Ich sehe es zum Beispiel im großartigen Buch von Martin Lichtmesz, sowie in den Blogbeiträgen Lutz Meyers. Ich spüre es überall um mich herum. Gewisse, bisher oft unthematisierte Grundideen, wie Nominalismus, Dezisionismus, heroischer Subjektivismus/Nihilismus, kurz ein gewisser „Nietzscheanismus“, werden fragwürdig. Sie stehen mehr und mehr in der Kritik, „wenn sie überhaupt noch stehen“ (Nietzsche).
Daraus wird vielerorts die Frage nach einem „neuen Mythos“, bis hin zu einem „neuen Glauben“ laut. Es ist die über alle islamkritischen und rechtspopulistischen Diskurse ragende Sinnfrage, die sich hier aufdrängt. Bevor wir uns verteidigen, von Familienpolitik, Grenzen, Einwanderungsstopp, also dem „Wie“ des Selbsterhalts reden, müssen wir auch wissen „Wozu?“. Was ist der Sinn unseres Daseins?
Die inneren Immunschwächen Dekadenz und Nihilismus, die den Großen Austausch erst ermöglichen, sind vielleicht Symptome dieser unbeantworteten Sinnfrage. In dem „Gespenst der Fragwürdigkeit“ und der Suche nach einem tragenden, sinnstiftenden Mythos versammelt sich in unserem Lager vielleicht die entscheidende Frage, das „Unbehagen“ dieser Zeit. Solange sich die Rechte diesem „Gespenst“ nicht stellt, „reitet“ sie womöglich „auf einer Kuh“ (Lenin).
Ich glaube, daß diese „Stellung“ auch einen gewissen Grundkonsens unseres Lagers in Frage stellen könnte. Es geht in diesem Text um einen bestimmten Zug der Neuen Rechten, der bis auf die konservative Revolution zurückgeht. Ich will hier keine abschließende Definition zu „neurechts“ /„konservative Revolution“ versuchen – weitaus belesenere Menschen als ich haben hier bereits gute Arbeit geleistet –, sondern nur einen Aspekt herausgreifen und der „Fragwürdigkeit“ aussetzen.
„Konservativ ist, Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt.“ Damit formulierte Arthur Moeller van den Bruck einst so etwas wie ein „Systemprogramm“ einer konservativen Revolution.
Wen sprach er damit an? Das Lager des deutschen Konservativismus war aus einer romantisch-waldgängerischen Defensive gegen den napoleonischen „Imperialismus der Vernunft“, aus dem „Urschock einer von außen aufgezwungenen Modernisierung“ (Richard Herzinger) hervorgegangen. Es war damit immer schon eher „mythisch-national“ als „aufgeklärt-liberal“ veranlagt. Dieses Lager sah im Weimarer System keine erhaltenswerte Ordnung, sondern verfaulte Bürgerlichkeit. Es sah den revolutionären Marxismus und seinen Griff nach der Macht. Und es trat eine Flucht nach vorn an. Der deutsche Konservativismus „entschloß sich zu einer Art Verzweiflungstat – er wurde revolutionär.“ (Martin Greiffenhagen)
Die Verzweiflung trieb schöne und seltsame Blüten: Krisenpropheten, Lebensreformer, Germanenbünde, Futuristen, Avantgardisten, Völkische, Monarchisten, Nationalbolschewisten, Antisemiten, Traditionalisten, Ultramontane, Neuheiden. Alle auf der Suche nach einem namenlosen Anderen, einem „dritten Weg“, ja einem „dritten Reich“. Jünger rief den „Hochverrat gegen den Geist“ aus. Eine ganze Denkschule fiel, Nietzsche nacheifernd, mitten in Europa dem Aufklärungsdenken des Westens in den Rücken. Sie stürmte, im gleißenden Tatkult, auf einen deutschen Sonderweg…
Wir alle sind die Erben dieser Zeit und ihres konservativ-revolutionären Geistes. Doch ein gewisser Zug, das ist meine Befürchtung, kann uns heute in der beschriebenen Fragestellung auch in die Irre leiten. Sehen wir in einer „Sinnstiftung“, die über tagespolitische Fragen hinausgeht, die zentrale Aufgabe eines rechtsintellektuellen Lagers, so wird dieser Geist gar zum echten Hindernis.
Ich habe den Begriff „Sinnstiftung“ eingebracht. Wiederholen wir Moellers Satz: „Konservativ“ sei das „Schaffen“ von Erhaltenswertem. Wer hören kann, hört hier Nietzsche sprechen. Auch wenn Moellers Werk insgesamt ambivalenter ist, drückt sich hier wohl ein „modernes Verhältnis“ zu Werten und Wahrheit aus. „Über dem Menschen stehende“ Werte werden zu „übermenschlichen Werten“, d. h. zuletzt zu Werten, die sich der Mensch als eigener Gott und Gesetzgeber schaffen kann. Es ist die von Mohler und vielen anderen bis ins Äußerste gesteigerte „Form“, der Ausdruck eines Machtwillens, den der Mensch als „Herr der Formen“ (Jünger) dem Chaos aufprägt und ins Nichts setzt.
Das Entscheidende hier ist: Es ist der Willensakt, eine Machenschaft, die das Alte, Verfaulte zerschlägt und den neuen Wert erzeugt. Noch deutlicher wird dieser Zug eines revolutionär gewordenen Konservativismus bei Hans Freyer. Er sah im Setzungsakt der Wahrheiten selbst die entscheidende, einzige Wahrheit. Es geht um „reine Kraft, reinen Prozeß“. Die Frage nach Sinn und Inhalt ist „nicht nur falsch, sondern feige“, denn es „kommt gerade darauf an, daß das neue Prinzip das aktive Nichts in der Dialektik der Gegenwart, also die reine Stoßkraft zu bleiben wagt.“ (Freyer, Revolution von Rechts)
Auch der „Neue Nationalismus“ der jungen Jünger-Brüder faßte dieses Denken in klare, noch radikalere Worte. Die eigentliche Wahrheit einer konservativen Revolte, die ihre Wahrheiten aktiv setzen und schaffen will, ist im Kern die Setzbarkeit der Wahrheit durch das Subjekt selbst. Von ihr leitet sich alle Machbarkeit und Mobilisierung ab.
Ein Tatkult wird „Bedingung der Möglichkeit“ aller Wahrheiten. In Zukunft und die Vergangenheit „projiziert“, führt das zu einem klaren Bruch mit dem traditionalistischen Welt- und Wahrheitsbild. In der Neuen Rechten wirkt dieses Denken als „heroischer Subjektivismus“ Benoists und „Nominalismus“ Mohlers weiter. Es lebt vielleicht auch in Schmitts Dezisionismus, seiner „Entscheidung für die Entschiedenheit“ (Karl Löwith, Der okkasionelle Dezisionismus Carl Schmitts). Und auch der junge Heidegger atmete den Geist dieser Zeit, der ihn bis ins NS-Engagement trieb.
Dieser Tatkult ist womöglich eine Selbstsabotage, im Erhalt von ethnokultureller Identität und der unausweichlichen Frage “Wozu?”. Er muß uns, wenn wir die Frage nach Wahrheit, Glaube und Mythos ernsthaft stellen, zutiefst fragwürdig werden.
In diesem „aktivistischen Wahrheitsverständnis“ zeigt sich ein grausames, bittersüßes „Dilemma des Entzugs“ (das sich auch in jedem beliebigen Flirt vollzieht). Die Wahrheit ist ein „Weib“ (Nietzsche). Wenn man ihr nachläuft, wenn man sie zwingen, ergreifen, als Gewißheit feststellen oder gar als politische Funktion für das Volk setzen will, entzieht sie sich augenblicklich. Genau dasselbe gilt für Mythos und Glaube. Wenn man ihnen evolutionäre „Nützlichkeit“ und „Wert für das Leben“ zuerkennt und aus dem Baukasten unserer Tradition etwas Passendes herstellen will, hat man den Glauben bereits ganz und gar verloren. Ein zynischer „ungeglaubter Glaube“ (Adorno) an die eigenen Wahrheiten sitzt wie ein Stachel in diesem Denken und treibt es oft in die selbstinduzierte Ekstase oder manische Depression. Günter Maschke hat das im „faschistischen Intellektuellen“ gut beschrieben.
Dieses Denken hat sich auch in der jüngeren Geschichte – verglichen mit den Jahrtausenden zuvor, in denen Wahrheiten „erfahren“ und nicht erschaffen wurden – als völlig unfähig zum „Stiften“ des Bleibenden erwiesen. Geblieben sind uns von den politischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts oft nur Fetische.
Damit ist wieder etwas Entscheidendes angesprochen: Ein neuer Mythos und Glaube kann nicht geschaffen, sondern nur empfangen werden. Er kann „definitionsgemäß“ nicht begriffen und definiert werden, um, wie ein Zahnrad im System, eine Funktion zu erfüllen. Er bleibt ein Geheimnis, dem gegenüber man „offen“ sein muß. Man kann sich ihm nur in einer ganz anderen Stimmung als der der Machbarkeit annähern. Dieses aktivistische Denken, das „neue Werttafeln“ setzen und Staaten bauen will, ist ein Denken der Umsetzung und „Inbetriebnahme“.
Es steht am Fundament der modernen Gewißheit, alles „begriffen“ zu haben und nur mehr richtig manipulieren und „mobilmachen“ zu müssen. Freyer schreibt: „Wir sind fertig mit den Begriffen, nun greifen wir in die Welt. Wir haben widerlegt, nun revoltieren wir. Und ziehen aus den Prämissen der Philosophie den großen Schluß: die Tat.“ Diese Tat rechtfertigt sich selbst durch ihre Tatsächlichkeit. Ihre Wahrheit liegt im Effekt.
Das ist vielleicht nur ein scheinbarer „Hochverrat“ gegen den „abstrakten“ Geist der Moderne. Befindet es sich nicht noch im Rahmen eines modernen Menschen‑, Welt- und Wahrheitsbegriffes und seines „Humanismus“? Lebt ihn ihm nicht noch die grenzen- und wurzellose Hybris des „aufgeklärten Subjekts“ (das die Linken gerne mit „weiß und männlich“ identifizieren)?
Dieses Denken und seine politischen Umsetzungen wollten die Sinn-Daseinsfragen des Menschen „technisch“ und „organisatorisch“ lösen. Wollte es den „Himmel zwingen“? (Reinhold Schneider) Lebt in ihm vielleicht auch jener Ungeist, der „alle Dinge umbringt“ (Rilke), indem er sie mit seinen „Tastern und Greifern“ (George) analysieren, kategorisieren und zum „Funktionieren“ bringen will?
Um eines klarzustellen: Dieses Denken ist keineswegs die Essenz oder der philosophische Rahmen der Konservativen Revolution. Doch wenn es um die Frage „neuer“ Werte, Mythen und Wahrheiten geht, wird es sehr oft unbewußt schlagend. Aber ein Denken, dessen innerste Wahrheit eine Bejahung der subjektiven Setzbarkeit von Wahrheit ist, kann die große Fragwürdigkeit nicht stillen, kann uns nicht retten. Auch nicht, wenn es diese Wahrheit in den Dienst eines „National-Subjektes“ stellt.
Eine „Revolution von rechts“ ist, wie Heidegger erkannte, insofern sie fragloser Tatkult und „nietzscheanische“ Setzung von Werten ist, nur die äußerste Steigerung des Nihilismus. Diese Kritik betrifft sowohl Faschismus als auch NS, kurz: die gesamte „3. Politische Theorie“ (Dugin), insofern sie die Bändigung der Moderne mit ihren Mitteln ist. Das, was dieses Denken ersehnt, zerstört es. Es verjagt in seinem Zugriff dasjenige, dem es nachjagt.
Der Nationalsozialismus, der als lauteste und grellste Strömung dieser Zeit den gesamten rechten Aufbruch widerrechtlich „erntete“, steht mit seinem ganzen Wesen für diesen Widerspruch: Uralte Runen und Lichterdom, Erbhofgesetz und Reichsautobahn, Blut und Boden und Elektrifizierung. Diese Spannung erwies sich, wie alle konservativ-revolutionären Vordenker bald erkannten, als ungesunde Verspannung. Im NS verzerrt, wurde der Aufbruch der konservativen Revolte – wie Ralf Dahrendorf in einer wichtigen Studie zeigte – nur ein deutscher Sonderweg in die Moderne. Er und mit ihm der Faschismus sind nicht zu „reaktionär“, zu „gestrig“, sondern, um es provokant mit Heidegger zu sagen: zu modern und zu „humanistisch“.
Ein funktionales Denken, das sich Mythos und Glauben mit einem Vokabular des Herstellens nähert, ist unfähig zur Sinnstiftung. Ja, das ganze Projekt einer subjektiven „Sinnstiftung“ im Tatkult ist vielleicht in sich verkehrt. Die „Täter werden nie den Himmel zwingen.“ (Reinhold Schneider)
Heute schleicht sich diese Erkenntnis gespenstisch und unaufhaltsam in die verknöcherten Stellungen des „alles schon begriffen Habens“ ein und setzt uns einer tiefe Fragwürdigkeit aus. Das Diktat des „nackten Überleben des Volkes“, zu dessen Dienern Wahrheit, Mythos und Glaube werden sollen, widersteht dieser Fragwürdigkeit nicht. Ich glaube: Es steht gar nicht mehr. In uns allen erwacht die unterdrückte Frage nach dem „Wozu?“.
Wozu das alles? Wozu überhaupt Stellung halten, aufstehen, aktiv sein? Dies Frage kennt kein „rechts“ und „links“. Sie lebt im Grunde jedes modernen Subjekts – uneingestanden, aber bestimmend. Die gesamte Unterhaltungsindustrie – vielleicht nichts als eine große Ablenkung davon. Die Ausblendung von Sterblichkeit, Endlichkeit und Grenze ist die große Fluchtbewegung der modernen Konsumgesellschaft, die uns in Dekadenz und Nihilismus führt. Die universalistischen Sinnangebote von „links“ nehmen nur wenige ernst. Ihre One-World-Ideen sind „vor allem langweilig“, wie Davila weiß. Und wirklich, eine gähnende Langweile und Müdigkeit geht durch alles Genießen. In tausenden subkuturellen Eskapismen zeigt sich die Sehnsucht nach dem Geheimnisvollen, Mythischen, Sinnstiftenden, nach Identität.
Die rechte, unsere Alternative, das „nackte Überleben“, das Verteidigen und Erhalten des Eigenen um seiner selbst willen, befriedigt diese Sehnsucht schon lange nicht mehr. Nicht einmal mehr für uns selbst.
In der Katastrophe des Großen Austauschs kommt wie eine Welle auch diese Frage nach dem „Wozu?“ der Verteidigung und des Weiterlebens über uns. Die „innere Hohlheit“ aller rechtspopulistischen Massenbewegungen wird an ihr zerbrechen. Für die hundertausenden einströmenden Islamisten stellt sich diese Frage hingegen gar nicht.
Was ist überhaupt unsere Aufgabe als Deutsche und Europäer in dieser Zeit und dieser Welt? Ich glaube, die entscheidende Antwort, auf die viele unbewußt warten, kann nur aus unserem Lager kommen. Sie kann aber, wie ein Mythos, vielleicht nur „empfangen“ werden. Der Sinn unserer Stellung ist damit vielleicht, sich mehr als alle anderen in Frage stellen zu lassen. In unserem Leiden an dieser Zeit lebt eine Offenheit für das Geheimnis. Der Aufbau einer Offenheit ist in erster Linie der „Abbau“ der Verschlossenheit. Ein gewisser Zug des konservativ-revolutionären, „nietzscheanischen“ Denkens, kulminierend im Begriff der „Sinnstiftung“, muß dazu vielleicht der Fragwürdigkeit ausgesetzt werden.
Wenn wir das als Erben der ersten europäischen „Widerstandsbewegung gegen die Moderne“ wagen, können wir vielleicht auch die Botschaften der Konservativen Revolution und Nietzsches neu erfahren: als die leidenschaftliche Sehnsucht und das tiefe Leiden an einem Entzug, als feine Seismographen einer blinden Zeit voller blinzelnder Menschen. Geben wir den „machenschaftlichen“ Bezug zu Wahrheit als Gewißheit auf und öffnen uns dem „Dilemma des Entzugs“, so zeigt sich uns vielleicht auch im Nihilismus, im Tod Gottes, dem Verfall von Werten und Wahrheit eine eigene Wahrheit. Sie ist vielleicht in ihrer Verweigerung die wahre Antwort auf den totalen Zugriff der Moderne. In all dem Verfall von Conchita Wurst bis Mario Barth, Türken-Gangsta-HipHop bis Cybersex, „Refugees Welcome“, Abtreibung, Schuldkult, Dekadenz und Großem Austausch geschieht vielleicht „nicht Nichts“. Vielleicht „verbirgt sich ein Advent, dessen fernste Winke wir vielleicht doch noch in einem leisen Wehen erfahren dürfen und auffangen müssen, um sie zu verwahren für eine Zukunft, die keine historische Konstruktion, vor allem nicht die heutige, überall technisch denkende, enträtseln wird“ (Heideggger in einem Brief an Jaspers).
In der schwelenden Krise kreißt etwas. „Etwas“ Fatales kommt in jedem Fall auf uns zu und der „Point of no return“ ist bereits überschritten. Während wir hier vor den Bildschirmen sitzen, klicken, scrollen und tippen, wird Europa überrannt. Mehr denn je müssen wir „die Schwerter halten“. Ein rechtes Lager, das sich offen dem „Gespenst“ der Fragwürdigkeit ausgesetzt hat, kann aber vielleicht mehr, wird vielleicht auch „die große Hoffnung halten“.
Curt Sachs
Sofern ich die vielen Worte, die Herr Sellner hier wieder geschrieben hat, einigermaßen richtig verstanden habe, kann ich Herrn Sellners Gedanken gut nachvollziehen. Vor einer Antwort auf die selbst gestellte Frage schreckt er aber wohl noch zurück. Mal sehen, zu welchem Esogrüppchen er im Laufe seines Lebens noch konvertieren wird.
PS: Vielleicht ist jemand von der Sezession so nett, auch nachträglich noch die vielen Tippfehler in Herrn Sellners Beitrag auszumerzen. Danke.