Ich bemerkte aber, daß das keinesfalls an generell mangelnder Empathie oder Pietät liegt oder an Mißachtung der Opfer jener grausamen Jahre; es liegt vielmehr schlicht an der Ungleichheit des Gedenkens, im ungleichen Umgang mit dem Tod, in der Wertung der Opfer.
Auf der Suche nach einer Eisdiele schlenderten ich und ein guter Freund eines Nachmittags an der Rückseite von Notre-Dame auf der Ile de la Cité entlang, als sein Blick auf den dortigen Abgang zum „Denkmal der Deportation“ fiel. Kurz wolle er es sich anschauen, sagte er mir. Als wir am Treppenabsatz angekommen waren, stoppte uns jäh eine weibliche Aufsicht. Wir mußten unsere mitgeführten Umhängetaschen durchsuchen lassen und die Mobiltelefone ausschalten. Zudem schärfte man uns ein, daß wir mit unseren Fotokameras zwar Fotos machen dürften, aber nicht filmen.
Wir stiegen die kleine Betontreppe hinab und fanden uns auf einem kleinen, leeren innenhofartigen Platz wieder, umfaßt von einer Betonmauer. Ein zackiges, gitterartiges Kunstwerk aus Metall an einer Wand, sonst war dort nicht viel zu entdecken. Durch einen engen hohen Gang konnte man in das Innere einer kleinen Krypta gelangen. Dort waren Inschriften angebracht, und man konnte einen Blick in einen nicht zugänglichen Raum werfen, in dem – ich konnte es nicht genau erkennen – möglichenfalls Reihungen von Backenzähnen angebracht waren. Dazu noch einige leere Nischen im Stein, die möglichenfalls irgendwann einmal mit irgendwas gefüllt werden – ich weiß es nicht.
Die bereits 1962 von De Gaulle eingeweihte Gedenkstätte ist nur eines von zahlreichen Mahnmalen in Paris, die an die Leiden der NS-Zeit erinnern sollen. Was Kritiker dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts und, wie etwa der Architekturtheoretiker Dieter Bartezko, dem Nationalsozialismus vorwarfen – die Selbstinszenierung mittels Stimmungsarchitektur -, wird gerade im Holocaust-Gedenken und NS-Schuldkult in Perfektion fortgeführt. Das gern geübte Spiel mit der Verengung (der Gänge), die beim Besucher Beklemmung auslösen soll, die Dunkelheit, die Krypta, die strengen Verhaltensdisziplinierungen, all das weist auf die Sakralisierung der NS-Opfer-Gedenkstätten hin. Extrem ist diese natürlich bei dem Gedenkpark Yad Vashem in Jerusalem erkennbar: Eine Kuppel-„Halle der Namen“, ein „Garten der Gerechten unter den Völkern“, ein „Tal der Gemeinden“, eine „Säule des Mutes“ dienen als Bausteine einer ausgefeilten nationalen Monumentalanlage. Aber auch die museumspädagogischen Inszenierungen diverser Holocaust-Museen stehen dem in der bewußten psychologischen Beeinflussung von Besuchern in nichts nach.
Auf mich machte die Gedenkstätte in Paris wenig Eindruck, ich blieb distanziert, ja fast desinteressiert. Ich schaute hin und ging wieder. Ebenso unbeeindruckt zeigte sich ein kleines, vielleicht 8‑jähriges Mädchen, eine Mulattin, so ich mich recht erinnere. Sie hüpfte ein wenig vor mir zwischen den Betonwänden hin und her und verließ dann zeitgleich mit seiner Mutter und mir die kleine Anlage. Als wir oben ankamen, fragte die übereifrige Aufsicht das Mädchen, ob der Besuch denn schlimm für es gewesen sei.
„Was war denn schlimm?“, fragte das Mädchen verwundert seine Mutter.
„War es nicht bedrückend für das Kind?“, fragte die Aufsicht nun die Mutter.
Die Mutter, scheinbar überfordert zwischen den drängenden Fragen der Aufseherin und den unbekümmerten ihres Kindes, antwortete gar nichts, sondern eilte nur weiter.
„Schon ich habe damit gar nichts mehr zu tun“, antwortete mir kurz darauf mein 26-jähriger Begleiter. „Ich kenne gar niemanden, der damals lebte. Vielleicht noch mein Opa, den ich noch kennengelernt habe. Für das Kind aber ist das alles nur noch ganz weit entfernte Geschichte. Was will man denn von ihm hören?“
Am Vormittag jenes Tages hatten wir bereits einen völlig anderen Umgang mit den Toten erlebt. Wir hatten die Katakomben von Paris besucht – endlos lange Bergwerksstollen, die als Steinbrüche dienten. 300 Kilometer an heute erforschten Gängen ziehen sich in bis zu 35 Metern Tiefe durch die Stadt. Als ab 1785 viele Friedhöfe im Zuge des Stadtumbaus geschlossen wurden, schaffte man schrittweise die Gebeine von sechs Millionen Toten in die unterirdischen Räume. Schädel und Knochen wurden erst ungeordnet, dann nach dekorativen Gesichtspunkten aufeinandergeschichtet.
Heute kann das alles gegen Eintritt besichtigt werden. Lachende Schulklassen stehen an der Kasse an. Unten reihen sich Totenkopf an Totenkopf, vor denen Eltern ihre lächelnd posierenden Kinder, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, fotografieren. Zwischen einige der Knochen haben Witzbolde Apfelkrotzen gelegt, die dort langsam vor sich hinmodern. Irgendeiner hat seinen Namen oder ein Graffiti-Tag mit dem Filzstift auf einem Schädel verewigt.
Einige Schädel wiesen auffällige Löcher auf, die mich darüber spekulieren ließen, ob es sich um Schuß- oder Hiebwunden handeln könnte, ob es vielleicht Gewaltopfer waren, die dort liegen, möglichenfalls aus einem Krieg. Beeindruckt und berührt sagte ich, daß man sich vorstellen muß, daß all diese achtlos hier abgelegten Schädel einmal Menschen wie wir waren, und daß hinter jedem dieser Abertausenden von Schädeln ein ganzes familiäres Schicksal steht – eine Ehefrau, die trauert, Eltern, die ihr Kind verloren, eine geliebte Großmutter, die qualvoll ging. Diese Menschen in den Katakomben, deren Schicksal uns unbekannt ist, sie sind nicht mehr oder weniger wert, als irgendwelche anderen Toten, dachte ich. Vermutlich aber ist solche heutige Pietätlosigkeit, wie man sie in den Katakomben durchaus wahrnehmen kann, schlicht der normale Umgang des Menschen mit dem Tod im Laufe einer lange vergangenen Zeit, sagte ich mir schließlich.
Noch ganz angefüllt mit diesen Bildern der vielen greifbar realen Toten ging ich also am Nachmittag desselben Tages in jene Gedenkstätte der virtuellen Toten, der Inszenierung, des geschichtsreligiösen Rituals. Und gerade durch diesen Kontrast der Eindrücke wurde mir die Künstlichkeit der Situation noch stärker bewußt.
Foto: Luisa Drehsen, pixelio.de