werden, von wo aus Juden abgeholt wurden. Frambach, die Hauptperson in Das Eigentliche, achtet auf jedem Gang strickt darauf, keines dieser Miniaturdenkmale zu betreten: “Daran mußte er sich nicht eigens erinnern, denn sein hölzerner Körper ging von selbst sehr sorgsam, es saß ihm in den Knochen.”
Solche Sätze schreibt die nicht eben unbekannte, sondern 2008 mit Treffen sich zwei für den Deutschen Buchpreis nominierte Autorin Iris Hanika. Nun hat sie einen Roman »nach Auschwitz« vorgelegt: er heißt Das Eigentliche. Denn für Frambach ist die Shoa »das Eigentliche«, die Sinnstiftung, um die sein ganzes Leben kreist. Mechanismus und Grad solcher Abhängigkeit verdeutlicht Iris Hanika auf geradezu absurde Weise durch eine Spiegelung: Auch die beste (und einzige) Freundin Frambachs hat ein Eigentliches, und zwar einen Liebhaber, durch ausschließlich den sie zu leben vermeint. Auch Frambach (schwer an Ingeborg Bachmanns »Ungeheuer mit Namen Hans« erinnernd) lebt ausschließlich durch sein Eigentliches. Er ist – man muß es so sagen – ein nach hinten in die Geschichte orientierter, von Hitlers Tun und Lassen abhängiger und dadurch vollständig außengeleiteter Mensch.
Er arbeitet im “Amt für Vergangenheitsbewirtschaftung”, einem Archiv im Herzen Berlins. Deutschland hat »das Gedenken an das Verbrechen der Vergangenheit zu seiner immerwährenden Aufgabe erklärt« (schreibt Iris Hanika), und daraus kann man ableiten, daß Auschwitz der »Gründungsmythos« der Bundesrepublik Deutschland sei (sagte Joschka Fischer). Der zweifelsohne notwendigen Erinnerung aber hat sich – befördert durch solcherlei Freibriefe – mittlerweile eine »Holocaust-Industrie« (Norman Finkelstein) bemächtigt.
Die Frage, die Iris Hanika in ihrem knappen Roman stellt, aber nicht beantwortet, lautet: Wie oft wird Hitler noch besiegt? Und sie deutet eine Antwort an: Hitler wird so lange immer wieder reanimiert, solange er für gute Umsätze geradesteht. Sie sagt diese Ungeheuerlichkeit nicht geradezu frei heraus, sondern durch die Plazierung einer Liste mit Stilblüten in der Mitte des Buches: Darunter die Aussage einer Frau, die begeistert von einem Treffen des Internationalen Auschwitz-Komitees erzählt – sie habe dort die »Crème de la crème« der Überlebenden getroffen. Es geht auch eine Stufe drunter: Nicht ohne Grund titelt der Spiegel jährlich zwei, drei Mal mit Hitlers Konterfei (die Sezession noch nie, übrigens!).
Das Eigentliche zeigt, wie die Verwandlung des Gedenkens in eine Bewirtschaftung dieses Gedenkens irgendwann in Geschäftstüchtigkeit (etwa Hollywood) endet – und uns Deutsche von unserer Geschichte abtrennt: »Juden und Nazis sind andere Wörter für ›die Guten‹ und ›die Bösen‹ geworden, und ›die Deutschen‹ in diesen Filmen sind nicht wir.« Wer sind wir dann?
Vielleicht geht es manchem von uns wie Hans Frambach, der eines Tages ganz undiszipliniert das Amt für Vergangenheitsbewirtschaftung schon zur Mittagszeit verläßt, weil er seine Arbeit überhat. Iris Hanika fügt an dieser Stelle drei leere Seiten in ihren Roman ein, auf denen jeweils die Worte »Raum für Notizen« stehen. Das ist eine Aufforderung an die Leser, sich über die eigene Rolle in der längst unangemessenen Vergangenheitsbewirtschaftung Klarheit zu verschaffen: Denn befreiend wird das Shoa-Business nie wirken, ganz im Gegenteil!
Das weiß auch der in die Holocaust-Erinnerung als seinem Eigentlichen eingesperrte Hans Frambach. Und so erinnert er sich bei einer frühmorgendlichen Tasse Tee, daß er sich einmal zu befreien vermochte: Bei einem Besuch des Lagers Auschwitz schritt er den Weg von der Rampe zur Gaskammer nicht ab, sondern vermochte nach einigen Metern abzubiegen, um das Lager zu verlassen (»Und war frei«). Da war er im Wortsinn nicht mehr außengeleitet, sondern gewann den inneren Dialog gegen ein starres, oktroyiertes Verhaltensmuster.
Das Buch könnte nach dieser Schlüsselszene enden. Iris Hanika aber zieht weitere drei leere Seiten ein, auf denen jedoch nicht »Raum für Notizen« steht: Diesen Weg (im doppelten Sinn!) soll man sich nämlich drei leere Seiten lang vorstellen – ohne ihn womöglich zu bewirtschaften.
(Iris Hanika: Das Eigentliche, Roman, Droschl 2010. 176 S., 19.00 €)