Ehrenmorde: Darf man relativieren?

Darf man relativieren? Relativieren heißt: In Beziehung setzen. Wo es um Opferzahlen geht, ist das ein denkbar kritischer Ansatz.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Wir wis­sen aus viel­fäl­ti­gen Dis­kus­sio­nen – Men­schen­le­ben gegen­ein­an­der auf­wie­gen zu wol­len, ist immer hei­kel. Wo wäre schon der Maß­stab, um abzu­wie­gen: Den Wert des Lebens bspw. eines Unge­bo­re­nen, eines Grei­ses, eines Tali­ban, eines Rechts­ra­di­ka­len etc.? Gibt es Leben, die schwe­rer wie­gen als ande­re? Wie könn­te man Opfer klas­si­fi­zie­ren? Und: Wie kom­men eigent­lich Sta­tis­ti­ken zustande?

Anna Caro­li­ne Cös­ter etwa sagt uns nun, die offi­zi­el­len Opfer­zah­len unter der Rubrik „Ehren­mor­de“ sei­en deut­lich zu hoch gegrif­fen. Cös­ter wird vom Tages­spie­gel als „Exper­tin für Geschlech­ter­ver­hält­nis­se“ vor­ge­stellt, die Uni­ver­si­tät Frei­burg führt sie unter „Wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­te­rIn­nen“ (sic!). Frau Cös­ter hat 25 in den Jah­ren 1997–2005 vor Gericht ver­han­del­te Tötungs­de­lik­te unter­sucht, die als „Ehren­mor­de“ bekannt gewor­den sind und kommt zu dem Schluß: Nur in zehn Fäl­len habe es sich um tat­säch­li­che Ehren­mor­de gehan­delt, die ande­ren Fäl­le sei­en Affekt­hand­lun­gen gewe­sen – durch­aus ver­gleich­bar mit „Bezie­hungs­ta­ten“ unter Deut­schen. Cös­ter warnt davor, sol­che betrüb­li­chen Vor­fäl­le falsch ein­zu­ord­nen und sie für eine Inte­gra­ti­ons­de­bat­te zu instrumentalisieren.

Hm, zehn für gül­tig befun­de­ne Ehren­mor­de in acht Jah­ren – klingt bei­na­he harmlos.

Aller­dings: eine amt­li­che Sta­tis­tik zu sol­chem Straf­tat­be­stand liegt gar nicht vor. Höchst hilf­reich ist da die Sei­te ehrenmord.de, die von Uta Glau­bitz ver­ant­wor­tet wird. Glau­bitz hat­te 2008 gemein­sam mit der jun­gen Anwäl­tin Gül­sen Cele­bi bei Hey­ne das Buch Kein Schutz, nir­gends ver­öf­fent­licht. Des­sen Ver­kauf wur­de bald ver­bo­ten. Ent­spre­chend vor­sich­tig und unter­füt­tert mit viel­fäl­ti­gen Quel­len­an­ga­ben wer­den die Ehren­mord­fäl­le auf Glau­bitz´ stän­dig aktua­li­sier­ter Sei­te vor­ge­stellt. Für 2009 sind bis­lang 26 Ehren­mor­de samt ihrer Geschich­te auf­ge­lis­tet. Zudem heißt es, daß vie­le Ehren­mor­de als Unfäl­le oder Selbst­mor­de getarnt wer­den bzw. die Opfer zuvor ins Aus­land geschafft wür­den. Cele­bi spricht von einer hohen Dun­kel­zif­fer, die mit bis zu 100.000 Fäl­len pro Jahr welt­weit aus­geht, rund 300 sei­en es in der Tür­kei, ein Viel­fa­ches etwa in Pakistan.

Wel­che Bun­des­mit­tel wer­den eigent­lich bereit­ge­stellt, um wenigs­tens dem blu­ti­gen Gesche­hen hier­zu­lan­de zu begeg­nen? Wie vie­le zivil­cou­ra­gier­te Initia­ti­ven, Anlauf­stel­len für Gefähr­de­te und davon­ge­kom­me­ne Opfer, wie vie­le Aus­stei­ger­pro­jek­te für poten­ti­el­le Täter gibt es? Ande­re Zah­len und Hilfs­adres­sen sind da leich­ter zu ermit­teln. Eine Gro­ße Anfra­ge der Lin­ken nach der Zahl der getö­te­ten Opfer rechts­extre­mer Gewalt beant­wor­te­te die Bun­des­re­gie­rung im Okto­ber 2009: 46 Men­schen sei­en zwi­schen 1990 und 2008 durch soge­nann­te Rechts­extre­me ums Leben gekom­men (46 zuviel – muß ich das hinzufügen?).

Die zehn Pro­fes­so­ren mit meist ein­schlä­gig lin­kem Hin­ter­grund, die sich nun laut­stark gegen eine befürch­te­te Kür­zung der För­der­mit­tel gegen Rechts­extre­mis­mus wand­ten, spre­chen von 140 Todes­op­fern – scheint, dies alles ein wei­tes Feld für Inter­pre­ta­tio­nen.. Jeden­falls: es gibt über 90 staat­lich geför­der­te Initia­ti­ven „gegen rechts“, und „nach Mügeln“ (also nach der Dorf­kei­le­rei zwi­schen Indern und Deut­schen bei einem Volks­fest) wur­de der jähr­li­che Haus­halt von 19 Mil­lio­nen Euro För­der­mit­teln noch mal um 5 wei­te­re Mil­lio­nen aufgestockt.

Wie vie­le Heim­flü­ge und, mei­net­we­gen, Re-Inte­gra­ti­ons­maß­nah­men hät­te man von einem Bruch­teil die­ses Gel­des finan­zie­ren kön­nen? Zuletzt: Es müß­te mal ein Wis­sen­schaft­ler auf die Idee kom­men, zu unter­su­chen, hin­ter wie vie­len „rechts­extre­men Straf­ta­ten“ wirk­lich eine rech­te Gesin­nung stand. Am Ende kommt dabei womög­lich her­aus, daß die meis­ten Täter gar nicht aus rechts­extre­men Grün­den han­del­ten. Daß sie weder über ein „geschlos­se­nes Welt­bild“ ver­füg­ten noch eine dezi­diert rech­te poli­ti­sche Moti­va­ti­on besa­ßen. Daß sie, ja, „nur“ im „Affekt“ handelten …

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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