… was man dort am schlechtesten kann: nämlich die anspruchsvollere Feindliteratur, etwa die aus dem Hause Antaios, zu analysieren. Dabei beißt man sich Zähne regelmäßig schon am Verständnis der Grundlagen aus.
Mathias Brodkorbs Rezension des neuen Kaplaken-Bandes von Thorsten Hinz “Literatur aus der Schuldkolonie” ist dabei besonders kläglich geraten, und dies nicht nur wegen des offenbar ausgesprochen amusisch veranlagten Rezensenten.
Sehen wir uns das einmal im Detail an.
1. Die Besprechung setzt schon zu Beginn mit einem ziemlichen Unfug ein:
(Hinzens) Leidenschaft ist ein ums andere Mal die Geschichtspolitik und die Destruktion der von ihm so genannten „Holocaust-Religion“. Die Notwendigkeit einer solchen Leidenschaft ist aus national-konservativer Sicht eine Selbstverständlichkeit: Weil „rechts“ zu sein u.a. bedeutet, sich einer Tradition und „Schicksalsgemeinschaft“ verbunden zu fühlen, erweist sich die Zeitspanne von 1933–1945 als das schier unüberwindliche Dilemma des deutschen Nationalisten: Akzeptiert er Hitlers Nationalsozialismus als „notwendigen“ Bestandteil der deutschen Geschichte, zerstört er sich zugleich die Möglichkeit der bruchlosen Aneignung der „eigenen“ Vergangenheit; wird das „Dritte Reich“ jedoch als undeutsches Intermezzo und damit auch seine erinnernde Historisierung zurückgewiesen, hört der Betroffene Rechte zugleich auf ein echter Rechter zu sein.
Da ist zunächst einmal unklar, was denn hier das “Notwendige” am Dritten Reich als “Bestandteil der deutschen Geschichte” bezeichnen soll. Oder ist das “Unausweichliche”, “Zwangsläufige” gemeint? Um das Rätselraten abzukürzen, ein bescheidener Vorschlag: einfach das überflüssige Wörtchen “notwendig” aus dem obigen Satz streichen, und schon löst sich das angeblich so “unüberwindliche Dilemma” der “Aneignung” der Vergangenheit, von der angesichts der an Brüchen so reichen deutschen Geschichte kein Mensch jemals behauptet oder gefordert hätte, daß sie “bruchlos” vor sich gehen solle oder könne. Die “Bruchlosigkeit” ist hier überhaupt kein relevantes Kriterium.
Wie Brodkorb nach Jahren von interessiertem Neue-Rechte-Watching auf diese Idee kommt, ist rätselhaft, zumal er ja selber einräumt, daß der Rechte mit der Zurückweisung der “erinnernden Historisierung” aufhören würde, ein “echter Rechter” zu sein. Denn das ist exakt der Angelpunkt, von dem aus die “Holocaust-Religion” kritisiert wird: daß sie eben diese “erinnernde Historisierung” nicht leistet, ja sie verhindert. Und schließlich bedeutet die “Akzeptanz” des Nationalsozialismus als “Bestandteil der deutschen Geschichte” nichts anderes als “erinnernde Historisierung”, ist mit ihr völlig identisch. Die “Historisierung” schließt aber wohlgemerkt das, was man “Bewältigung” nennt, aus.
Weiters wäre das pathetische und eher un-hinzische Wort der “Schicksalsgemeinschaft” einfach durch das der “Nation” zu ersetzen, denn auf dieses historische Ganze ist der Blick des Autors gerichtet. Dann sind die Dinge wieder eine Spur weniger kompliziert, und dann haben wir auch die Grundlage vor Augen, auf der man eine Geschichte der deutschen Literatur überhaupt schreiben kann. Das alles ist ja nun nichts wirklich Neues oder Ausgefallenes.
Darüber hinaus gilt das von Brodkorb Gesagte nicht allein für den “Nationalkonservativen” (noch so ein Unwort), sondern auch für jeden braven FDGO-Bundesrepublikaner, der etwa die “Holocaustreligion” verinnerlicht hat, die ja nicht minder mit geschichtspolitischen “Leidenschaften”, die noch dazu als “notwendig” erachtet werden, gepflastert ist. Dieser mag zwar kein “Rechter” und auch kein “Nationalist” sein, steht aber nicht weniger in der Kontinuität einer historischen Tradition und “Schicksalsgemeinschaft”, inklusive diverser Brüche, ja mit dem Bruch schlechthin als Grundlage. Aber das ist eben immer noch nichts anderes als ein nationales Narrativ, allerdings ein stark negativ akzentuiertes – und genau dagegen richtet sich die Kritik von Thorsten Hinz.
2. Brodkorb wirft Hinz vor:
An die Stelle der „Tendenzliteratur“ von links möchte er eine ebenso tendenziöse Literatur von rechts gesetzt sehen, die nicht mehr Auschwitz, sondern das „Selbsterlittene“ (78) in den Vordergrund stellt. Allerdings wäre damit an die Literatur noch immer nicht ein in erster Linie ästhetischer Anspruch gestellt, sondern lediglich das politische Vorzeichen verändert.
Den Appell nach einer “Tendenzliteratur von rechts” kann man aus Hinz’ Essay nicht ernsthaft herauslesen. Das Gegenteil ist der Fall. Über seine diesbezüglichen ästhetischen Kriterien gibt Hinz dem Leser hinreichend Auskunft, um eine solche Verwechslung auszuschließen. Außerdem ist eine Literatur, die eine “Tendenz” erkennen läßt, nicht dasselbe wie “Tendenzliteratur”, die vor allem durch ideologische Einseitigkeit gekennzeichnet ist und die Erzählung der zu propagierenden Weltanschauung unterordnet, statt umgekehrt.
Sprechen wir statt von “Tendenz” lieber von “Perspektive”. Weder der von Hinz ins Feld geführte Gerd Gaiser noch Ernst von Salomon haben “Tendenzliteratur” geschrieben – sie haben aber eine dezidierte, zum Teil polemische Perspektive auf die Dinge eingenommen, die jedoch Vieldeutigkeit und Komplexität nicht ausschließt.
Ich nehme einmal an, daß dieses Mißverständnis auch darauf beruht, daß Brodkorb die von Hinz besprochenen Romane dieser beiden Autoren gar nicht kennt. Besonders Salomons “Fragebogen” spielt hier eine Schlüsselrolle: dem abstrahierenden Schubladen-Vokabular des amerikanischen Entnazifizierungs-“Fragebogens” setzt Salomon das Erzählen einer Geschichte, vieler Geschichten entgegen – mit allen ihren Windungen, Unebenheiten, Widersprüchen und eben Brüchen. Ein Walter Kempowski, den Hinz ebenfalls positiv hervorhebt, hat später bewußt zu “multiperspektivischen” Mitteln gegriffen, um eine historische Lage in ihrer Komplexität nachzuzeichnen.
Auch die Nation umfaßt letztlich nichts anderes als eine solche gemeinsam geteilte und erinnerte Geschichte, bzw. eine Verflechtung von Geschichten.
Schon gar nicht aber läßt sich dieser angebliche, angeblich spiegelverkehrte Ruf nach einer Tendenzliteratur aus der bloßen Forderung nach einer Thematisierung des “Selbsterlittenen” ableiten. Es geht vielmehr um die Wiederherstellung und die Formgebung der Erinnerung. Das hat mit “rechten” Tendenzen erstmal rein gar nichts zu tun. Es ist nicht die Thematik (etwa “Auschwitz” vs. “Selbsterlittene”), die das “Tendenziöse” an der Tendenzliteratur ausmacht, sondern die Form der Erzählung.
Hinz’ Kernthese ist, daß die literarische Verarbeitung des traumatischen Erlebens und der moralischen Tragik der Deutschen, sowohl in kollektiver als auch individueller Hinsicht, in der deutschen Literatur nach 1945 nicht ungefiltert erfolgt ist, nicht ungefiltert erfolgen konnte. Unter den buchstäblichen und symbolischen Trümmern und dem Schutt der Stunde Null lagen und liegen noch Erfahrungen, Perspektiven, Schicksale und Geschichten begraben, die keinen adäquaten und aufrichtigen Ausdruck gefunden haben, deren existenzielle Tiefe bisher kaum dichterisch ausgeschöpft wurde. Das hat politische, psychologische, gesellschaftliche und künstlerische Gründe, die Hinz alle benennt und stets im Auge behält. Exemplarisch für diese Entwicklung ist für ihn eben das Schicksal und die Entwicklung von Günter Grass.
Damit gleich zum nächsten groben Schnitzer.
3. Brodkorb wirft Hinz ein doppeltes Maß der menschlichen Beurteilung vor:
Indes richtet Hinz, indem er auf die „politische Tendenzliteratur“ (39) von links mit dem Zeigefinger zeigt, dabei zugleich dreie auf das eigene Lager. Besonders deutlich wird dies angesichts der Tatsache, daß er für Alfred Andersch dahingehend ein gewisses Verständnis aufzubringen bereit ist, daß dieser sich im Jahre 1943 von seiner halbjüdischen Frau scheiden ließ, um die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer zu erwirken: „Dieses Handeln mag menschlich schäbig sein, doch es gehört zur conditio humana.“ (88) Wenn Hinz allerdings ausgerechnet dies ernst meint, läßt sich – und zwar aus seiner ganz eigenen Perspektive – mit einer gewissen Berechtigung umgekehrt die Frage an ihn richten, ob denn nicht auch das Bedürfnis der Bölls, Grass’ und Co., in die „Bundesrepublikanische Schrifttumskammer“ durch „Tendenzliteratur“ aufgenommen zu werden, ebenfalls – zumal nach Auschwitz und einem eigenen Verstricktsein – nachsichtig der viel beschworenen conditio humana zugerechnet werden müßte.
Hier hat Brodkorb offenbar schlampig gelesen, denn genau diese fortgesetzte conditio humana wird doch von Hinz nicht nur laufend berücksichtigt, sie ist der Schlüssel schlechthin, um zu verstehen, unter welchen Umständen die Welterfassung der Nachkriegsliteratur stark beeinträchtigt, ja zum Teil zum Scheitern verurteilt war. Hinz macht Grass, Böll & Co an keiner Stelle einen moralischen Vorwurf, der an Rigorosität das Urteil über Andersch (“menschlich schäbig, aber so sind die Menschen”) überträfe. Psychologisch besonders einfühlsam ist etwa der Abschnitt über Wolfgang Koeppen geraten – gerade jenen Autor, dem Hinz am explizitesten die Produktion von “politischer Tendenzliteratur” vorwirft.
Es kommt indessen nicht im geringsten darauf an, etwas “nachsichtig” durchzuwinken, oder es im Gegenteil moralisch zu verurteilen, womit sich die Sache dann, so oder so, erledigt hätte. Sondern es geht darum, zu verstehen, welche inneren und äußeren Dispositionen hier wirksam waren, und welche ästhetischen Formen sie gefunden (oder verfehlt) haben. Es geht nicht um ein Urteil über die Autoren in menschlicher Hinsicht, sondern um die Frage, warum und wie deren Literatur eben zu dem wurde, was sie ist, was sie nicht ist, und was sie hätte sein können.
Indem Brodkorb Hinz zu unterstellen versucht, auf einem Auge blind zu sein, hat er lediglich gezeigt, daß er selbst auf beiden Augen nichts sehen kann, außer daß der Einband des Büchleins schön türkis geraten ist (was auch stimmt). Darum bleibt ihm auch der Kern des “nationalkonservativen”, oder sagen wir einfach: des nationalen Arguments, oder sagen wir noch einfacher: des “Gesamtzusammenhangs” verschlossen, und kein angestrengtes Grübeln und Begriffshantieren kann diese Nuß knacken, wenn einem sowohl das historische als auch das ästhetische Sensorium fehlt. “Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen.” Ob das eher ärgerlich oder beruhigend ist, muß ich noch entscheiden.