wie geht es weiter mit Syrien? Eine Tagung der »Gesellschaft für Internationale Friedenspolitik e. V.« (GIF), ging am 22. und 23. Oktober genau diesen Fragen auf den Grund (Bericht der SEZESSION hier und hier). Einer der Referenten war Kevork Almassian, Syrer mit armenischen Wurzeln, Christ, in Deutschland lebend. Am Rande der Tagung führten wir ein Gespräch mit dem Analysten und Politikwissenschaftler, das nun im folgenden wiedergegeben wird.
SEZESSION: Bitte erzählen Sie uns etwas über Ihren biographischen Hintergrund.
KEVORK ALMASSIAN: Ich bin 29 Jahre alt, stamme aus Aleppo, bin dort aufgewachsen, dann zur Ausbildung nach Damaskus gezogen und habe in der Hauptstadt meinen Bachelor-Abschluß in Internationalen Beziehungen und Diplomatie mit dem besten Durchschnitt der Universität abgeschlossen; von der Uni gings in Austauschprogramm für zwei Semester, und zwar studierte ich an der Pariser »Sciences Po« Europäische Politik – dort erhielt man auch einen guten Einblick in den Aufbau und die Funktion der EU. Nach meiner Rückkehr in die Levante wollte ich mein Master-Studium in Beirut beenden, hatte aber leider wegen des aufflammenden Kriegs keine Möglichkeit zur Abschlußarbeit. Ich mußte mir meinen Lebensunterhalt verdienen, weil das Geschäft der Eltern von »Rebellen« ausgebombt wurde; ja, und jetzt bin ich in Deutschland und plane, nächstes Jahr mein Studium fortzusetzen und abzuschließen.
SEZESSION: Sie kommen aus Aleppo. Was ist zu dieser großen Kultur- und Handelsstadt zu sagen? Worin liegt ihre Bedeutung für die aktuellen Kämpfe und langfristig für den Krieg in Syrien an sich?
ALMASSIAN: Zunächst ist Aleppo eine höchst geschichtsträchtige Stadt. Der heutige Kampf um Aleppo ist auf mehreren Ebenen von Bedeutung: die Stadt liegt an der Grenze zur Türkei, die sie für eine ideale Plattform zum Ausbau ihres Einflusses im Mittleren Osten hält, wie es die Ottomanen, »Erdogans Urahnen«, taten; zweitens ist Aleppo eine sehr wichtige Industriestadt und stellt eine direkte Konkurrenz für die türkische Wirtschaft dar – auch deshalb soll sie geschwächt, ausgeschaltet oder annektiert werden; drittens wissen alle Beteiligten: Wenn die syrische Regierung unter Assad, die Russen und die libanesische Hisbollah Aleppo erobern, könnten zwei Drittel des Kriegs vorüber sein; der Westen und seine Alliierten wissen das, und genau deshalb sind wir mit einer beispiellosen hysterischen Berichterstattung gegen Assad und Putin als Kinder- und Frauenmörder konfrontiert… Ohne Aleppo, ohne Damaskus, ohne Latakia, ohne Hama, Homs: Was bliebe den Islamisten von IS bis Nusra und FSA? Raqqa…
SEZESSION: … nur noch Wüste.
ALMASSIAN: Genau. In Syrien redet man vom »wichtigen Syrien«, d. h. Damaskus, Aleppo, Homs, Latakia usw.; Idlib und Raqqa hingegen – die eine Stadt hält Nusra, die andere der IS – haben sich nun außerhalb der UN-Charta und ‑Resolutionen gestellt, deshalb ist es durchaus legitim, diese zu bombardieren. Daß Nusra und IS unzweifelhaft Terrororganisationen sind, kann noch nicht mal die internationale Gemeinschaft bestreiten. Was bleibt ihnen also? Aleppo bleibt; sie glauben, die sogenannten Rebellen, islamistische Allianzen, könnten gewinnen, aber die sind von allen Seiten eingeschlossen und können wenig Nachschub hereinbringen, den sie zum militärischen Überleben benötigen; daher ist es, meiner Meinung nach, nur noch eine Sache von drei oder vier Wochen, ehe ganz Aleppo unter Regierungskontrolle gerät.
SEZESSION: Glauben Sie, daß die Schlacht um Aleppo eine Entscheidungsschlacht ist?
ALMASSIAN: Ja, dieser Kampf wird aus etlichen Gründen entscheidend sein. Erstens wird die zweitgrößte Stadt Syriens in der Hand der Regierung sein; zweitens, gesellschaftlich gesprochen, umfaßt Aleppo und sein weitläufiges Umland einen großen Block sunnitischer Moslems, es sind fast 4 Millionen, die – wenngleich nicht alle pro Assad orientiert sind – zumindest gegen die ominöse Revolution eingestellt sind, also sozusagen nicht direkt, aber mittelbar auf Seiten der Regierung stehen… Wissen Sie, die Menschen in Aleppo sind Händler, Geschäftsleute, die einfach ihre Leben weiterleben wollen… Nungut: Durch die Einnahme dieser Stadt wird also der Türkei Einhalt geboten und – ich übertreibe nicht – zwei Drittel des Kriegs werden gewonnen sein. Strategisch gesehen wird es für die Aufständischen fast unmöglich sein, Aleppo zurückzubekommen. Alleine die Kosten für die Aufrüstung der islamistischen Fraktionen! Es handelt sich hier um Milliarden von Dollar für Katar und Saudi-Arabien, um ihre Rebellen neu zu organisieren und zu bewaffnen – der ganze Prozeß könnte bis zu fünf oder zehn Jahre dauern.
SEZESSION: Halten Sie es für möglich, daß die syrische Regierung und ihre Alliierten in der Schlacht um Aleppo all in gehen, oder glauben Sie, das wäre zu kräftezehrend? Denn auch im Umfeld des Präsidenten weiß man natürlich, wie wichtig dieser Sieg wäre.
ALMASSIAN: Die halbe Stadt ist bereits unter Kontrolle der Regierung, dort leben 1,5 Millionen Menschen; in der »rebellischen« anderen Hälfte maximal 300 000 Menschen, also selbst das nominelle Kräfteverhältnis der Bevölkerung ist auf Seiten der Regierung. Für die syrische Regierung wäre die Einnahme-um-jeden-Preis dieses östlichen, von Rebellen gehaltenen Gebiets freilich so verlustreich, infrastrukturell und bezüglich der Menschen, daß sie es lediglich eingekreist haben und gewissermaßen belagern. Aber nicht ohne Ausweg: den einheimischen Terroristen wurde eine Amnestie angeboten, wenn sie ihre Waffen niederlegen, sie können aber auch nach Idlib gehen, wo ihresgleichen regiert…
SEZESSION: Natürlich drängen sie, wenn überhaupt, nicht nach Frieden, sondern nach Idlib.
ALMASSIAN: Natürlich. Außerdem: Gerade vor ein paar Tagen öffnete die Regierung mit russischer Unterstützung mehrere humanitäre Korridore, um wenigstens Zivilisten abziehen zu lassen, woraufhin die vom Westen mit Sympathien betrachteten Rebellen die Korridore mit Mörsern und Raketen beschossen haben; sie benutzen Zivilisten als menschliche Schutzschilde und beschießen Krankenwagen, um sie am Abzug zu hindern; sie haben sogar sechs Mitglieder eines Wiederversöhnungskomitees in Ostaleppo umgebracht, ihre eigenen Leute, weil die sie aufgefordert haben, die Zivilisten gehen zu lassen und wie Männer zu kämpfen, d. h.: ohne Geiseln!
SEZESSION: Was Aleppo angeht: Vielfach heißt es, daß es dabei nur um die Wirtschaft ginge. Welche Rolle spielen für Sie im Norden Syriens die Türkei, der IS und das Ölgeschäft?
ALMASSIAN: Die Türkei spielt eine herausragende Rolle, wie auch Katar und Saudi-Arabien; die drei sind die eigentlichen Kriegstreiber gegen die syrische Regierung; die Türkei ist vernetzt mit zahlreichen Anti-Assad-Gruppen: al-Nusra, al-Qaida, IS, FSA, Ahrar al-Sham, Islamische Armee… Diese Investition in diverse Gruppen dient in jedem Fall türkischen Interessen. Es ist klar, daß die eine oder andere Gruppe irgendwann zusammenbrechen wird. Deshalb stellt man durch Unterstützung diverser Gruppen sicher, daß man am Ende definitiv die Oberhand in den zwangsläufigen Konferenzen behalten wird, daß man in jedem Falle am Verhandlungstisch sitzen wird. Erdogan und seine islamisierte Türkei haben viel investiert, doch die Rebellen haben dennoch zuwenig Manpower, was beweist, daß die Mehrheit des syrischen Volks keinen bewaffneten Aufstand will.
Genau deshalb müssen sie fremde Kämpfer ins Land bringen, die auf lange Sicht die eingeborenen Kämpfer dominieren, weil sie mehr Kampferfahrung aus Tschetschenien und Afghanistan haben. Wenn der Kampf beigelegt wird, wenn die Regierung fällt, wenn Assad fällt, werden diese extremen Leute über die politische Zukunft Syriens entscheiden, und wenn man ihre Hintergründe prüft, zeigt sich, daß sie sich kaum vom IS unterscheiden, höchstens marginal ideologisch. Also Sie müssen sich das so vorstellen: daß die einen ein islamisches Kalifat und die anderen einen islamischen Nationalstaat wollen, daß die einen überhaupt keine Wahlen akzeptieren, während die anderen eine von Scharia-Richtern stark eingeschränkte Demokratie dulden könnten usw. usf.
SEZESSION: Ich denke, wir müssen hier auch über die weltweit aktive Muslimbruderschaft sprechen. Was denken Sie, welche Rolle spielt sie heute, welche Rolle spielte sie 2011, als die sogenannte Revolution begann?
ALMASSIAN: Historisch gesehen sind wir hier mit einer offensichtlichen Unvereinbarkeit zwischen den Systemvorstellungen konfrontiert. Die Baath-Regierung unter Assad hat einen säkularen, nationalistischen Charakter, während die Muslimbruderschaft eine sunnitisch-islamische Ordnung will. Da kann es keinen Kompromiß geben, nur A oder B. Anfang 2011 hat sich die Muslimbruderschaft im übrigen im Hintergrund gehalten und ihre Ressourcen für später aufgespart, weil sie wußten, daß sie zu einem späteren Zeitpunkt intervenieren und die Lorbeeren des anvisierten Regime change ernten könnten; also warteten sie ein Jahr lang und waren dann 2012 beteiligt, Jabhat al-Nusra und Dschaisch al-Fatah zu gründen, finanziert von Katar… Gewiß: Die Muslimbruderschaft hat sich nicht dem IS angeschlossen, ihre Fußtruppen kämpfen vereinzelt gegen den IS, aber untersucht man ihre Ideologie, ihre fanatische Religionsauslegung, kommt man rasch zu dem Ergebnis: sie unterscheiden sich nur marginal von ihnen. Heute ist die Bruderschaft besonders in der Region um Aleppo das Rückgrat der Rebellentruppen: Die Operation zur »Befreiung« Aleppos war sogar nach einem früheren Führer der Muslimbruderschaft benannt. Heute arbeiten sie nicht nur auf militärischer, sondern auch medialer Ebene; viele Aktive der MB-Führungsschicht sitzen in Europa, in Deutschland, in Großbritannien, in Frankreich. Sie wurden und werden ausgebildet und umsorgt von liberalen NGOs; in den Medien treten sie modern auf, mit schicken Anzügen, ohne Bärte, und sie lächeln die ganze Zeit, ja, sie lächeln; sie wissen, wie man mit den modernen Massenmedien spielt, sie reden von Demokratie und Menschenrechten und allem, was Liberale eben so hören wollen. Tja: In Wahrheit zwingen sie ihren Frauen die Verschleierung auf, schlagen sie, wenn sie unerlaubt ausgehen, schließen zur Gebetszeit ihre Geschäfte und all das, was der IS eben auch tut.
SEZESSION: Sie sind die sunnitischen Muslimbrüder so radikal wie die das sunnitisch-wahabitische Saudi-Arabien?
ALMASSIAN: [Lacht] Es gibt einen Unterschied: Die saudischen Wahabiten sind ehrlicher und sagen ganz offen: »Unser Urvater hat uns befohlen, Schiiten, Christen und Alawiten zu vernichten«. Die Muslimbruderschaft ist da anders: Ihre geschulten Kader behaupten, friedliche Koexistenz und die Einhaltung der universellen Menschenrechte anzustreben, während ihre Kämpfer Andersgläubige und Andersdenkende verfolgen, bekämpfen, töten.
SEZESSION: Was ist aber mit Ägypten? Dort spielten die Brüder eine wichtige Rolle, unter Mursi hatte man die Regierungsmacht, ehe sie vom Militär zerschlagen wurde. Glauben Sie, daß Ägypten und Syrien in bälde ein besseres Verhältnis haben könnten, weil sie einen gemeinsamen Feind, sunnitische Extremisten, haben, oder wird Ägypten – soweit möglich – neutral bleiben?
ALMASSIAN: Ganz konkret: Seit Sisi an der Macht ist, wurden die Beziehungen Ägypten-Syrien wiederbelebt, zunächst mit sehr gutem geheimdienstlichen Austausch. Das alles erfolgt jedoch unter der Hand und nicht öffentlich… Man hat schließlich nicht nur die Muslimbruderschaft als gemeinsamen Feind. Vergessen sie die ersten IS-Zellen auf der Sinai-Halbinsel nicht! Aber ansonsten wird die syrisch-ägyptische Kooperation vertieft werden. Im Nahen Osten kursiert wieder ein altes Sprichwort: »Die Sicherheit Ägyptens ist die Sicherheit Syriens«. Wenn Syrien fällt, fällt irgendwann auch Ägypten; Sisi weiß das und arbeitet sicherheitspolitisch mit der syrischen Regierung zusammen. Ein Beispiel: Erst vor einigen Tagen hat der Leiter des syrischen Sicherheitsapparats zum ersten Mal seit mehreren Jahren Ägypten besucht, ganz offiziell, um die Zusammenarbeit zu vertiefen; es ist doch sehr wahrscheinlich, daß Sisi und Assad irgendwann ihr Verhältnis wieder verbessern, weil es keinen Grund gibt, weshalb sie es nicht tun sollten. Unterm Strich: Ägypten kann eine stabile, funktionsfähige Regierung und ein ebensolches politisches System in Syrien nur gutheißen. Den sunnitischen Hardlinern muß Einhalt geboten werden, ob in Kairo oder in Damaskus.
SEZESSION: Nun sind Sie ein Journalist, der in Deutschland über diese Themen spricht. Wenn Sie nun ein deutscher Kritiker fragte, warum Sie als Syrer nicht in Syrien auf Seiten der Regierung kämpfen, was würden Sie antworten?
ALMASSIAN: Nunja, der Krieg in Syrien, gegen Syrien, wird ja nicht nur auf militärischer, sondern auf vielen Ebenen geführt, z. B. auch wirtschaftlich, medial, gesellschaftlich. In diesem Krieg brauchen wir jeden, der Fachkenntnisse irgendeiner Art hat, an seinem Platz. Man kann schließlich auch keinen Arzt aus seiner Praxis holen und an die Front schicken; er dient der Sache besser, wenn er sich um Verwundete kümmert. Und so handelt auch die Regierung, weshalb es, das sollte man nicht vergessen, nur eine Teilmobilmachung gab und gibt.
SEZESSION: … deshalb geht die syrische Regierung nicht all in, setzt nicht alles auf eine Karte.
ALMASSIAN: Genau! Assad sagte: »Wir wollen nicht, daß jeder loszieht und kämpft, dieses Land muß stabil bleiben«, wirtschaftlich, gesellschaftlich, es braucht Lehrer, jemand muß der Propaganda begegnen*, denken Sie insbesondere an Social Media, man kann nicht jedermann einziehen und in die Schlacht werfen, das würde Syrien nichts nützen… Wenn man häufig in den Medien auftritt und die Falschdarstellungen der Situation in Syrien korrigiert, sieht das ganz anders aus – man dient Syrien, indem man die öffentliche Meinung im Ausland nicht den Feinden des Landes überläßt. Immerhin sind im Westen alle Mainstreammedien gegen Assads Syrien und Rußland. Man dämonisiert Assad schlichtweg. Es braucht also fähige Leute für die Öffentlichkeitsarbeit, denn eigentlich sind Westler ja intelligente Menschen und wollen von ihresgleichen hören, wie die Lage ist. Deshalb konzentrieren sich Mainstreammedien, wenn sie Assad-Sympathisanten überhaupt erwähnen, auf Idioten. Wenn ein Syrer vor einer Kamera fordern würde – und glauben Sie mir, so denken viele Syrer, selbst entschiedene Assad-Kritiker, die Angst vor Islamismus und Scharia-Staat haben –; wenn also nun ein solcher Syrer fordern würde »Let Assad nuke them all!«, würden sich die westlichen Medien sofort darauf stürzen und ihn in den Mittelpunkt rücken, die besonnenen, intelligenten Medienvertreter und Politiker aber ausblenden, weil sie seit Beginn des Propagandakriegs gegen Syrien die Pro-Assad-Syrer als ungebildet und gewalttätig darstellen wollen.
SEZESSION: Auch um nonkonforme geopolitische Meinungen sachlich zu vertreten, sind Sie Mitbegründer des German Center for Eurasian Studies des deutschen Journalisten und Konfliktreporters Manuel Ochsenreiter geworden. Was ist das für eine Institution, und was erwarten Sie von ihrer Arbeit?
ALMASSIAN: Das German Center ist eine neue Denkfabrik mit verschiedenen Funktionen und Zielen; ich bin dort Experte für den Nahen Osten. Bislang trägt sich alles durch ehrenamtliche Arbeit, trotzdem führen wir Untersuchungen und Analysen durch, besuchen verschiedene Länder zur Wahlbeobachtung oder für die Organisation von Kampagnen und Konferenzen. Es braucht heute alternative Strukturen, in denen man nicht Gefahr läuft, mit einschlägigen politischen Stigmata belegt zu werden, gerade auch in Deutschland. Fürs German Center kann ich offen schreiben, was ich denke, etwa wie die deutsche Regierung im Interesse ihrer Bürger handeln sollte. Wissen Sie, weltweit steht die Wahrnehmung nationaler Interessen ganz selbstverständlich an erster, unverrückbarer Stelle – außer offenbar für Deutsche, für Europäer. Die arbeiten sogar gegen ihre eigenen Interessen, verhängen Sanktionen gegen Rußland, wodurch ihre Wirtschaft Verluste einfährt, liefern Waffen an unterschiedlichste Terroristenbanden in Syrien, die dann irgendwann in Frankreich und Deutschland Anschläge verüben…
SEZESSION: Dann heißt es: Radikalisierte Syrer.
ALMASSIAN: Ja. Das ist doch absurd, wie die Anti-Assad-Fraktion in der deutschen Politik, in den deutschen Medien direkt oder indirekt die islamistischen Mörder deckt und stützt. Ich fordere daher jeden Unterstützer der »Revolution«, aus Deutschland oder sonstwo in Europa, auf, mir einen einzigen Assad-Anhänger zu zeigen, der auch nur darüber nachdenkt, eine solche Bluttat wie im Bataclan oder in Nizza zu begehen! Einhundert Prozent der Attentäter in Europa sind Assad-Gegner. Sie kommen aus Zusammenhängen, die von westlichen und den Golf-Staaten finanziert und ausgehalten werden! Es gibt keinen Assad-Anhänger, der auf den Gedanken käme, sich in Deutschland in die Luft zu sprengen. Nein, das ist krank, auf solche Ideen kommen nur islamistische Terroristen. Dennoch gilt ihnen, den Islamisten unterschiedlicher Spielart, die Sympathie der Mainstreammedien …
SEZESSION: … solange sie in Syrien weiterbomben und weitermorden – und nicht in Europa.
ALMASSIAN: Genau.
SEZESSION: Dabei gibt’s ja auch Gegenbewegungen zum Islamismus. Gerade auch in Syrien. Ich las beispielsweise im einflußreichen US-Magazin Foreign Policy über die Syrische Sozial-Nationale Partei (SSNP). Dort hieß es, diese alte Partei sei heute besonders bei jungen Syrern säkularer und nationaler Ausrichtung beliebt. Denken Sie, die SSNP wird beim Wiederaufbau Syriens eine wichtige Rolle spielen, oder sehen Sie das als kurzzeitiges Phänomen der christlichen Minderheit in den größeren Städten?
ALMASSIAN: Tatsächlich ist eine der wenigen positiven Auswirkungen des Kriegs die Wiedergeburt der SSNP. Der Grund ist klar: Zum einen werden sie belohnt werden, weil sie sich zum aktiven Eingreifen in den Krieg auf allen Ebenen entschlossen haben – und wer mitkämpft, wer leidet, wer hilft, das Land und die Menschen zu retten, wird wohl nach Kriegsende ein Stück der Macht abbekommen. Außerdem wurde die SSNP in Syrien zu einer weitläufig respektierten Partei. Selbst ihre regierende Konkurrenz, die Baath-Partei Assads, zeigt Respekt vor der Leistung der Sozialnationalen, die marginalisierten Kommunisten im übrigen ebenfalls. Wichtigster Boost für das Revival der SSNP, für ihre Beliebtheit in den syrischen Jugendmilieus, ist aber die heutige Wut und Frustration der meisten Syrer darüber, daß arabische Muslime all diese Waffen und Terroristen in ihr Land schleusen, um sie umzubringen… Wenn man heute einen syrischen Bürger auf der Straße fragt, was er vom Panarabismus oder auch nur von einer arabischen Identität hält, dann wird er fluchen und sagen: »Was haben wir denn von dieser Identität gehabt? Schau dich um, sie, unsere arabischen Brüder, versuchen, uns umzubringen!«
SEZESSION: Man orientiert sich identitär um: »Wir sind Syrer, keine Araber.«
ALMASSIAN: Ja, ganz genau. Viele jugendliche Syrer, häufig junge Akademiker, ob in Aleppo oder in Latakia, vertreten solche Standpunkte wie: »Machen wir uns doch nichts mehr vor über panarabische Träume, die in den 1950er Jahren zirkulierten. Wir haben keinerlei Gemeinsamkeiten mit Saudis, Kataris oder Mauretaniern. Wir wollen Syrer sein.« Und wenn jemand Syrer sein will, dann ist die SSNP seine Partei. Es ist richtig: Die meisten von ihnen sind jung, sehr jung, aber die SSNP-Basis besteht nicht nur aus Christen, sondern aus all denjenigen, die sich einbringen wollen für ein säkulares nationales Syrien, die aber zugleich kein “Weiter so” der Baath-Regierung dulden möchten – zumal das Ansehen der Baath-Partei in Syrien nicht sonderlich hoch ist, selbst unter den Unterstützern der Regierung. Assad ja, Baath-Partei nein. Diese Haltung ist weitverbreitet.
SEZESSION: Also ist der Panarabismus out und ein »Großsyrien« im Geiste Antun Sa’adas könnte ein Entwurf für die Zukunft sein?
ALMASSIAN: Auf dem Papier ja, aber nicht in der Praxis. Derzeit ist Baath die stärkste Partei und kontrolliert alle Institutionen und das Militär; die Regierung wird nicht von ihrem Panarabismus lassen, den ich persönlich in Syrien nicht fortgesetzt sehen möchte… Am Ende geht es aber nicht um Wunschträume, sondern darum, wer stark ist und führen kann; das ist derzeit eben die Baath-Partei und wird es vorerst bleiben. Veränderungen sind nur langfristig möglich. Immerhin strömt die Jugend nun zur SSNP, wodurch sich die Reihen von Baath lichten werden…
SEZESSION: Schauen wir in die Bundesrepublik: Deutsche spenden vor allem in der Vorweihnachtszeit gern ihr Geld an Stiftungen, NGOs, Kirchen usw. In deutschen Städten sieht man nun auch öfters junge Syrer, die Geld für ihre Heimat sammeln. Kann man grob schätzen, was das für Leute sind?
ALMASSIAN: Ich kann die Deutschen dafür nicht verurteilen, weil Leute von NGOs usw. sehr intelligent sind. Wer aber wirklich etwas für Syrien tun will, sollte Geld sammeln und es an die syrische Regierung schicken, denn die kümmert sich um 70 Prozent des syrischen Volks! Man sehe sich doch nur diese Heuchelei an: Europäische Staaten verhängen Sanktionen gegen die Regierung, die 70 Prozent des syrischen Volks in ihren Gebieten versorgt, und sammeln dann Geld, um es den Jihadisten zukommen zu lassen, die die anderen 30 Prozent kontrollieren!? Diese Groteske wäre ja noch in Ordnung, wenn das Volk etwas von dem Geld hätte, aber das hat es nicht! Teilweise benutzen Islamisten das Spendengeld sogar, um sich nach Europa abzusetzen… Wenn man in einem Flüchtlingslager lebt, weiß man, was für Menschen da nach Deutschland kommen, und das sehen Journalisten auf ihren Stippvisiten nicht. Dafür wird das deutsche Volk irgendwann einen hohen Preis bezahlen. Ich hoffe, daß sich das noch verhindern läßt. Aber viele meiner Landsleute, die hierher strömen, sind potentielle Gefährder; meine Einblicke in die Flüchtlingsheime in Deutschland haben mir jedwede Illusion, jedwede Sympathie geraubt. Ich vertraue niemandem, der sein Land an den Feind verkauft hat. Wer für sein Heimatland nichts geleistet hat, kann auch nichts für Deutschland leisten, oder?
SEZESSION: Was haben Sie denn in den Flüchtlingslagern erlebt, in denen sie gearbeitet haben?
ALMASSIAN: Nun: Die meisten auskunftsbereiten Flüchtlinge stehen radikal entschlossen auf der Anti-Assad-Seite, und ich kenne keine einzige Gruppe, die gegen die Regierung kämpft und keine Terrororganisation ist. Nicht eine einzige. Wer also hier die Rebellen unterstützt oder mit ihnen sympathisiert, steht auf der Seite der Terroristen. Das ist keine unzulässige Verkürzung. Schauen Sie: Wenn hier in Deutschland ein einziger Imam fünf bis zehn Gläubige aufhetzt und diese fünf bis zehn Typen nun fünf bis zehn Anschläge an verschiedenen Orten verüben, wird im ganzen Land Panik ausbrechen. Panik gab es schon wegen geringeren Vorfällen. So banal ist es manchmal. Ich habe es schon vor einem Jahr gesagt und sage es erneut: die Sicherheit in Deutschland ist eine Illusion! Jedermann kann mit einem Rucksack voller Sprengstoff zum Hauptbahnhof gehen, sich in die Luft sprengen und Hunderte Menschen töten. Die Islamisten sind nicht untätig, und die Flüchtlingsherbergen bieten genug Rekrutierungspotential.
SEZESSION: Was wäre hier zu tun?
ALMASSIAN: Es braucht in jedem Fall ein besseres Durchleuchten der Neuankömmlinge. Flüchtlinge aufzunehmen ist eine Sache; mit ihnen zurechtzukommen, eine andere. Wenn nur 5 Prozent der Flüchtlinge in Deutschland mit Ideen und Taten der Islamisten sympathisieren, was noch defensiv geschätzt ist, dann sind das schon sechs- bis siebentausend potentielle Terroristen. Verstehen Sie den Ernst der Lage? Das würde reichen, um Aleppo einzunehmen!
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* Zunächst stand hier: »… jemand muß auch Gegenpropaganda machen«. Dies war ein Übersetzungsfehler in der Übertragung der O‑Ton-Aufnahme ins Schriftliche.
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Wer sich im Leserkreis für den Brandherd Syrien interessiert, wird bei Antaios fündig. Empfehlenswert sind vor allem folgende Werke:
+ Tim Anderson: Der Schmutzige Krieg gegen Syrien: Washington, Regime Change, Widerstand, 280 S., 15 €.
+ Karin Leukefeld: Syrien zwischen Schatten und Licht. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land, 336 S., 24 €.
+ Karin Leukefeld: Flächenbrand. Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat, 230 S., 14,90 €.
Eine Sammelrezension zu verschiedenen Syrien-Büchern ist in der 74. Sezession (Oktober 2016) abgedruckt.
Der_Jürgen
Ob sich nun abermals die Berufsnörgler und Besserwisser zu Wort melden und behaupten werden, es sei unmöglich, die Lage in Syrien zu beurteilen? Ich war nie in Syrien, kann kein Arabisch und beziehe all meine Informationen aus russischen und westlichen Medien, wobei ich unter letzteren die Zeitschrift "Zuerst" besonders hervorheben würde. Trotzdem halte ich mich für kompetent, einzuschätzen, welche Seite hier im Recht und welche im Unrecht ist; dieses dankenswert ausführliche Interview Benedikt Kaisers mit Kevork Almassian ist da nur ein willkommenes Tüpfchen auf dem i.
Ja,
@ Raskolnikow
wir wissen, dass Syrien ein Schachbrett ist, auf dem die morsche Alte Weltordnung, die sich selbst als Neue Weltordnung sieht, und ihr mächtigster Herausforderer Russland ihre Figuren schieben. Für einen Sympathisanten des Herausforderers ist es aber sehr erfreulich, dass dieser im vorliegenden Fall (wie auch in der Ukrainekrise) auch moralisch im Recht ist. Dies erspart es einem, vollends zum kalten Macchiavellisten zu werden.