Sein Autor, der 1951 in Frankfurt am Main geborene Gottfried Böhme, Lehrer an einem evangelischen Gymnasium in Leipzig, ist selbst Protestant und hält sich laut Vorwort nicht gerade für einen besonders frommen oder religiös eifernden Menschen. Das hindert ihn nicht daran, in Glaubensfragen einen dezidierten Standpunkt einzunehmen und, durchaus mit Schleiermacher als Ahnherrn, die Sache der Religion gegenüber den »Gebildeten unter ihren Verächtern« zu vertreten.
Sein Buch ist nicht zuletzt die Frucht einer langjährigen Auseinandersetzung mit seinen Schülern im »Dreiländereck zwischen Philosophie, Theologie und Naturwissenschaften«; einer von ihnen ist unter dem Namen »Vater Lazarus« Mönch in Buchhagen geworden und hat ein lesenswertes Nachwort beigesteuert, das die von seinem ehemaligen Lehrer aufgeworfenen Fragen aus der Sicht der Orthodoxie zu beantworten versucht.
In der Tat baut Böhme nicht nur auf evangelisch-reformierte Autoritäten wie Karl Barth, sondern nicht minder auf den Geist des Berges Athos oder auf die mystisch-philosophische Schau seines Namensvetters Jacob Böhme. Passend dazu zeigt das Umschlagbild eine im elften Jahrhundert aus Elfenbein geschnitzte Darstellung der »Jakobs«-Leiter, die den Aufsteigenden in »eine andere Sphäre der Wirklichkeit« führt. Böhme wendet sich gegen die Entkernung des christlichen Glaubens, die heute vor allem von zwei Angreifern betrieben wird: einerseits von den Vertretern der Naturwissenschaften, andererseits – und hier nennt Böhme einige niederschlagende Beispiele – von den Vertretern der evangelischen Kirche selbst.
Denn diese sind heute nur allzu bereit, den Eckstein, auf dem ihr Gebäude ruht, zu zertrümmern oder zumindest seine Existenz zu verschweigen und mit allerlei rhetorischen Mäntelchen zu behängen. Das besagte Fundament aber ist immer noch dasselbe, das Paulus im 1. Korintherbrief als Zentrum des Glaubens markierte: »Gibt es keine Auferstehung der Toten, so ist auch Christus nicht auferstanden. Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.«
Der Gekreuzigte war, ist und bleibt »den Juden ein Ärgernis, den Griechen eine Torheit«. An dieser Stelle bleibt Böhme unerbittlich, und er zeigt, wie sich die Würdenträger der Kirche, die Theologen und Religionslehrer um das Bekenntnis zu diesem »kleinsten Katechismus« hartnäckig herumwinden. Die ganze Misere demonstriert er anhand des besonders pfiffig und modern auftretenden Religionslehrbuches Elf-Zwölf Religion. Entdecken – verstehen – gestalten aus dem Jahre 2008.
Böhme billigt seinen Machern zu, daß es mit Intelligenz und Geschmack gestaltet wurde, weist aber nach, daß es mit seinem Übergewicht an »harten« religionskritischen Texten und seiner offenen Herablassung gegenüber »biblizistischen« Positionen und den von ihnen geprägten Gläubigen eher unterminiere, was es zu fördern vorgebe.
Man könne ein Lehrbuch wie dieses, dem schlichtweg die Bereitschaft fehlt, für die Sache des Glaubens einzustehen, in der Tat als Dokument der Kapitulation werten. Dabei renne es ohnehin offene Türen ein: Die Argumente der Religionskritik seien Gemeinplätze geworden, an die im Grunde heute fast jedermann »glaubt«. Die Gedanken von Feuerbach, Darwin, Marx, Freud und Nietzsche seien inzwischen in den letzten Hinterwäldlerkopf gesickert – wenn er auch die Namen ihrer Urheber noch nie gehört habe.
Böhme nennt die wichtigsten religionskritischen Säulen, die in ihrer heutigen Form vor allem auf Denkströmungen des 19. Jahrhunderts zurückgehen: Die Evolutionstheorie bietet eine modellhafte Erklärung über Dasein und Entstehung der auf der Welt lebenden Arten, die ohne die Idee einer »Schöpfung« und eines »Schöpfers« auskommt; die »Leben-Jesu-Forschung« hat die historische Faktizität der biblischen Überlieferungen bestritten; und die moderne Neurologie hat Gott und die Religion endgültig zu bloßen Hirngespinsten gemacht. Die Naturwissenschaften, die nur eine reine, materielle Immanenz anerkennen, haben damit allerdings die Wirklichkeit um Dimensionen beraubt, die jahrtausendelang Gültigkeit hatten und als eigentliches Signum des Menschseins galten.
Böhme zeigt, daß mit der Abschaffung Gottes als personaler Wesenheit auch der Mensch als Person zunehmend abgeschafft wird. Auch er wird als ein nur scheinbar Ganzes betrachtet, das sich in eine Vielzahl von Teilsummen und funktionalen Beziehungen auflösen läßt. In der Theorie der Neurowissenschaftler und Biologen wird er zu einem zufälligen Arrangement genetischer Kombinationen, das am Ende nicht mehr als seine Synapsen und neuronalen Prozesse »ist«. Dabei ahnen jene, die unter Berufung auf solche »wissenschaftliche« Argumente ununterbrochen verkünden, sowohl Gott als auch das Ich seien endgültig erledigt, in der Regel nicht, am Rande welchen Abgrunds sie eigentlich tanzen.
Böhme widerspricht nun der weitverbreiteten Vorstellung, daß »intellektuelle Redlichkeit« zwangsläufig zu atheistischen, szientistischen Positionen führe müsse – seine »Demontage eines überschätzten Begriffs« gehört zu den Höhepunkten seiner weniger polemischen als vielmehr kontemplativen Schrift. Den Gehirnforschern unterstellt er mangelhafte philosophische Bildung, die sie dazu verführe, aus ihren Meßergebnissen folgenschwere und falsche Rückschlüsse zu ziehen – Irrtümer, vor denen sie etwa das Studium Husserls und Heideggers bewahren könnte.
Hier liegt auch das Schlachtfeld von Böhmes zentralem Waffengang, einer Kritik des neuzeitlichen Zeitbegriffes, den er als »reduktionistisch« bezeichnet, weil er die Dimension der Ewigkeit oder des Ewigen aus seinem Denkhorizont verbannt hat – womit wohlgemerkt nicht eine »ewige« Dauer gemeint ist, sondern eine gänzlich von der linearen Zeit unterschiedene Zeitqualität, in der Kategorien wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichsam »aufgehoben« sind. Die naturwissenschaftliche Beobachtung hatte zwar darin recht, Gott aus dem Raum zu »vertreiben«: das ptolemäische Weltbild, das Sphären kennt, in denen Gott und die Menschen »wohnen«, beschreibt indes nicht die sinnliche Welt, und ein Fehler war es, dies zu verkennen.
Ein noch schwererer Fehler war es, auch das »Wirklichkeitselement« der Zeit von Gott zu »reinigen«, womit nicht nur Gott der Ewigkeit beraubt, sondern auch die Möglichkeit seines Einbruchs in die lineare Zeit – etwa im mystischen Zuspruch – theoretisch verneint wird. »Die Verkürzung des Zeitbegriffes scheint mir für den Bereich der Naturwissenschaften der neuzeitliche Sündenfall schlechthin zu sein. Wer es grundsätzlich ausschließt, daß aus einer verborgenen Ewigkeit Zeichen zu uns dringen, wer solche geheimnisvollen Bezüge zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit nicht mehr als mögliche Konstituente der durchaus irdischen Wirklichkeit ansieht, wirft nicht nur die Person und die Freiheit aus der Wirklichkeit heraus, sondern auch Gott. Insofern läßt sich der schleichende Atheismus unseres Kontinents mit einer Reduktion des Wirklichkeitsverständnisses in Verbindung bringen.«
Der Rezensent ist überzeugt, daß diese Aushöhlung der inneren wie äußeren, zeitlichen wie ewigen Wirklichkeit auf lange Frist das Ende dieses Kontinents besiegeln wird. Der Glaube aber ist für Böhme der »verworfene Stein des europäischen Hauses«, ohne den es seinen Halt verliert und vom Sand verschlungen wird. Sein Buch bietet klar und kohärent ausgebreitetes, »intellektuell redliches« Rüstzeug in Fülle, um der atheistischen Argumentation zu begegnen.
Wie stets in dieser Auseinandersetzung muß der einzelne seine grundlegende Entscheidung jedoch schon zuvor getroffen haben: alles hängt davon ab, ob er an die Wirklichkeit der »anderen Sphären« glauben will und kann, und ob er bereit ist, seine eigenen diesbezüglichen Erfahrungen nicht als Selbstgespräche, sondern als wahrhafte Begegnungen und Berührungen zu verstehen. Genau hier setzt das Nachwort von Vater Lazarus an.
Gottfried Böhme: Stein und Zeit, Verlag des heiligen Dreifaltigkeitsklosters Buchhagen, 424 Seiten, 18 €, hier bestellen.