Szenerie 1: ein besonders von Studenten und akademischem Personal frequentiertes Café nahe der Wiener Universität. Die Tische stehen recht eng beieinander, sodaß ich nicht umhinkam, das Gespräch meiner beiden Tischnachbarn mitzuhören, zumal der Wortführer mit ziemlich lauter Stimme sprach.
Er fiel mir auf, weil er optisch einen sympathischen und eher “konservativen”, ja “neofolk”-artigen Eindruck machte: ein rotblonder, schon leicht ergrauender und tendenziell ins kräftig-korpulente gehender Wikinger mit einem Henriquatre-Bärtchen und einem dröhnenden, jovialen Lachen, dabei ganz in elegantes Schwarz gekleidet, mit einer altmodischen Weste über dem Hemd, in der eine goldene Taschenuhr an einem Kettchen steckte. Seinen Kragen zierte ein schmuck aussehender walisischer Drache in Silber.
Seine Gegenüber war ein grauhaariger Herr jenseits der Fünfzig. Beide waren offenbar Akademiker und berieten über die Lage ihrer Zunft. Stückweise drangen die Satzfetzen der feierlich vorgetragenen Ansprache des Wikingers zu mir herüber. Etwa so:
“Das Problem der heutigen Kulturvermittlung ist, daß man als Adressat ein Bildungsbürgertum von anno Metternich vor Augen hat, das es einfach nicht mehr gibt. In rudimentären Resten vielleicht noch, aber das ist nicht mehr relevant für die Gesellschaft… unsere ganze Bildungs‑, Ausstellungs- und Museumspolitik muß sich den Bedürfnissen der Zeit anpassen. Wir dürfen den Leuten nicht zuviel zumuten, wir müssen sie da abholen, wo sie stehen.” Meine Ohren wurden immer größer, und ebenso wuchs mein Aberwille.
“Vor allem dürfen wir nicht auf dem hohen Roß sitzen bleiben und von oben herab dozieren, das schreckt sie nur ab. Psychologische Studien zeigen außerdem, daß das, ähm, ‘investment’ ”- bei dieser Vokabel zuckte ich zusammen – “das die Leute leisten, stärker ist,wenn sie sich mehr selbst in die Sache einbringen, mit ihr spielen können. Diese Chance müssen wir ihnen bieten. So, wie das jetzt läuft, haben wir keine gesellschaftliche Relevanz mehr…” Etwa an diesem Punkt platzten die sich aufstauenden Einwände aus mir heraus. Es kam wie von selbst, da mir der Redner fast gegenüber saß.
“Aber das würde doch zur Folge haben, daß die Bildungsgüter nivelliert und trivialisiert werden! Der allgemeine Bildungsstand ist doch ohnehin schon unter aller Kanone, warum ihn denn jetzt noch weiter hinunterdrücken?” Heftiges Kopfschütteln und Verneinung der beiden. “Und warum sollen die Wissenschaften und Künste überhaupt ‘gesellschaftliche Relevanz’ haben, warum können sie nicht einfach Wissenschaft betreiben? So prostituiert man sich doch bloß an den Zeitgeist!” (Da muß ich wohl einen Dávila-Satz im Hinterkopf gehabt haben, den ich glücklicherweise nicht zitiert habe: “Ein ’nützliches Glied der Gesellschaft sein’ ist der Ehrgeiz – oder die Entschuldigung – einer Prostituierten.”)
Der Wikinger zeigte sich von meinem Einspruch völlig ungerührt. “Na, ist doch ganz einfach, wenn wir keine gesellschaftliche Relevanz mehr haben, dann kriegen wir kein Geld mehr. Dann braucht und bezahlt uns leider niemand mehr.” (dröhnendes Harhar-Gelächter) – “Aber sollten nicht gerade die Wissenschaften und Künste frei sein vom Druck des Marktes und Bereiche jenseits der Ökonomie bestellen?” – “Theoretisch ja – aber des spielt’s leider nimmer.”
Dazu fiel mir auch nix mehr ein: das war eine Variation der alten Weisheit “Ohne Geld ka Musi!”, und wenn man schon zur Kapitulation gezwungen ist, kann man sie sich wenigstens noch schönreden und ihr den Anschein der Freiwilligkeit verleihen.
Szenerie 2: Im erweiterten Bekanntenkreis komme ich abends in einer Bar mit einen engagierten Linksdreher aus dem Medienbereich ins Gespräch. Er ist etwa so alt wie der akademische Wikinger, also wohl Mitte bis Ende vierzig, und ein Sozi alter Schule, kernig und pragmatisch, und auch diesen Typus finde ich nicht unsympathisch. (Wenn Kreisky Kaiser geworden wäre, wäre aus mir vielleicht auch noch ein Sozialdemokrat geworden.)
In seiner Jugend sei er “extrem links” gewesen, aber eine Reise nach Kuba hätte ihn von seinen kommunistischen Illusionen geheilt, ebenso wie die Erzählungen eines Genossen, der von einem Nordkoreabesuch Anfang der Achtziger Jahre haarsträubende orwell’sche Schauerstories mitbrachte. Heute sei er ein “aufgeklärter Sozialdemokrat”, betonte er stolz in die insgesamt eher unpolitische Runde.
Ich fing an zu sinnieren, und nicht ohne einen gewissen Neid: unsereiner hat es nicht so leicht mit stolzen politischen Bekenntnissen, man weiß nie, ob einem nicht im nächsten Moment irgendein politisch Überkorrekter ins Gesicht springt, oder ob man nicht zu tausend Erklärungen genötigt wird, was man denn nun alles denke und was nicht. Nicht einmal Entwicklungen von Jugendsünden werden einem zugestanden. Was hätte ich dann gesagt, mit meiner Abneigung gegen Schubladen? “Ich bin ein gegenaufgeklärter, katholisch-identitärer Sozialaristokrat” (um ein schönes Wort von Joachim Fernau zu benutzen.) Das wäre wohl nicht der übermäßige Kracher gewesen.
Wir wechselten den Schauplatz, und passierten ein Buchantiquariat, in dessen Vitrine ein paar Militariaschmöker und ominös wirkende Bände aus den Zwanziger und Dreißiger Jahren mit Frakturschrifttiteln zu sehen waren, allerdings schien es sich nicht um dezidierte NS-Literatur zu handeln. “Des muaß mit Sicherheit ein Nazi sein!”, sagte anklagend der Sozialdemokrat. “Vielleicht will er auch einfach nur alte Bücher verkaufen”, warf ich ein, “ich finde das nun eine historio- und librophobe Einstellung!”
Er: “Na, ich hab des auch alles zuhause, Rosenberg und so weiter, damit soll man sich schon auseinandersetzen, aber wenn er’s in die Auslage stellt, dann ist er sicher ein Nazi…”
Ich: “Und wenn da nun die gesammelten Werke von Lenin und Stalin stehen würden, täte dich das dann auch so aufregen?”
Er: “Wenn das so wäre, dann wäre er wahrscheinlich Kommunist. Aber ich finde nicht, daß man den Nationalsozialismus und den Kommunismus gleichsetzen kann.”
Wieder der linke Feldvorteil: man wischt die bösen Jungs auf dem eigenen Ufer weg, indem man darauf verweist, daß die bösen Jungs der anderen doch viel böser waren, was zum allgemeingesellschaftlichen Überzeugungsgut gehört.
Ich: “Warum nicht?”
Er: “Weil die Ausrottung ‘unwerten Lebens’ von vornherein zur Lehre des Nationalsozialismus gehört, zum Kommunismus aber nicht.”
Ich: “Naja, aus der leninistischen Revision des Marxismus folgt aber schon, daß zum Zwecke der gewaltsamen Revolution ganze Klassen aus dem Weg geräumt werden müssen… und 30 Millionen Tote in der Sowjetunion sprechen für sich, würde ich sagen.”
Er: “Gut, aber dafür ist der Kommunismus nicht rassistisch…”
Ich: “Macht ihn das nun ‘besser’? Das wäre mir doch egal, ob mir einer eine Kugel verpassen will, weil ich die falsche Rasse oder die falsche Klasse habe… oder welchen guten Absichten er dabei hat. Wenn man einmal Solschenizyn gelesen hat, wird man allergisch auf diese Verharmlosungen.”
Nun pflichtete er mir bei.
Er: “Gut, ich bin auch gegen eine Verharmlosung des Kommunismus, und überhaupt gegen Verharmlosungen. Ich will aber nicht, daß sich schlechte Ideen ausbreiten…”
Ich: “Wer weiß, woher die diesmal kommen. Sicher nicht aus einem Buchantiquariat. Das ist ja nicht immer dieselbe Ecke, in der das Böse wächst, denn die Welt hat sich weitergedreht. Der nächste Totalitarismus kommt vielleicht von ganz woanders. Und nachher sagen wir alle dann wieder, wir haben nichts gewußt, wir haben nichts gesehen,wir haben daran geglaubt…”
Darauf konnten wir uns einigen, und so beendeten wir für diesen Abend den Disput.