Die Toten von Paris

 

von Claus Wolfschlag

Als ich vorletzte Woche in Paris war, wurde mir wieder einmal bewußt, wie unempfindlich ich gegenüber den Forderungen und Inszenierungen des NS-Schuldkultes bin.

Ich bemerk­te aber, daß das kei­nes­falls an gene­rell man­geln­der Empa­thie oder Pie­tät liegt oder an Miß­ach­tung der Opfer jener grau­sa­men Jah­re; es liegt viel­mehr schlicht an der Ungleich­heit des Geden­kens, im unglei­chen Umgang mit dem Tod, in der Wer­tung der Opfer.

Auf der Suche nach einer Eis­die­le schlen­der­ten ich und ein guter Freund eines Nach­mit­tags an der Rück­sei­te von Not­re-Dame auf der Ile de la Cité ent­lang, als sein Blick auf den dor­ti­gen Abgang zum „Denk­mal der Depor­ta­ti­on“ fiel. Kurz wol­le er es sich anschau­en, sag­te er mir. Als wir am Trep­pen­ab­satz ange­kom­men waren, stopp­te uns jäh eine weib­li­che Auf­sicht. Wir muß­ten unse­re mit­ge­führ­ten Umhän­ge­ta­schen durch­su­chen las­sen und die Mobil­te­le­fo­ne aus­schal­ten. Zudem schärf­te man uns ein, daß wir mit unse­ren Foto­ka­me­ras zwar Fotos machen dürf­ten, aber nicht filmen.

Wir stie­gen die klei­ne Beton­trep­pe hin­ab und fan­den uns auf einem klei­nen, lee­ren innen­hof­ar­ti­gen Platz wie­der, umfaßt von einer Beton­mau­er. Ein zacki­ges, git­ter­ar­ti­ges Kunst­werk aus Metall an einer Wand, sonst war dort nicht viel zu ent­de­cken. Durch einen engen hohen Gang konn­te man in das Inne­re einer klei­nen Kryp­ta gelan­gen. Dort waren Inschrif­ten ange­bracht, und man konn­te einen Blick in einen nicht zugäng­li­chen Raum wer­fen, in dem – ich konn­te es nicht genau erken­nen – mög­li­chen­falls Rei­hun­gen von Backen­zäh­nen ange­bracht waren. Dazu noch eini­ge lee­re Nischen im Stein, die mög­li­chen­falls irgend­wann ein­mal mit irgend­was gefüllt wer­den – ich weiß es nicht.

Die bereits 1962 von De Gaul­le ein­ge­weih­te Gedenk­stät­te ist nur eines von zahl­rei­chen Mahn­ma­len in Paris, die an die Lei­den der NS-Zeit erin­nern sol­len. Was Kri­ti­ker dem Natio­na­lis­mus des 19. Jahr­hun­derts und, wie etwa der Archi­tek­tur­theo­re­ti­ker Die­ter Bar­tez­ko, dem Natio­nal­so­zia­lis­mus vor­war­fen – die Selbst­in­sze­nie­rung mit­tels Stim­mungs­ar­chi­tek­tur -, wird gera­de im Holo­caust-Geden­ken und NS-Schuld­kult in Per­fek­ti­on fort­ge­führt. Das gern geüb­te Spiel mit der Ver­en­gung (der Gän­ge), die beim Besu­cher Beklem­mung aus­lö­sen soll, die Dun­kel­heit, die Kryp­ta, die stren­gen Ver­hal­tens­dis­zi­pli­nie­run­gen, all das weist auf die Sakra­li­sie­rung der NS-Opfer-Gedenk­stät­ten hin. Extrem ist die­se natür­lich bei dem Gedenk­park Yad Vas­hem in Jeru­sa­lem erkenn­bar: Eine Kuppel-„Halle der Namen“, ein „Gar­ten der Gerech­ten unter den Völ­kern“, ein „Tal der Gemein­den“, eine „Säu­le des Mutes“ die­nen als Bau­stei­ne einer aus­ge­feil­ten natio­na­len Monu­men­tal­an­la­ge. Aber auch die muse­ums­päd­ago­gi­schen Insze­nie­run­gen diver­ser Holo­caust-Muse­en ste­hen dem in der bewuß­ten psy­cho­lo­gi­schen Beein­flus­sung von Besu­chern in nichts nach.

Auf mich mach­te die Gedenk­stät­te in Paris wenig Ein­druck, ich blieb distan­ziert, ja fast des­in­ter­es­siert. Ich schau­te hin und ging wie­der. Eben­so unbe­ein­druckt zeig­te sich ein klei­nes, viel­leicht 8‑jähriges Mäd­chen, eine Mulatt­in, so ich mich recht erin­ne­re. Sie hüpf­te ein wenig vor mir zwi­schen den Beton­wän­den hin und her und ver­ließ dann zeit­gleich mit sei­ner Mut­ter und mir die klei­ne Anla­ge. Als wir oben anka­men, frag­te die über­eif­ri­ge Auf­sicht das Mäd­chen, ob der Besuch denn schlimm für es gewe­sen sei.
„Was war denn schlimm?“, frag­te das Mäd­chen ver­wun­dert sei­ne Mutter.
„War es nicht bedrü­ckend für das Kind?“, frag­te die Auf­sicht nun die Mutter.
Die Mut­ter, schein­bar über­for­dert zwi­schen den drän­gen­den Fra­gen der Auf­se­he­rin und den unbe­küm­mer­ten ihres Kin­des, ant­wor­te­te gar nichts, son­dern eil­te nur weiter.

„Schon ich habe damit gar nichts mehr zu tun“, ant­wor­te­te mir kurz dar­auf mein 26-jäh­ri­ger Beglei­ter. „Ich ken­ne gar nie­man­den, der damals leb­te. Viel­leicht noch mein Opa, den ich noch ken­nen­ge­lernt habe. Für das Kind aber ist das alles nur noch ganz weit ent­fern­te Geschich­te. Was will man denn von ihm hören?“

Am Vor­mit­tag jenes Tages hat­ten wir bereits einen völ­lig ande­ren Umgang mit den Toten erlebt. Wir hat­ten die Kata­kom­ben von Paris besucht – end­los lan­ge Berg­werks­stol­len, die als Stein­brü­che dien­ten. 300 Kilo­me­ter an heu­te erforsch­ten Gän­gen zie­hen sich in bis zu 35 Metern Tie­fe durch die Stadt. Als ab 1785 vie­le Fried­hö­fe im Zuge des Stadt­um­baus geschlos­sen wur­den, schaff­te man schritt­wei­se die Gebei­ne von sechs Mil­lio­nen Toten in die unter­ir­di­schen Räu­me. Schä­del und Kno­chen wur­den erst unge­ord­net, dann nach deko­ra­ti­ven Gesichts­punk­ten aufeinandergeschichtet.

Heu­te kann das alles gegen Ein­tritt besich­tigt wer­den. Lachen­de Schul­klas­sen ste­hen an der Kas­se an. Unten rei­hen sich Toten­kopf an Toten­kopf, vor denen Eltern ihre lächelnd posie­ren­den Kin­der, viel­leicht sechs oder sie­ben Jah­re alt, foto­gra­fie­ren. Zwi­schen eini­ge der Kno­chen haben Witz­bol­de Apfel­krot­zen gelegt, die dort lang­sam vor sich hin­mo­dern. Irgend­ei­ner hat sei­nen Namen oder ein Graf­fi­ti-Tag mit dem Filz­stift auf einem Schä­del verewigt.

Eini­ge Schä­del wie­sen auf­fäl­li­ge Löcher auf, die mich dar­über spe­ku­lie­ren lie­ßen, ob es sich um Schuß- oder Hieb­wun­den han­deln könn­te, ob es viel­leicht Gewalt­op­fer waren, die dort lie­gen, mög­li­chen­falls aus einem Krieg. Beein­druckt und berührt sag­te ich, daß man sich vor­stel­len muß, daß all die­se acht­los hier abge­leg­ten Schä­del ein­mal Men­schen wie wir waren, und daß hin­ter jedem die­ser Aber­tau­sen­den von Schä­deln ein gan­zes fami­liä­res Schick­sal steht – eine Ehe­frau, die trau­ert, Eltern, die ihr Kind ver­lo­ren, eine gelieb­te Groß­mutter, die qual­voll ging. Die­se Men­schen in den Kata­kom­ben, deren Schick­sal uns unbe­kannt ist, sie sind nicht mehr oder weni­ger wert, als irgend­wel­che ande­ren Toten, dach­te ich. Ver­mut­lich aber ist sol­che heu­ti­ge Pie­tät­lo­sig­keit, wie man sie in den Kata­kom­ben durch­aus wahr­neh­men kann, schlicht der nor­ma­le Umgang des Men­schen mit dem Tod im Lau­fe einer lan­ge ver­gan­ge­nen Zeit, sag­te ich mir schließlich.

Noch ganz ange­füllt mit die­sen Bil­dern der vie­len greif­bar rea­len Toten ging ich also am Nach­mit­tag des­sel­ben Tages in jene Gedenk­stät­te der vir­tu­el­len Toten, der Insze­nie­rung, des geschichts­re­li­giö­sen Ritu­als. Und gera­de durch die­sen Kon­trast der Ein­drü­cke wur­de mir die Künst­lich­keit der Situa­ti­on noch stär­ker bewußt.

Foto: Lui­sa Dreh­sen, pixelio.de

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