Das Pantheon der russischen Literatur ist bekanntlich nicht arm an schillernden und radikalen Köpfen, aber selbst in dieser illustren Gesellschaft nimmt Boris Sawinkow (1879–1925) eine Sonderstellung ein. Ihm gelang, was im Jahrhundert von Jünger und d’Annunzio, T. E. Lawrence und Malraux zum Ideal gewisser Strömungen der literarischen Avantgarde werden sollte: Dichter und Täter zugleich zu sein.
Und was für einer: zwischen 1903 und 1906 war Sawinkow einer der ruchlosesten Drahtzieher des terroristischen Arms der sozialrevolutionären Bewegung. Seine spektakulärste Aktion war 1905 die Ermordung des Generalgouverneurs von Moskau, eines Sohns des Zaren. Die von Sawinkow geplante, aber nicht selbst durchgeführte Tat wurde den damaligen Gepflogenheiten gemäß mit dem Wurf einer selbstgebastelten Höllenmaschine bewerkstelligt. 1906 floh der Großmeister des Terrors vor dem Zugriff der Polizei nach Paris, wo ihn das Dichterehepaar Dmitri Mereschkowski und Sinaida Hippius unter seine Fittiche nahm, das zu diesem Zeitpunkt in eschatologischen Revolutionsphantasien schwelgte. Sie ermutigten Sawinkow zu jenem seltsamen Buch, dessen unzensierte Fassung erst 1913 erscheinen sollte:
Das fahle Pferd, betitelt nach einem Vers aus der Johannes-Apokalypse, erzählte in Form eines Tagebuchs die Geschichte eines Terroranschlags, hinter dem man unschwer das Attentat auf den Großfürsten Romanow erkennen konnte. Eine hölzerne, unvollständige deutsche Übersetzung war bereits 1909 in Kopenhagen erschienen, versehen mit einer bewußt irreführenden Autorenangabe.
Mehr als ein Jahrhundert später liegt der Roman endlich in einer vollständigen deutschen Fassung vor, kongenial übertragen von dem deutsch-russischen Lyriker Alexander Nitzberg. Im Nachwort verweist der Übersetzer auf die »filigrane und streng rhythmisierte Sprache« des Originals, dessen »subtile Klangfiguren« es im Deutschen zu bewahren galt. In der Tat zeichnet sich der Roman trotz des buchstäblich explosiven Inhalts durch einen kaltblütigen, sachlichen, dabei aber geradezu hypnotischen Duktus aus. Immerhin handelt es sich hier um ein Buch, über das Mereschkowski schrieb, es verhalte sich zu Dostojewski wie »die chemische Formel einer Explosion« zu »der Explosion selbst«.
Angesichts eines solchen Urteils mag die eher »introvertierte« Tonlage des Romans überraschen: der Terrorist mit dem englischen Decknamen George O’Brian, das alter ego Sawinkows, erscheint als Vorläufer der existentialistischen Helden eines Albert Camus, als Amoralist und Nihilist, dem der Tod als die letzte Wahrheit und Wirklichkeit erscheint, dem das Töten zur Obsession und die Todesgefahr zum einzigen Weg geworden ist, der Langeweile eines als absurd und schal empfundenen Daseins zu entrinnen.
Er ist nicht weniger ein décadent als etwa die Figuren eines Huysmans. Während die Motive seiner Gefährten politischer, religiöser, sozialer oder auch nur privater Natur sind, scheint George gleich einem Künstler den Terror um seiner selbst willen zu betreiben, als apokalyptischer Reiter, der trotz einer gelegentlich aufflackernden, irrlichternden Religiosität keineswegs von einem kommenden Himmelreich auf Erden träumt.
Der Rezensent mußte hier unweigerlich an ein Bekenntnis des Surrealisten Luis Buñuel denken: »Die Symbolik des Terrorismus, die unserem Jahrhundert zu eigen ist, hat mich immer angezogen. Ich meine den totalen Terrorismus, der auf die Zerstörung jeder Gesellschaft zielt, der ganzen menschlichen Rasse«, im Gegensatz zum Terrorismus als schnöde »politische Waffe im Kampf um irgendeiner Sache willen«.
Trotz seines autobiographischen Hintergrunds sollte Das fahle Pferd jedoch nicht als ungefilterte Selbstdarstellung mißverstanden werden; der Roman ist nur eine weitere der vielen Masken, die Sawinkow im Laufe seines unwahrscheinlich anmutenden Lebens trug. So kehrte er 1917 nach Rußland zurück und wurde kurzfristig Kriegsminister unter Kerenski. Nach Ausbruch der Oktoberrevolution trifft man ihn überraschenderweise im Lager der Weißen an, im Kampf gegen die Bolschewiken, deren erbitterter Gegner er nun wurde.
1924 lockte ihn die sowjetische Geheimpolizei GPU nach Minsk. Er wurde festgenommen und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Aus dem Gefängnis schrieb er nun Briefe an seine Bekannten, in denen er sich als glühender Bewunderer des Bolschewismus zeigte. War dieser Sinneswandel aufrichtig, war er durch Folter erzwungen? Dies ist heute ebenso ungeklärt wie die Umstände seines Todes: sein Sturz aus dem Fenster seines Gefängnisses mag Mord oder Selbstmord gewesen sein. Boris Sawinkow bleibt eine rätselhafte, undurchsichtige Figur; ein Eindruck, der durch das achtzig Seiten starke Dossier von Jörg Baberowski und Alexander Nitzberg, das der Neuausgabe dieses nicht minder rätselhaften, finster faszinierenden Romans beigegeben wurde, nur noch verstärkt wird.
Boris Sawinkow: Das fahle Pferd. Roman eines Terroristen, Berlin: Galiani 2015. 304 S., 22.99 € – hier bestellen!
gert friedrich
Da fällt mir noch Andreas Baader ein.