… erkennt der “Insider” – im Gegensatz zum massenmedial Desinformierten, der stets nach einer vermeintlichen Nähe heutiger “Nonkonformisten” zum Dritten Reich fahndet – den Grad der Radikalität oftmals daran, wie weit die “Lieblingsepoche” zurückliegt, mit deren Favorisierung jemand kokettiert (oder an die er, alle Brüche zum Trotz, “wiederanknüpfen” möchte).
Die Zeiten der Schröder und Merkel würde wohl fast jeder gerne aus den Geschichtsbüchern wischen, aber schon Schmidt und Kohl beginnt das bürgerliche Gemüt bereits zu verklären. Die Adenauer-Ära ist die gelobte Zeit aller Christlich-Wertkonservativen, die dunklen Jahre davor bieten immerhin noch große, heute schwer vorstellbare Einzelpersönlichkeiten (es sei nur Stauffenberg als heutiger Heros der National- und Rechtskonservativen genannt), die Goldenen Zwanziger glänzten durch Kultur, wennschon nicht durch Politik; und die Kaiserzeit war in ihrer ganzen polititischen, kulturellen, wissenschaftlichen Fülle – ungeachtet manch widriger Details und völlig ungeachtet der Nörgeleien ihrer Repräsentanten (sie wußten noch nicht, was danach kommen sollte!) – das Goldene Zeitalter der neueren deutschen Geschichte.
Geht man weiter zurück, muß man sich entscheiden, ob einem kulturelle oder politische Aspekte wichtiger sind; im ersteren Fall landet man in der Goethezeit als geistiger Hoch-Zeit der Deutschen, im letzteren unvermeidlicherweise beim Alten Fritz. Möchte man doch wieder alles zusammen haben, muß man wohl einen großen Sprung ins Hochmittelalter, in die Stauferzeit, machen, um mit Friedrich II. einem der ganz großen Lieblinge huldigen zu können.
Schwer tut man sich indes, wenn man einerseits “konservativ” oder ein bekennender Reaktionär ist, folglich mit der “Moderne” und ihren sogenannten Errungenschaften auf Kriegsfuß steht, und andererseits auch noch das Christentum ablehnt (vielleicht, weil man der Auffassung ist, daß es der aufklärerischen Moderne wesentlich vorgearbeitet hat?). Man muß dann ganz viel Anlauf nehmen und – wie man bedenken sollte: beinahe so wie jeder beliebige rotgrüne Selbsthasser über die deutsche Geschichte hinweg – einen Riesensatz bis in germanische oder noch frühere Vorzeit hinlegen, in der “noch alles gut war” und wir noch ganz “wir selbst” gewesen sind, bevor die Römer, die Missionare, die ganzen “welschen” und anderen “Erbfeinde”, später die Amis und die Russen, zuletzt die linken Miesmacher und politisch Korrekten kamen und “uns” – territorial oder geistig – okkupierten.
Abgesehen von den ganzen zahlreichen Problemen, die das (meta-)politische Schwärmen für Liebslingszeiten mit sich bringt (von der leidigen Inkonsequenz, daß der Lobredner des Vergangenen eine moderne Gleitsichtbrille trägt, Führerschein und ein Mobiltelefon besitzt, das Internet fleißig nutzt und im Krankheitsfall zum Arzt – selten zum Schamanen – geht, bis zu dem Grundproblem, daß die Geschichte nun einmal kein Film ist, den man bis zu dem Punkt, ab dem alles falsch läuft, zurückspulen kann), zeigt sich immerhin schön deutlich – als Faustregel jedenfalls -, wie die Radikalität oder Exzentrik des Nostalgikers mit der Ferne “seiner” Zeit zunimmt.
Man könnte dies so stehen lassen oder belächeln, wenn es nicht doch so wäre, daß große Neuentwürfe (sollen sie nicht Utopien sein, die gerade das Schädliche der Gegenwart ins Absurde steigern) sich immer eines Rückgriffs auf Vergangenes, meist eines schöpferischen Nichtverstehens, verdanken – dies gilt für die großen Renaissancen (wie die Renaissance als moderne Mutter aller späteren) ebenso wie für die vielen kleinen, oft abwegigen Versuche, durch Wiederaneignung einer mehr oder weniger idealisierten und verfremdeten Vergangenheit die Gegenwart zu erneuern.
Einer dieser Propheten des Gestern im zwanzigsten Jahrhundert – oder wie er selbst natürlich sagen würde: des Ewigen und Immerseienden – war der Schriftsteller, Religionsphilosoph, Ernst-Jünger-Freund und “Guru” einer sich als heidnisch verstehenden Minisekte Friedrich Hielscher (1902–1990), dessen “Leitbriefe der Unabhängigen Freikirche” (sozusagen der Katechismus dieser Sekte) soeben in meinem Verlag, dem Telesma-Verlag erschienen sind.
Ich möchte nicht nur deshalb auf diese Veröffentlichung hinweisen, weil ich damit ein bißchen Eigenwerbung machen kann, sondern weil Leute wie Hielscher und viele andere seiner Generation so vielerlei von dem vorweggenommen haben, was uns heute noch oder wieder bewegt, und uns deshalb Vorbilder und Menetekel zugleich sein können. (Spätestens seit der Veröffentlichung der CD “Wir rufen Deine Wölfe” mit Vertonungen des gleichnamigen Hielscher-Gedichtes durch Bands wie Sturmpercht, Werkraum, Waldteufel, Blood Axis u.a. hat er ja auch Kultstatus in der Neofolkszene.) Für mich (Jahrgang 1969) gehört Hielscher gerade noch zur Großelterngeneration, die man bekanntlich wesentlich milder betrachtet als die der Eltern, mit denen man sich nach den Zerwürfnissen der Adoleszenz oft erst in der Lebensmitte wieder versöhnt (oder auch, wie die Achtundsechziger, überhaupt nicht), und ich halte es für interessant, mit welcher grundsätzlichen Vertrautheit ich viele meiner (oder unserer) Ziele, Neigungen, Befindlichkeiten in den Bestrebungen von Hielschers Generation (und erst recht, da gar nicht mehr durch persönliche Begegnungen getrübt, in der nächstälteren der Benn, Heidegger, George usw.) wiederfinde, während mir Leute, die nur zehn bis zwanzig Jahre älter sind – die Generation unserer amtierenden politischen Klasse -, nicht selten wie Marsmenschen erscheinen.
Ein Hielscherianer bin ich deswegen durchaus nicht (und auch kein Jüngerianer, Georgeaner oder was immer, trotz mancher Affinitäten), und deswegen sage ich ja auch: Vorbild und Menetekel zugleich. Vorbild, weil es Hielscher et al. noch “ums Ganze” ging, weil sie die politische Reform mit einer umfassenden kulturellen und religiösen Erneuerung verbinden wollten, weil sie auch – sehr anders als unsere politisch-korrekten Moralprediger – für ihre Ziele einstehen mußten und einstanden (auch anders als wir, die wir – bislang – nur üble Nachreden und berufliche Nachteile in Kauf nehmen müssen, wenn wir uns oppositionell positionieren, nicht aber – oder noch nicht – den Kopf hinhalten müssen) und schließlich, weil einige von ihnen ziemlich gute Bücher geschrieben haben. (Und was ist schließlich nach 1945 an wirklich großer Literatur oder Philosophie in Deutschland hervorgebracht worden? Wieviel davon stammt eigentlich von Autoren, die bereits vor 1933 “sozialisiert” worden sind? Und was von dem, was in den letzten Jahrzehnten geschrieben wurde, wird in hundert Jahren noch jemanden interessieren?) Eine Warnung freilich sollten uns Gestalten wie Hielscher deshalb sein, weil sie uns zeigen, wohin die radikale Absage an den Zeitgeist auch führen kann, nämlich zu einem reichlich skurrilen Außenseitertum. Vielleicht spreche ich da ein bißchen aus Erfahrung (ich hoffe, nicht zu sehr!) – wie gesagt, ich bin wirklich kein Hielscherianer, aber die “Leitbriefe der Unabhängigen Freikirche” gibt es in meinem Buchversand.