Nach dem Krieg gesucht, wurde die Denunziantin selbst denunziert, und es kam zum Prozeß unter der Anklage »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Helene Schwärzel wurde in der ersten Instanz zu 15 Jahren, in der zweiten zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Welches Vergehen aber war Schwärzel vorzuwerfen? Ist sie nicht lediglich ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nachgekommen, eine gesuchte Person, die eines Verbrechens verdächtigt wurde, bei der Obrigkeit zu melden? Ist solch ein Anzeigeverhalten »zur Schadensverhütung« tatsächlich ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«?
Zunächst einmal ist es schwierig, zwischen Anzeige und Denunziation, die in ihrer deutschen Übersetzung ebenfalls »Anzeige« heißt, eine strikte Grenzlinie zu ziehen. Neuere Definitionsversuche der »Denunziation« beziehen sich nicht mehr auf die »verwerfliche Anzeige«, sondern auf den Aspekt der Verunglimpfung. Der Duden definiert den Begriff mit »jemandem aus persönlichen oder niedrigen Gründen anzeigen« oder »etwas negativ hinstellen, brandmarken, verurteilen«. Im ethischen Sinn wird allgemein von Denunziation gesprochen, wenn »in einem nichtfreiheitlichen System Menschen bei staatlichen Vollzugsbehörden angezeigt werden, obwohl dem Anzeigenden klar sein muß, daß er sie damit der Gefahr der politisch motivierten Verfolgung aussetzt« (wikipedia).
Denunziation wird von Psychologen als aggressiver oder auch destruktiver Akt identifiziert, »der gegen ein Individuum oder eine Gruppe von Personen gerichtet ist, die in irgendeiner Weise ›anders‹ sind, von bestimmten Norm- oder Idealvorstellungen abweichen oder die dieser Abweichung bezichtigt werden und damit an den Rand gedrängt, diskriminiert oder vernichtet werden sollen.«
Der Denunziant benutzt dabei stets die Vollstreckungsorgane der Machthaber. Er ist ihr Sklave und möchte gleichzeitig Herrscher über den zu Denunzierenden sein. Hier würden Minderwertigkeitskomplex und omnipotent-sadistischer Größenwahn zusammenstoßen, weshalb in psychologischen Untersuchungen der Denunziation stets der Narzißmus im Mittelpunkt steht.
Ein wichtiger Begriff wurde in der Duden-Aufzählung der Synonyme vergessen, der vor allem im Kontext moderner linksextremistischer Denunziation immer wieder auftaucht: »anprangern«. An den Pranger zu stellen sind die »Feinde«, welche wahlweise die Ordnung, den Fortschritt, die Demokratie oder die Zivilgesellschaft bedrohen. Die Ordnungsstrukturen einer zivilisierten Gesellschaft, die ständig Veränderungen ausgesetzt ist, benötigen zum Machterhalt Spitzel und Denunzianten, um Oppositionelle frühzeitig erkennen und ausschalten zu können. Sie müssen Informationsflüsse fördern, indem sie Denunziation als Verbrechensbekämpfung (eben Schadensverhütung) moralisch legitimieren. Plakativ sind Festsetzungen in mittelalterlichen Strafprozeßordnungen, daß Hexerei ein Verbrechen sei, welches niemals verjähre, Buchtitel wie Der Jude als Verbrecher, sowjetische Maßnahmen gegen »konterrevolutionäre Verbrecher« oder Parolen wie »Die NPD ist eine Verbrecherbande« (Konstantin Wecker). Durch die Kriminalisierung der zu Denunzierenden wird Denunziation als Aufklärung im Dienst einer guten Sache umgedeutet. Diese »gute Sache« kann nach einem Regimewechsel zu einer »schlechten Sache« werden.
Denunziation blüht vor allem dort, wo ein Denunziant mit angenehmen und ein Denunzierter mit unangenehmen Folgen einer Denunziation zu rechnen hat. Die Motivation, unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Ehrbarkeit zu denunzieren, zieht sich durch die Geschichte der Menschheit, seitdem sich Machtstrukturen um ihren Machterhalt sorgen.
Nach der Regierungsübernahme der NSDAP 1933 konnten sich die nationalsozialistischen Stellen vor bösartigen Anzeigen kaum retten. Hitler selbst sprach im Mai 1933 gegenüber Reichsjustizminister Gürtner: »…daß wir zur Zeit in einem Meer von Denunziation und menschlicher Gemeinheit leben; es ist keine Seltenheit, daß jemand einen anderen denunziert und sich selber gleichzeitig als Nachfolger empfiehlt.« Ein im Juli 1934 eingebrachter Erlaß sollte mit allem Nachdruck dafür sorgen, »daß die des Deutschen Volkes und des nationalsozialistischen Staates unwürdige Erscheinung des Denunziantentums« verschwinde. Am 3. September 1939 verkündete Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, als Maßnahme zur Erhaltung der inneren Staatssicherung während des Krieges: »Gegen Denunzianten, die aus persönlichen Gründen ungerechtfertigte oder übertriebene Anzeigen gegen Volksgenossen erstatten, ist an Ort und Stelle in geeigneter Weise – durch eindringliche Verwarnung und in böswilligen Fällen durch Verbringung in ein Konzentrationslager – einzuschreiten.«
Auch wenn Denunziation im Dritten Reich dem Ideal des »aufrechten deutschen Charakters« entgegenstand und ungerechtfertigte Anzeigen verfolgt wurden, so benötigten die Machthaber in immer stärkerem Ausmaße Denunziation durch »freiwillige Helfer« zur Kräfteeinsparung und Stabilisierung der Herrschaft. Nicht nur Gestapo und NS-Blockwarte spitzelten, sondern auch Privatpersonen zeigten freiwillig Nachbarn, Bekannte oder sogar Familienmitglieder wegen der von den Nationalsozialisten eingeführten Straftatbestände »Heimtücke«, »Rassenschande« und ähnlichem an. Straftatbestände, die inhaltlich so schwer zu umgrenzen sind wie etwa die modernen Straftaten »Volksverhetzung« oder »Verharmlosung des Nationalsozialismus« und deshalb von Denunzianten sowie den amtlichen Organen gleichermaßen zur Verfolgung von politischen Gegnern genutzt und mißbraucht werden können.
Das sowjetische Arbeiter- und Bauernparadies war auch ein Paradies der Denunzianten. Allein im Jahre 1934 gingen etwa drei Millionen Meldungen beim NKWD ein, in denen sich Menschen gegenseitig anschwärzten: »Der Bruder den Bruder, der Sohn den Vater und die Ehefrau ihren Ehemann. Hat Stalin etwa diese Denunziationen geschrieben? Wer hat denn die Leute gezwungen, den Bleistift zu besabbern und mitten in der Nacht unter der Bettdecke ›hiermit bringe ich Ihnen zur Kenntnis‹ auf ein Blatt Papier zu kritzeln?«
Nach dem Krieg benutzten in Deutschland viele Menschen die Entnazifizierungsverfahren dazu, um sich an unliebsamen Personen zu rächen. Dabei wurden oft persönliche Differenzen ausgetragen oder »alte Rechnungen beglichen«, Denunziationen und Verleumdungen waren keine Seltenheit. Ungerechtfertigte Vorwürfe konnten durchaus zu harten Strafmaßnahmen gegen Personen führen, die ansonsten vielleicht maximal als »Mitläufer« einzuschätzen waren.
Der DDR-Geheimdienst verfügte zuletzt über 90 000 hauptamtliche und 170 000 inoffizielle Mitarbeiter, wobei letztere als Denunzianten der Informationsbeschaffung dienten. Die Staatssicherheit nutzte unter anderem »konspirative Wohnungen« von MfS- oder SED-Angehörigen, um für die Treffen mit ihren Informanten (Inoffizielle Mitarbeiter, IM) eine entspannte Atmosphäre während der meist mehrstündigen Treffen zu schaffen und das tatsächlich bestehende Abhängigkeitsverhältnis zu verschleiern. Es ging »um Verrat und um Denunziation, denn die Informanten sollten vor allem die Ideen und Aktionen der Andersdenkenden verraten und/oder damit die Akteure der Szene denunzieren. Die Andersdenkenden wußten zwar, daß sie bespitzelt wurden, aber nicht, von wem und an welchen Orten der Verrat bzw. die Denunziation begangen wurde.« Der MfS-Offizier »gab sich dem Informanten gegenüber väterlich, kollegial, loyal, als Kumpel, als Mann, der zuhören konnte, als Freund – je nachdem, was der IM brauchte. Als Gegenleistung erhielt der Offizier einen Bericht, den er wiederum brauchte, um seine Fähigkeiten innerhalb der ›Firma‹ zu beweisen.« Allerdings waren für die Informanten die Zusammenkünfte oft ebenso bedeutungsvoll, »denn die konspirativen Wohnungen waren für sie Orte der Aussprache, Orte, an denen ihnen zugehört wurde und wo sie in der Regel eine – wie auch immer geartete – Anerkennung erfuhren. Damit wirkten die Treffen in den geheimen Wohnungen letztlich auch stabilisierend auf die Informanten selbst zurück.«
Für das MfS gab es nichts, was für die Organisation von Zersetzungsmaßnahmen zu belanglos oder abwegig gewesen wäre, schließlich sollte es vielfältige Möglichkeiten für die geräuschlosen Eingriffe geben: Kriminalisieren, Kompromittieren und Isolieren durch Gerüchte und falsche Informationen, Inszenieren von beruflicher und sozialer Ausgrenzung, um Existenzängste auszulösen. Die Denunzianten lieferten dem MfS deshalb auch unpolitische Details aus dem Leben von Oppositionellen: persönliche Schwächen, Ängste, Trinkgewohnheiten, intime Dinge. Dem Zweck der Zerstörung oder zumindest der erheblichen Beschädigung von Persönlichkeiten diente der Staatssicherheit ein an ihrer Juristischen Hochschule in Potsdam eigens etablierter Zweig, die »Operative Psychologie«.
Nach dem Zusammenbruch der DDR blieb die strafrechtliche Ahndung der Denunziationen weitgehend aus. Lediglich wahrheitswidrige Verdächtigungen, wenn Denunzianten wider besseres Wissen einen anderen der Begehung von Straftaten beschuldigt hatten, waren auch nach § 228 des DDR-StGB strafbar. Aber selbst wenn sich DDR-Richter aufgrund denunziatorischer Informationen der Rechtsbeugung schuldig gemacht hatten, ließ sich für die Nachfolgejustiz der auf eine Menschenrechtsverletzung bezogene Vorsatz des Denunzianten nur schwer nachweisen.
Der Sächsische Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Michael Beleites, der vor der Wende von 25 inoffiziellen und 15 offiziellen Stasi-Mitarbeitern denunziert und überwacht wurde, resümierte, daß ohne die IMs das Repressionssystem nicht in diesem Maße funktioniert hätte. Während jedoch die IMs ihre Schuld größtenteils abstritten, entschuldigten sich die meisten hauptamtlichen Mitarbeiter nach 1989 bei ihm und zeigten sich zu Gesprächen bereit: »Es waren Leute, die sich jahrelang vorher mit mir auseinandergesetzt hatten, die mich sehr gut kannten, mein Umfeld sehr gut kannten, die ich aber wiederum überhaupt nicht kannte, so daß es sehr einseitige Gespräche waren. Aber die waren für mich auch befreiend, denn damit wußte ich, welche Gesichter sich hinter diesen Namen der Täter verbergen, und ich wußte, daß die nach dem Herbst 1989 ganz andere Sorgen hatten, als mir noch irgendwie nachzustellen. Ich habe für mich die überraschende Erfahrung gemacht: Das waren keine besonders aggressiv oder zynisch veranlagte Typen, sondern ganz normale Papis und Opis, und dadurch konnte ich auch die Angst vor der Stasi verlieren – und das war für mich ein großer Gewinn.« Ist also die Motivation der Denunziation erkannt, werden die hinter Denunziation und Verfolgung steckenden Gesichter greifbar, schwindet die Macht über die Psyche der Opfer.
Beachtenswert ist das weitgehend nichtstaatliche System der Denunziation einer sich als »aufgeklärt« verstehenden Zivilgesellschaft, das im Zusammenspiel mit der Psychomacht der Medien auszugrenzende Menschen oder Gruppen unter Zuhilfenahme »tausend guter Gründe« anprangert und ein breites Verständnis für Sanktionen erzeugt.
Millionenschwere Förderprogramme »gegen Rechts« laden nicht nur Demokraten zur Teilnahme ein, sondern auch Linksextremisten, die allerdings Vorfeldorganisationen etablieren und sich selbst demokratischen Nimbus sowie Expertenstatus verleihen müssen. Die Finanzierung findet durch politische Lobbygruppen statt: Dutzende zumeist dezentraler Organisationen buhlen um Zuwendungen aus der öffentlichen Hand und liefern dafür Berichte und Analysen über Personen oder Zusammenhänge unter dem Leitmotiv der beschworenen Gefahrenabwehr. Aussteigerinitiativen können vor allem straffällig gewordenen Personen aus einer diffus politischen Jugendszene Hilfe anbieten, wenn diese als »Aussteiger« Interna über Dritte mitteilen. Über »Familienhilfe« oder »Elternberatung« dürfen Menschen unter psychologischer Obhut sogar ihre Verwandten denunzieren.
Die gesammelten Informationen werden von Journalisten und sogenannten Antifaschisten archiviert und gegebenenfalls steckbriefartig veröffentlicht oder, zumeist anonym, im beruflichen und sozialen Umfeld der Opfer ausgestreut. Ein militantes Milieu organisiert bei Bedarf mit Hilfe dieser Steckbriefe Anschläge auf Gut und Leben der Denunzierten.
Gerade in Zeiten ständig wechselnder politischer Systeme haben Denunzianten Hochkonjunktur. Während ihrer Vernehmung im Juni 1946 sagte Helene Schwärzel: »Hätte ich vorausgesehen, daß die Lage so schlecht wäre, so würde ich den G. nicht verraten haben. Aber bei uns wurde immer gesagt, wir bekämen neue Waffen …« Solange der Glaube an die Beständigkeit des herrschenden Systems ungebrochen ist, braucht sich der Denunziant keinerlei Hemmungen aufzuerlegen. Das schlechte Gewissen, die Angst vor Strafe regen sich erst, wenn nach dem politischen Paradigmenwechsel die Denunzierten selbst die Herrschaft übernehmen.
Der Fall der obrigkeitsgläubigen Anschwärzerin Schwärzel, die einerseits ihrer staatsbürgerlichen Pflicht zur Anzeige nachkam, andererseits von einer Obrigkeit für eben diese Denunziation ins Zuchthaus geworfen wurde, während Goerdelers Richter und Henker straffrei blieben (sie hatten lediglich geltendes Recht umgesetzt), verdeutlicht zudem, daß es auch für Denunzianten keine Rechtssicherheit gibt: »Der mit dem jeweiligen Rechtssystem konform handelnde Denunziant hat keinen Richter. Wird dieses System nachträglich seiner Legitimationsgrundlagen beraubt, hat er plötzlich deren zwei. Den ersten hat er benutzt, der zweite verurteilt ihn deswegen.« Mit welcher Begründung sollte also ein Denunziant in irgendeinem Herrschaftssystem sicher sein, sich nicht für das eigene Tun oder Unterlassen in späterer Zeit verantworten zu müssen?