Öffentliche, veröffentlichte, quasi-öffentliche Meinung

pdf der Druckfassung aus dem Sezession-Sonderheft Sarrazin lesen (Oktober 2010, hier einsehen und bestellen)

von Karlheinz Weißmann

Die Sarrazin-Debatte hat einen Verlauf genommen, der nicht zu erwarten war. Denn in den letzten Jahrzehnten wurden Auseinandersetzungen dieser Art nach einem bestimmten Muster geführt: Dissens – Disziplinierung – Ächtung – Ausstoßung. Im Fall Sarrazins scheiterte schon die Disziplinierung, der Versuch, ihm nach dem Interview in Lettre International oder den Vorabdrucken seines Buches in Bild und Spiegel einen Maulkorb zu verpassen.

Als ent­schei­dend erwies sich aber, daß die Äch­tung ver­sag­te, obwohl in der poli­tisch-media­len Klas­se »alle einig« (Rein­hold Beck­mann) waren. Einig, daß Sar­ra­zins Buch »ver­let­zend« auf »Men­schen in Deutsch­land« wir­ke (Ange­la Mer­kel), daß sei­ne Argu­men­ta­ti­on »däm­lich« (Sig­mar Gabri­el) oder daß er »ver­rückt« sei (Arno Wid­mann), der »Quar­tals­ir­re« (Hart­mut El Kur­di), sei­ne The­sen »absurd« (Con­stan­ze von Bul­li­on), schließ­lich, daß man jede wei­te­re Beschäf­ti­gung mit Autor und Buch unter­las­sen sol­le, da das nur eine »Auf­wer­tung« (Ste­phan Kra­mer) bedeute.

Daß die Cau­sa Sar­ra­zin trotz­dem nicht erle­digt war, hat­te vor allem mit der mas­sen­haf­ten Unter­stüt­zung zu tun, die er erhielt und die sich in ers­ter Linie auf den Kom­men­tar­sei­ten des Net­zes und in den Blogs äußer­te. Die vor­sich­ti­ge Par­tei­nah­me durch Bild und Focus erschien inso­fern nicht ganz iso­liert. Auf­schluß­rei­cher war aber ein merk­wür­di­ges Schwan­ken in der Ein­schät­zung, das vor allem am bür­ger­li­chen Leit­or­gan FAZ beob­ach­tet wer­den konn­te: Die Zei­tung schloß sich weder der Hatz der Lin­ken noch dem Oppor­tu­nis­mus der Mit­te an. Der Mei­nungs­plu­ra­lis­mus der Frank­fur­ter hat­te wenig zu tun mit dem übli­chen Hin und Her zwi­schen dem eher kon­ser­va­ti­ven Politik‑, dem libe­ra­len Wirt­schafts- und dem lin­ken Kul­tur­teil, auch nicht mit Debat­ten­si­mu­la­ti­on, eher mit Ver­un­si­che­rung. Beson­ders klar erkenn­bar war das an den Stel­lung­nah­men Bert­hold Koh­lers, den man dem rech­ten Flü­gel der Her­aus­ge­ber­schaft zuschla­gen darf. Koh­ler hat sich in zwei Leit­glos­sen, einem kur­zen Kom­men­tar und zuletzt mit einem ful­mi­nan­ten Leit­ar­ti­kel zum Fall Sar­ra­zin geäu­ßert. Ihm ging es von Anfang an dar­um, auf die Gefähr­dung des poli­ti­schen Gesamt­ge­fü­ges hin­zu­wei­sen, wenn man den Ein­druck erwe­cke, als ob Posi­tio­nen, wie sie Sar­ra­zin vor­trägt, prin­zi­pi­ell nicht gehört und auf die Sor­gen und Ängs­te der ein­fa­chen Leu­te kei­ne Rück­sicht genom­men werde:

Ent­rüs­te­te Äuße­run­gen wie die des Innen­mi­nis­ters, die von Sar­ra­zin beschrie­be­nen Defi­zi­te sei­en der Poli­tik doch längst bekannt, klin­gen in den Ohren vie­ler Bür­ger wie der blan­ke Hohn: Wenn man die Miß­stän­de schon so lan­ge kennt, war­um wur­de dann so wenig zu ihrer Besei­ti­gung getan? Und war­um wird dann der­je­ni­ge aus Amt und Par­tei­mit­glied­schaft gejagt, der nur alte Hüte auf­trägt, wenn auch mit Pro­vo­ka­tio­nen geschmückt – wäh­rend die Prot­ago­nis­ten einer ver­fehl­ten Ein­wan­de­rungs­po­li­tik wei­ter durch die Insti­tu­tio­nen mar­schie­ren und unge­niert behaup­ten kön­nen, sie sei­en schon immer dafür gewe­sen, daß Aus­län­der­kin­der zunächst Deutsch ler­nen müs­sen? Der Brand­ge­ruch, den man­che Sar­ra­zin zuschrei­ben, hat eine ande­re Quel­le: Es liegt mehr als nur ein Hauch von Rebel­li­on gegen Beschö­ni­gung und Bevor­mun­dung in der Luft. Wenn die ›Volks­par­tei­en‹ die von Sar­ra­zin auf­ge­grif­fe­nen Sor­gen und Ängs­te nicht schnell ernst neh­men, wer­den die sich ande­re Für­spre­cher suchen, deren Mäu­ler sich nicht mit einem Antrag beim Bun­des­prä­si­den­ten stop­fen lassen.

Die Schär­fe in Koh­lers Dik­ti­on wur­de anfangs noch kor­ri­giert durch die Kür­ze und die Rand­pla­zie­rung sei­ner Tex­te. Rein optisch hat­te der Leit­ar­ti­kel eines ande­ren Her­aus­ge­bers der FAZ, Gün­ther Non­nen­ma­cher, grö­ße­res Gewicht, blieb aber in der Sache unent­schie­den. Die Stel­lung­nah­men von Ste­fan Diet­rich und Vol­ker Zas­trow folg­ten mit tak­ti­scher Ver­spä­tung, die Bei­trä­ge im Wirt­schafts­teil waren wesent­lich auf öko­no­mi­sche Aspek­te und die Unab­hän­gig­keit der Bun­des­bank fixiert, aller­dings deut­lich abge­grenzt gegen­über der Posi­ti­ons­be­stim­mung des Feuil­le­ton. Dort hat­te Chris­ti­an Gey­er – Stim­me des main­stream – den ers­ten Schlag über­haupt geführt. Gey­er bezeich­ne­te Sar­ra­zins Buch als »anti­mus­li­mi­sches Dos­sier«, das die »All­macht der Gene­tik« beschwö­re, aus der der Ver­fas­ser das abwei­chen­de Sexu­al­ver­hal­ten und die hohe Fer­ti­li­tät der Ein­ge­wan­der­ten eben­so erklä­re wie deren Intel­li­genz­man­gel. Gey­er lie­fer­te eine Rei­hung von Aus­sa­gen, deren Skan­dal­träch­tig­keit er ver­trau­te, kom­bi­niert mit Nega­tiv­ur­tei­len der Auto­ri­tä­ten, denen er Unan­fecht­bar­keit zubil­ligt. Im Kern ging es nur dar­um, klar­zu­stel­len, daß Sar­ra­zin nichts als ein »bio­lo­gis­ti­sches Pan­op­ti­kum« biete.

Übli­cher­wei­se been­det der Vor­wurf des »Bio­lo­gis­mus« jede wei­te­re inhalt­li­che Aus­ein­an­der­set­zung. Auf die von Sar­ra­zin behaup­te­te Ver­erb­bar­keit der Intel­li­genz, auf die Intel­li­genz­un­ter­schie­de zwi­schen Eth­ni­en, das Intel­li­genz­ge­fäl­le zwi­schen Auto­chtho­nen und Ein­wan­de­rern aus Afri­ka und dem Vor­de­ren Ori­ent ging Gey­er des­halb nir­gends prü­fend ein. Sein Ver­fah­ren war typisch, Kon­se­quenz des »Anthro­po­lo­gie­ver­bots« (Odo Mar­quard), das die Lin­ke seit den sieb­zi­ger Jah­ren erfolg­reich ver­an­kern konn­te. Offe­ne Dis­kus­si­on oder Ratio­na­li­tät haben in dem Kon­text nie eine Rol­le gespielt, nur ein bestimm­tes »sozio-psycho-kul­tur­po­li­ti­sches Gemein­ver­ständ­nis« (Die­ter E. Zim­mer), dem sich der Rest der Gesell­schaft Stück für Stück unterwarf.

Die Fol­gen die­ser Kapi­tu­la­ti­on sind auch und vor allem an den Tex­ten Schirr­ma­chers deut­lich ables­bar, des drit­ten Her­aus­ge­bers der FAZ, der sich in die Debat­te ein­ge­mischt hat, und zwar in beson­ders mas­si­ver Form, zuerst mit einem ganz­sei­ti­gen Bei­trag für die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Sonn­tags­zei­tung, dann noch ein­mal mit einem Leit­ar­ti­kel. Schon in sei­nem Text für die FAS ging es Schirr­ma­cher um den Nach­weis, daß Sar­ra­zin als Sozi­al­dar­wi­nist bezeich­net wer­den müs­se, der sich nicht nur pro for­ma auf Dar­win und des­sen Schü­ler – etwa Fran­cis Gal­ton – beru­fe, sei­ne wah­ren Ansich­ten aber dadurch kaschie­re, daß er Reiz­vo­ka­beln aus­las­se und Bezug­nah­men ver­wi­sche. Soweit man das fest­stel­len kann, ist für Schirr­ma­cher Sozi­al­dar­wi­nist, wer alle gesell­schaft­li­chen und staat­li­chen Pro­zes­se vom sur­vi­val of the fit­test bestimmt sieht, inso­fern auch demo­gra­phi­schen oder öko­no­mi­schen Ent­wick­lun­gen, diplo­ma­ti­schen oder krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen eine bio­lo­gi­sche Dimen­si­on unter­stellt. Sicher­lich besteht eine Affi­ni­tät zwi­schen dem klas­si­schen Sozi­al­dar­wi­nis­mus und Sar­ra­zins Kon­zept, auch weil er das neue­re sozio­bio­lo­gi­sche Kon­zept des »ego­is­ti­schen Gens« ablehnt und vor­aus­setzt, daß in ent­schei­den­der Wei­se mensch­li­che Ver­bän­de Sub­jekt wie Objekt des Pro­zes­ses sind. Der Zusam­men­hang wird aber nicht mit der gebo­te­nen Nüch­tern­heit zur Kennt­nis genom­men, denn Schirr­ma­cher geht es kaum um Fest­stel­lung und Prü­fung, son­dern um Insi­nua­ti­on, und der von ihm erho­be­ne Vor­wurf, sein Geg­ner ver­wi­sche die Zusam­men­hän­ge oder gebe sie unvoll­stän­dig wie­der, fällt auf ihn selbst zurück.

Zumin­dest leg­te Schirr­ma­cher nie­mals offen, an wel­chen Maß­stä­ben er mißt, wenn er den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus fei­ert und Sar­ra­zins Kri­tik ver­wirft. Erst am Schluß sei­nes Leit­ar­ti­kels kommt er auf den ent­schei­den­den Punkt; da heißt es: »Nichts ver­hin­dert die Klug­heit einer Gesell­schaft mehr als Bio­lo­gis­mus«. Wenn Sar­ra­zin nach Mei­nung Schirr­ma­chers unter die­se Kate­go­rie fällt, obwohl er betont, daß die natür­li­che nur die eine Sei­te des Men­schen sei, so läßt sich das Ver­dikt im Grun­de bloß dadurch erklä­ren, daß Schirr­ma­cher sei­nen Angriff als Prä­ven­tiv­schlag betrach­tet. Tat­säch­lich ver­mu­tet er, daß Sar­ra­zin eine »neue poli­ti­sche Moral« durch­set­zen wol­le, die sich auf »Natur­ge­set­ze« grün­de. Dage­gen müs­se Wider­stand geleis­tet wer­den, nicht weil die Auf­fas­sung falsch, son­dern weil sie gefähr­lich sei, eine Leh­re, die vom Men­schen fern­zu­hal­ten ist, weil sie ver­wirrt, weil sie »den Men­schen das Gefühl gibt, fest­ge­legt zu sein, und weil er ande­ren die Macht gibt, sie festzulegen«.

Man staunt über sol­che Sät­ze, weil Schirr­ma­cher kaum im Ernst mei­nen dürf­te, daß Men­schen nicht fest­ge­legt sind und nicht fest­ge­legt wer­den. Es ist jeden­falls nur schwer vor­stell­bar, daß er das Cre­do der Milieu­theo­re­ti­ker, der Lin­ken und der Ega­li­tä­ren, das er nach­spricht, wirk­lich glaubt. Näher liegt die Ver­mu­tung, daß er den kul­tu­ra­lis­ti­schen Fehl­schluß vom Sol­len auf das Sein aus tak­ti­schen Moti­ven stützt. Er ist Teil einer nütz­li­chen Illu­si­on, die auf­recht­erhal­ten wer­den muß, weil die Ent-Täu­schung schreck­lich wäre: Sie könn­te auch zu einer Desta­bi­li­sie­rung der poli­tisch-media­len Klas­se füh­ren, der Schirr­ma­cher ange­hört und die er als gege­be­ne Eli­te unse­rer »Gesell­schaft« betrachtet.

Mit einer irri­tie­ren­den Selbst­ver­ständ­lich­keit kommt Schirr­ma­cher immer wie­der auf die­se »Gesell­schaft« als Bezugs­grö­ße zurück und igno­riert, daß Sar­ra­zin an ent­schei­den­der Stel­le gar nicht von einer Bezugs­grö­ße »Gesell­schaft« aus­geht, son­dern vom »Volk«, das über eine eth­nisch bestimm­te Iden­ti­tät defi­niert wer­den kann, inso­fern nicht kon­stru­ier­bar, son­dern essen­tia­lis­tisch auf­zu­fas­sen ist. Es ist kei­ne Men­ge belie­bi­ger Indi­vi­du­en, son­dern eine im wei­te­ren Sinn orga­ni­sche Grö­ße. In einem Gespräch mit der Welt am Sonn­tag – in dem auch der zu hys­te­ri­schen Reak­tio­nen füh­ren­de Satz über das »jüdi­sche Gen« fiel – hat Sar­ra­zin das mit uner­war­te­ter Deut­lich­keit aus­ge­spro­chen und klar­ge­stellt, daß Völ­ker kei­ne Zufalls­pro­duk­te sind, son­dern nor­ma­ti­ve Grö­ßen für die gute poli­ti­sche Ordnung.

Bezeich­nen­der­wei­se fan­den neben Necla Kelek nur weni­ge den Mut, ihm hier­in bei­zu­pflich­ten und auch klar­zu­stel­len, daß es Unter­schie­de mehr oder weni­ger gra­vie­ren­der Art zwi­schen den Völ­kern gibt: »Dabei scheint schon der gesun­de Men­schen­ver­stand nahe­zu­le­gen, daß Eth­ni­en wie zum Bei­spiel die Völ­ker Ana­to­li­ens oder Ägyp­tens, die über Jahr­hun­der­te von den Osma­nen dar­an gehin­dert wur­den, Lesen und Schrei­ben zu ler­nen, bei denen noch heu­te Mäd­chen nicht zur Schu­le gehen dür­fen, ande­re Talen­te ver­erbt bekom­men, als die Söh­ne von Johann Sebas­ti­an Bach, und daß es auch bei der Intel­li­genz so etwas wie die Gauß­sche Nor­mal­ver­tei­lung gibt.« Daß Schirr­ma­cher sei­nem Schütz­ling Necla Kelek die Gele­gen­heit zu einer aus­führ­li­chen Mei­nungs­äu­ße­rung bot, konn­te als ers­tes Anzei­chen einer Kurs­kor­rek­tur gewer­tet werden.

Frau Kelek äußer­te in ihrem FAZ-Bei­trag wei­ter die Ver­mu­tung, daß man die Sar­ra­zin unter­stell­te Angst weni­ger bei ihm, eher bei sei­nen Geg­nern ver­mu­ten müs­se und daß sich die Geschlos­sen­heit, mit der das Estab­lish­ment gegen Sar­ra­zin ste­he, aus dem Bedürf­nis nach einem Feind­bild erklä­re. In des­sen Rei­hen habe man längst den Rea­li­täts­be­zug ver­lo­ren, so daß die Fak­ten bestrit­ten wür­den und die tat­säch­li­che Besorg­nis der ein­fa­chen Leu­te ent­we­der geleug­net oder als Bor­niert­heit gedeu­tet wer­de. Dar­in berühr­te sich ihre Argu­men­ta­ti­on mit der­je­ni­gen Koh­lers, der – nach dem auf­fäl­li­gen Ver­stum­men sei­ner Kol­le­gen Schirr­ma­cher und Non­nen­ma­cher – am 9. Sep­tem­ber eine Art vor­läu­fi­ges Schluß­wort formulierte.

Daß Koh­ler sei­ne bis dahin geüb­te Zurück­hal­tung auf­ge­ben konn­te, hat­te wesent­lich damit zu tun, daß zu dem Zeit­punkt das Kli­ma, in dem die Debat­te statt­fand, umge­schla­gen war. Die Kri­ti­ker Sar­ra­zins sehen sich seit­her in der Defen­si­ve. Unbe­streit­bar ist, daß die Bevöl­ke­rung in ihrer Mehr­heit hin­ter dem Ver­fem­ten steht. Folg­lich begann man mit Absetz­be­we­gun­gen, nutz­te die eige­ne »sys­te­ma­ti­sche Belie­big­keit« (Mat­thi­as Geis/Bernd Ulrich), berei­te­te vor, was immer getan wer­den muß, wenn Äch­tung und Aus­sto­ßung schei­tern: Man erfin­det die eige­ne Posi­ti­on neu, im Sin­ne des »Die Poli­tik bedarf kei­ner Rat­schlä­ge von außen« (Tho­mas de Mai­ziè­re), auch die Ver­ant­wort­li­chen neh­men die Inte­gra­ti­ons­pro­ble­me »ernst« (Ange­la Mer­kel), »Wer auf Dau­er alle Inte­gra­ti­ons­an­ge­bo­te ablehnt, der kann eben­so wenig in Deutsch­land blei­ben wie vom Aus­land bezahl­te Haß­pre­di­ger in Moscheen« (Sig­mar Gabri­el) und selbst­ver­ständ­lich hät­ten die Medi­en die Pro­ble­me der mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaft nie­mals verschwiegen.
Schirr­ma­cher ahn­te sogar eine »Fun­da­men­tal­kri­se« (in Par­al­le­le zu den ers­ten zwan­zig Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts, was immer das bedeu­ten soll), kri­ti­sier­te die Kanz­le­rin mit deut­li­chen Wor­ten und ver­lang­te »Mei­nungs­frei­heit«.

In sich kon­se­quen­ter war die letz­te Stel­lung­nah­me Koh­lers, der deut­lich mach­te, daß der Ver­lauf der Aus­ein­an­der­set­zung ein grund­sätz­li­ches Pro­blem aufdecke:

Wer bestimmt die Gren­zen des Mei­nungs­kor­ri­dors? Bei­des war jahr­zehn­te­lang geklärt: Die Lin­ke in Poli­tik und Publi­zis­tik zog die roten Lini­en, von der Aus­län­der­po­li­tik bis zur Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung. Hin­ter dem auto­ri­tä­ren Geba­ren der Anti­au­to­ri­tä­ren zeigt sich ein tie­fes Miß­trau­en dem Urteils­ver­mö­gen des Vol­kes gegen­über. Die Metho­de Ausschluß(androhung) statt argu­men­ta­ti­ve Aus­ein­an­der­set­zung fin­det bis heu­te reich­lich Anwen­dung: von der auch auf die­sem Feld strom­li­ni­en­för­mig gewor­de­nen CDU bis zur SPD, von der Bun­des­bank bis zur Ver­trei­bungs­stif­tung, wo sich jetzt schon Mit­glie­der selbst aus­schlie­ßen, wenn ande­re nicht aus­ge­schlos­sen werden.

Wie Kelek betont Koh­ler die Gefahr, die für die Sta­bi­li­tät des Gesamt­sys­tems ent­steht, wenn die »Eli­te« den Kon­takt zur Basis ver­liert, wo sich all­mäh­lich eine brei­te Oppo­si­ti­on bil­det, die kei­ne Hoff­nung hat, Gehör zu fin­den. Man könn­te zur Ver­deut­li­chung der Gedan­ken Koh­lers Eli­sa­beth Noel­le-Neu­manns Begriff des »dop­pel­ten Mei­nungs­kli­mas« her­an­zie­hen. Sie bezeich­ne­te damit eine Lage, die dann ent­steht, wenn die Dis­kre­panz zwi­schen den Ansich­ten der ton­an­ge­ben­den Krei­se und der – demo­sko­pisch oder heu­te in den Netz­fo­ren faß­ba­ren – Mehr­heits­po­si­ti­on immer grö­ßer wird. Die Dis­kre­panz kann über län­ge­re Zeit sta­bil blei­ben, weil die Eman­zi­pa­ti­on der poli­ti­schen Füh­rung wie der Medi­en von der sozia­len Wirk­lich­keit weit gedie­hen ist und sich die Metho­den der Beein­flus­sung ver­fei­nert haben. Aber die Ent­wick­lung strebt mit Not­wen­dig­keit zum Umschlag, wenn die »Schwei­ge­spi­ra­le« ihre Kraft ver­liert, wenn das Offen­kun­di­ge den auto­ri­ta­ti­ven Deu­tun­gen immer kla­rer wider­spricht und ein­zel­ne den Kon­sens aufkündigen.

Jür­gen Haber­mas hat die Demo­sko­pie immer als Feind-Wis­sen­schaft betrach­tet, als Tech­nik der Macht­ha­ber zum Zweck der Macht­si­che­rung. Das war nicht ganz falsch, wenn man auf die his­to­ri­schen Wur­zeln der Mei­nungs­for­schung kommt, die zuerst ent­wi­ckelt wur­de, um im Mas­sen­zeit­al­ter die wech­seln­den Stim­mun­gen der Vie­len fest­zu­stel­len und Mög­lich­kei­ten der Kon­trol­le anzu­bie­ten. Aller­dings ist das Reper­toire erstaun­lich klein geblie­ben, läßt sich »der Mann von der Stra­ße« kei­nes­wegs belie­big len­ken. Umge­kehrt darf man Zwei­fel an der Fähig­keit der von Haber­mas hoch­ge­schätz­ten »kri­ti­schen Öffent­lich­keit« haben. Deren Urteils­fä­hig­keit kann man nach den Erfah­run­gen der letz­ten Jahr­zehn­te kein gutes Zeug­nis ausstellen.
Trotz­dem ist eine nütz­li­che Leh­re aus der von Haber­mas ent­wi­ckel­ten Ana­ly­se zu zie­hen, die er zuerst in sei­nem Buch Struk­tur­wan­del der Öffent­lich­keit dar­ge­legt hat. Er unter­schied da »nicht-öffent­li­che Mei­nun­gen«, die die Men­schen pri­va­tim haben, die »öffent­li­che Mei­nung« im genau­en Sinn und die »qua­si-öffent­li­che Mei­nung«. Der »qua­si-öffent­li­chen Mei­nung« zure­chen­ba­re Anschau­un­gen las­sen sich auf bestimmte

… Insti­tu­tio­nen zurück­füh­ren; sie sind offi­zi­ell oder offi­zi­ös als Ver­laut­ba­run­gen, Bekannt­ma­chun­gen, Erklä­run­gen, Reden usw. auto­ri­siert. Dabei han­delt es sich in ers­ter Linie um Mei­nun­gen, die in einem ver­hält­nis­mä­ßig engen Kreis­lauf über die Mas­se der Bevöl­ke­rung hin­weg zwi­schen der gro­ßen poli­ti­schen Pres­se, der räso­nie­ren­den Publi­zis­tik über­haupt, und den bera­ten­den, beein­flus­sen­den, beschlie­ßen­den Orga­nen mit poli­ti­schen oder poli­tisch rele­van­ten Kom­pe­ten­zen … zirkulieren.

Anfang der sech­zi­ger Jah­re war noch nicht vor­stell­bar, wel­che Wirk­sam­keit die »qua­si-öffent­li­che Mei­nung« erlan­gen wür­de, um Sprach­re­ge­lun­gen einer­seits, Denk­ver­bo­te ande­rer­seits durch­zu­set­zen. Haber­mas’ Vor­stel­lung von einem all­mäch­ti­gen »CDU-Staat«, dem ZDF und Sprin­ger die Mög­lich­keit eröff­ne­ten, eine Art orwell­sches Sys­tem zu errich­ten, hat sich als irrig erwie­sen, genau­so wie sein Ver­trau­en in die Intel­lek­tu­el­len als natür­li­che und klu­ge Oppo­si­ti­on. Gera­de die haben sich bei pas­sen­der Gele­gen­heit mit dem poli­tisch-media­len Kom­plex zusam­men­ge­tan, der sie nährt. Die­se Koali­ti­on for­mu­liert die »qua­si-öffent­li­che Mei­nung«, der es in den letz­ten Jahr­zehn­ten gelang, einen Bestand an Auf­fas­sun­gen mit dog­ma­ti­scher Gel­tung zu definieren.

Man konn­te zeit­wei­se den Ein­druck haben, als sei es gelun­gen, »qua­si-öffent­li­che« und »öffent­li­che Mei­nung« so weit zur Deckung zu brin­gen oder Kon­gru­enz vor­zu­täu­schen, daß für eine ech­te Oppo­si­ti­on kein Platz mehr blieb. Wenn sonst nichts, dann hat der Fall Sar­ra­zin gezeigt, daß die­ser Ein­druck falsch war, daß das Auf­tre­ten von Abweich­lern in den Rei­hen der Herr­schen­den und die Unter­stüt­zung einer brei­ten, wenn­gleich unor­ga­ni­sier­ten Basis eini­ges in Bewe­gung zu brin­gen ver­mag. Das, was eben noch »nicht-öffent­li­che Mei­nung« war, kann dadurch zur Spra­che gebracht und zu einem poli­ti­schen Fak­tor gebün­delt werden.

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