Komisch, nicht? Auch sinkendes Niveau ist eine Frage der Akklimatisierung. Wen juckt’s also noch, wem fällt es noch auf? Wie lange liegen die Zeiten nun zurück, in denen man es für unfaßbar gehalten hätte, daß ein Lebewesen wie Christian Wulff einmal deutsches Staatsoberhaupt werden könnte?
Eine gewisse Schlüssigkeit hat das Wahlergebnis: Kann man sich ein passenderes symbolisches Antlitz für das System vorstellen, als das von Wulff? “Wie kann dieser Mann Präsident aller Deutschen sein?”, fragte Roland Gläser im JF-Blog. Nun: eben drum! Dieser perfekte Avatar der seichten, stromlinienförmigen, profillosen Nicht-Persönlichkeit, ein aalglatter, politisch überkorrekter Angepaßter, der sich in Kindergartensprache auszudrücken beliebt. Aber diesen infantilen Habitus sind wir ja von Tante Merkel gewohnt. Insofern sind wir schon vorbereitet für das nächste höher temperierte Becken.
Wer ist noch imstande, Achtung vor einer solchen Gestalt zu haben? Schon vor Merkel und Westerwelle hat kein Mensch mehr Respekt. Hier hat eine jahrzehntelange, stufenweise Negativauslese nun wirklich den untersten Dreck nach ganz oben gespült. Das sage ich, damit niemand später von uns behaupten kann, wir hätten von nichts gewußt. Indessen waren die Alternativangebote kaum besser, und es mußten erstmal drei zähe Wahlgänge absolviert werden, bis die Obstipation ein Ende fand.
So ist das eben in der Oligarchie: Man kann zwar frei wählen, aber leider nur aus einem Buffet von ein paar “letzten Menschen” frei nach Nietzsche, und diesmal hat eben der letzteste gewonnen, wobei auch das wohl Geschmacksfrage ist (den Juxkandidaten mit der Gitarre, der eine Kategorie für sich ist, lasse ich mal außen vor – danke, NPD, für diese gelungene Dada-Aktion! Das meine ich gänzlich unironisch und unsarkastisch.)
Passenderweise lese ich gerade den Kaplaken-Band Wozu Politik? von Erik Lehnert, ein wohltuend erdendes und abkühlendes Gegengift zu dem täglichen Narrenhaus. Zur Feier des Tages daraus ein Zitat:
Erstaunlich ist es, daß die gleichen zahnlosen Politiker es durchaus schaffen, sich in der eigenen Partei durchzusetzen. Allerdings sind die hier benötigten Eigenschaften andere. Der Ausleseprozeß in der eigenen Partei ist so beschaffen, daß Profil, konsequente Entscheidungen und Überzeugungen eher zu dem gehören, was die Karriere behindert. Die Verhaltensregel lautet: Vermeide Verantwortung, wo es geht, es könnte sein, daß dich jemand beim Wort nimmt. Die Organisation der Partei als Oligarchie führt zu einer Negativauslese, die die Besten abschreckt. Außerhalb der Parteibürokratie gibt es keinen Raum, in dem sich eine politische Elite bilden könnte. “Dies aber heißt, daß Politik zum Beruf und zur Karriere geworden ist und daß die ‘Elite’ daher nach Maßstäben und Kriterien ausgesucht wird, die selbst zutiefst unpolitisch sind.” (Hannah Arendt)
(…)
Franz Walter, der Göttinger Parteienforscher, hat seit einiger Zeit versucht, die Frage zu beantworten, “warum Politiker nicht die Klügsten sind”. Es erweist sich in der Regel als Vorteil, so Walter, nicht über die Maßen klug zu sein. “Der Mangel an Zweifel am eigenen Tun erleichtert das politische Führungsleben, während Skrupel und Reflexionswut es erheblich erschweren.” Und “um ganz oben im Zentrum der Macht zu überleben, ist es ratsam, sich politisch nicht vorschnell präzise festzulegen.” Das erfordert strategisches Vorgehen. Der Politiker “operiert geheim; er täuscht, legt falsche Spuren, hebt Fallgruben aus, lauert hinter Hecken. Er hat allerdings Vorsorge dafür zu treffen, daß dies alles zugleich als ‘authentisch’ erscheint, also mit dem ‘Saum des Glaubens’ ausgestattet wird. Seit jeher kümmert sich die erfolgreiche Führung darum, ihr Tun moralisch zu verbrämen.”