Vielleicht kann man das neue Buch des Sozialwissenschaftlers Manfred Kleine-Hartlage am besten mit Hilfe eines kleinen Exkurses vorstellen. Sein Titel, Die Sprache der BRD, erinnert nicht zufällig an Victor Klemperers berühmte Studie des Jargons der NS-Herrschaft, LTI, kurz für »Lingua Tertii Imperii«, also die »Sprache des Dritten Reiches«. Der Dresdener Philologe gehörte als zum Protestantismus konvertierter Jude zu den Stigmatisierten und Verfolgten des Regimes, dessen Herrschaft sich nicht zuletzt in einer gezielten Gleichschaltung der Sprache des öffentlichen Raumes manifestierte.
Klemperer lebte in dieser Zeit wie ein eingekreistes Tier – die einzige Waffe, die ihm zur wenigstens mentalen Selbstverteidigung verblieb, war sein Tagebuch, die »Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre.« Als Haltegriff diente ihm die an sich selbst gerichtete Forderung: »Beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt.«
Dabei mußte er feststellen, daß sich die Propagandaphrasen derart flächendeckend in den Köpfen festgesetzt hatten, daß selbst die Gegner und Verfolgten des Nationalsozialismus unfähig waren, sich deren Begriffsrahmen zu entziehen. »Es waren keine großen Unterschiede zu merken; nein, eigentlich überhaupt keine. Fraglos waren alle, Anhänger und Gegner, Nutznießer und Opfer, von denselben Vorbildern geleitet.«
Denn »die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewußtem Denken oder bewußtem Fühlen in sich aufnehmen mußte. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang, und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden.« Worte aber »können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.«
Es ist nicht schwer, Klemperers grundlegende Betrachtungen auch auf die heutige Praxis der ideologischen Manipulation anzuwenden, die vermutlich noch tiefer und unerkannter wirkt als zu Goebbels’ Zeiten. Auch die »Lingua Reipublicae Foederatae Germaniae« funktioniert im Prinzip nicht anders als die »LTI«, auch sie ist inzwischen ähnlich »alternativlos« und allgegenwärtig. Auch sie wirkt sinnverkehrend und vernebelnd, dadurch eine totale »kulturelle Hegemonie« erzeugend und absichernd; auch sie »ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, sie macht zum Allgemeingut, was früher einem einzelnen oder einer winzigen Gruppe gehörte, sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift«. Dies fällt fast niemandem mehr auf, wie auch fast niemand mehr imstande ist, sich diesen Regelungen zu entziehen. Sich den gängigen Standardfloskeln analytisch-distanzierend zu nähern ist also durchaus ein Akt des Widerstandes.
Kleine-Hartlage listet die Schlager des BRD-Sprechs lexikonartig auf, um sie mit Sarkasmus gewürzt nach allen Regeln der Kunst zu demontieren. Dabei landet er einen Volltreffer nach dem anderen. Es bedarf hier eines geübten Schiffchenversenkers, denn die Effektivität der typischen Schlagworte, selbst – oder gerade! – der fadenscheinigsten, ist immer wieder verblüffend. Sie funktionieren inzwischen wie Knöpfe auf einem Automaten. Wann auch immer jemand es wagt, seine Stimme auch noch so vorsichtig gegen den Sound des newspeak zu erheben, sieht er sich augenblicklich Horden von Widerspruchsrobotern gegenüber, die sich ihm etwa mit dem beliebten Slogan »XY ist bunt! Wir leben Vielfalt!« entgegenstellen, dabei vor moralischem Eifer aus allen Nähten platzend. Anhand der politischen Karriere des Wörtchens »bunt« läßt sich im Gefolge Klemperers auch trefflich zeigen, wie die ideologisierte Sprache dazu neigt, sich selbst zu entlarven – die »LRFG« spricht Bände über die Infantilität und Realitätsflucht der bundesdeutschen Gesellschaft.
Trotz des Zuckergusses sind die »Arsendosen« nicht weniger giftig, weshalb Kleine-Hartlage hart, aber wohl leider zutreffend urteilt: »Ein Staat, in dem bis hin zum Bundespräsidenten alle vermeintlich seriösen Meinungsmultiplikatoren in stereotyper Weise eine solch kindische Kitschsprache sprechen, ist zum Tode verurteilt.« Ebenfalls auf seiner Abschußliste: »Bereicherung«, »Willkommenskultur«, »Toleranz«, »Ängste der Menschen ernst nehmen«, »Homophobie«, »breites Bündnis«, »krude«, »weltoffen«, »besondere Verantwortung«, »mündige Bürger«, »Haß«, »Antirassismus«, »Dialog«, »Demokratie« und über hundert weitere Evergreens und erledigte Fälle des landesüblichen »Diskurses«.
Ein Buch, das den Kopf befreit, die argumentativen Arsenale aufstockt und dabei auch noch vorzüglich zu unterhalten weiß.
Manfred Kleine-Hartlage: Die Sprache der BRD. 131 Unwörter und ihre politische Bedeutung, Schnellroda: Verlag Antaios 2015. 250 S., 22 €, hier bestellen.
Pommes
Ich freue mich schon auf die Lektüre. Von Herrn Kleine-Hartlage kann man einiges erwarten. :) Ich wünsche dem Buch viel Erfolg.