem Schuh. Wislowski lief hinter ihm her und schlug auf ihn ein. Dabei verlor Wislowski seinen Gummiknüppel. Ludin bückte sich und überreichte ihn Wislowski.” Nachdem dem jähzornigen Aufseher abermals die Waffe entglitten war, brach man den „Appell” ab. „Das Lager lachte, das ganze Lager von L bis Z lachte wie befreit. Ludin, alter, braver Ludin, verstehe einer die Welt! Ludin verstand sie.”
Von planmäßigem Massenmord an Juden habe Ludin nichts gewußt, schreibt von Salomon. Davon in Kenntnis gesetzt, habe Ludin dies eine „bodenlose Sauerei” geschimpft. Was nutzt es? Ludin wird als war criminal dem Nationalgericht in Preßburg überstellt. Eine letzte Möglichkeit zur Flucht läßt er ungenutzt: „Ich habe geschwankt, ich habe Irrtümer und Fehler begangen, aber kein Verbrechen. Ich lege daher die Entscheidung über mein Schicksal ganz ruhig in Ihre Hände.” Jegliche Verteidigung, auch die leidenschaftliche Fürsprache des Reformpädagogen und Salem-Gründers Kurt Hahn, können das Todesurteil gegen den „Ex-Menschen” (Chef-Ankläger Michal Gerö) nicht abwenden. Nur einer unter zwei Dutzend Anklagepunkten betraf die Judendeportation. Ludin, so von Salomon, wollte nicht, „daß meine Kinder jemals von ihrem Vater sagen können, er habe für seine Sache nicht geradegestanden”. Für den Sohn Malte dürfte dieses Ansinnen keine Rolle gespielt haben.