… schnuppere ich gern bei einer Tasse Tee in den Feuilleton hinein und informiere mich über den liberal-konservativen Blick auf zeitgeistige Ereignisse.
Am Mittwoch, dem 5. Mai dieses Jahres, zog jedoch nicht der Bericht über Daniel Cohn-Bendits Opposition gegenüber der israelischen Siedlungspolitik meinen Blick auf sich, und auch den Bericht über eine neue Ausstellung auf der Wewelsburg bemerkte ich erst später. Was zuallererst meine Aufmerksamkeit erregte, war – eine Gedenkanzeige.
Dabei war es zugegebenermaßen das darin prangende Eiserne Kreuz, das meinen Blick auf sich zog. Stutzen ließ mich allerdings die Anzeige selbst, und zwar aufgrund der Tatsache, daß es sich offenbar nicht um eine Todes‑, sondern vielmehr um eine Geburtstagsanzeige handelte. Da stand: „Ernst-August Weiss, Prof. der Mathematik, H. d. R. der Pioniere. Geb. 5.5. 1900. Gest. 9.2. 1942. Die Zeit vergeht, sie heilt nicht / den Schmerz seines Sohnes. Ernst-August Weiss, Dr. rer. nat. et rer. pol., M.A.“.
Das zu lesen machte mich sehr nachdenklich. Da trauerte also ein Sohn um seinen vor 68 Jahren (vermutlich) gefallenen Vater. Davon ausgehend, daß dieser Sohn wahrscheinlich auch schon zu den sprichwörtlichen „älteren Semestern“ gehört, kann man wohl annehmen, daß diese Gedenkanzeige nicht die erste war, die er für seinen Vater geschaltet hat. Dieser Gedankengang und die beiden Verse, die trotz ihrer bescheidenen Wortwahl soviel Trauer und Gram in sich bargen, sollten mich an jenem Mittwoch noch den ganzen Tag bedrücken. Auch später, in meinen Vorlesungen, war ich geistig weiterhin damit befaßt, über diese Zufallsentdeckung zu grübeln.
Ein gefallener Vater, ein in Schmerz zurückgelassener Sohn. Eine stille Erinnerung im „trivialen“ Teil eines großen Tagesblattes. Wie schnell überliest man so etwas? Wie viele Leser mögen wohl beim Bemerken des Eisernen Kreuzes innerlich die Augen verdreht und schnell umgeblättert haben? Aber: War dies nicht Gedenken in seiner reinsten, in seiner – soweit das Wort in diesem Zusammenhang passen mag – schönsten Form? Eine kleine, stille Notiz des Schmerzes, der nun am Platz einer geliebten Person sitzt, die jäh aus dem Leben gerissen wurde?
Dagegen: Was für überflüssige Menschen sind jene, die Trauerveranstaltungen zur politischen Selbstinszenierung mißbrauchen? Wie widerwärtig gebärden sich solche, die an Orten der Mahnung Leichenteile in Beton eingießen wollen?
Wie arm wir sind, daß wir nicht einmal zu schmerzhaften Anlässen von unserer Mediengeilheit und unserem zwanghaften Buhlen um Aufmerksamkeit lassen können. Wie arm wir sind, daß wir nicht mehr würdig zu trauern wissen. Wie arm.