pflegt und Überlieferungen weiterträgt, kann zu dem in diesem Frühjahr erschienenen Roman Die Leinwand greifen. Verfaßt hat ihn der 1970 in Ostberlin geborene und zum Judentum konvertierte Benjamin Stein. Er hieß bis 1988 nicht so, sondern anders – wie, das verschweigt er.
Die Leinwand ist in dieser Hinsicht autobiographisch: Wie kann es gelingen, zu jemandem zu werden, der man gerne sein möchte, obwohl die Herkunft einen ganz anderen Lebensweg nahelegte? Die Leinwand beschreibt aber auch, wie man in das hineinwächst, was nahelag, vielleicht sogar auswegslos vorgegeben war, und wie gerade in solcher Folgsamkeit Erfüllung und Stolz gefunden werden können.
Benjamin Stein schildert also zum einen die Konversion Jan Wechslers (sprechender geht es nicht!) zum Judentum und – in dem anderen Teil des Romans – die streng jüdische Erziehung eines in ein orthodoxes Elternhaus hineingeborenen Jungen.Um mit dem Konvertiten zu beginnen: Es ist faszinierend und amüsant zu erfahren, welche Alltagsriten ein streng gläubiger Jude einhalten muß, selbst dann, wenn er in einer Großstadt wie München lebt, wo die Wege weit und die Arbeitsabläufe rasant sind. Schon der Einstieg in die Geschichte ist eine Groteske für jeden, der den Kirchgang gerne einmal ausfallen läßt, wenn bestes Badewetter ist. Nicht so Jan Wechsler, der gelernte Jude: Ihm ist am Sabbat nicht einmal erlaubt, von einem Kurier ein Paket entgegenzunehmen, über Seiten zieht sich der Dialog, ein Eiertanz, den man unterbrechen möchte mit dem Ruf: Entspann dich, nimm das Paket an, dein Gott wird es verzeihen. Aber man kann in einen Roman nicht hineinrufen, und ließe der Autor nicht in der Wohnung gegenüber einen sehr verständigen und hilfsbereiten, nicht-jüdischen Nachbarn leben, der dem strenggläubigen Juden über solche Alltagshürden helfen kann – der Kurier müßte samt Paket wieder abziehen und erneut zustellen.
So geht es immer weiter mit der Schilderung von Vorschriften und Riten, die für Nichtgläubige nichts weiter als Alltagshindernisse sind: Die Wohnung muß in Synagogennähe liegen, damit man am Feiertag zu Fuß dorthin gelangen kann (Verkehrsmittel sind nicht erlaubt, und daß die Miete deutlich höher liegt als in günstigeren Stadtteilen, wird in Kauf genommen); der Freitagnachmittag gehört dem Gespräch und der religiösen Unterweisung, es wird nicht gearbeitet, nicht gelärmt, nur gesprochen und studiert; das Sabbat-Mahl folgt strengen Regeln, und wenn man auf Reisen geht, muß man vorher nach geeigneten Hotels und Restaurants forschen und für den Mißerfolg gerüstet sein: »Ein koscheres Hotel hatte ich in der Gegend erwartungsgemäß nicht finden können. Ich mußte mich selbst versorgen. Meine Frau packte mir eine fürstliche Lunchbox mit gekochten Eiern, Sandwiches, geschnittenem Obst und vorgeschälten Karotten. Für den zweiten Tag nahm ich einige Pita-Brote mit, Humus und Tachina in zwei kleinen Bechern und eine Dose Thunfisch. Verhungern würde ich jedenfalls nicht.«
Das sicher nicht, und mehr: Während jeder andere Gast zu den Mahlzeiten in den Speiseraum des Hotels geht und unter anderen Gästen sitzt, wird Jan Wechsler oder Benjamin Stein oder jeder andere gläubige Jude sein einsames Mahl auf dem Hotelzimmer einnehmen. Er wird dabei vielleicht kurz damit hadern, daß er solch strengen Regeln unterworfen ist. In diesen Hader aber wird sich der Stolz darüber mischen, daß er – der Jude – derjenige ist, der Regeln einzuhalten vermag, und der mit dieser Disziplin seinem Gott dient. Jedenfalls wird er während des Mahls und durch die abgeschottete Situation an den Glauben und an die Zugehörigkeit zu einer besonderen, gesonderten Gemeinschaft erinnert und knüpft im Vollzug der Alltagsriten das Band neu und wieder ein Stückchen fester.
Mit Sicherheit laufen solche Bewußtseinsvorgänge in vielen Fällen und Situationen nicht an der Oberfläche des Bewußtseins ab. Es ist eher so, daß sich religiöse Vorschriften und Alltagsriten einschleifen, daß sie ohne betonte Feierlichkeit beachtet und ausgeübt werden. Aber sie sorgen dafür, daß eine Tradition alltagsregelnd, lebensbegleitend und –bestimmend bleibt, also in den täglichen Lebens- und Wahrnehmungsvollzug eindringen konnte und immer wieder zur unbewußten oder bewußten Unterscheidung von anderen führt.
Ein Tischgebet zu Hause gehört zur Routine, ein Tischgebet in einem öffentlichen Restaurant ist ein gesetzter Akt, und wenn man in Benjamin Steins Leinwand liest, wie schwierig sich der Besuch eines Juden selbst bei einem anderen, jedoch nicht ganz so auf Eß‑, Trink- und Hygienevorschriften pochenden Juden anläßt, dann hat man den Eindruck, hier lebe einer seine Traditionsverfangenheit doch bis zur Unhöflichkeit aus. »Er begrüßte mich überschwänglich«, heißt es da an einer Stelle, »und führte mich zuerst in die Küche. Er hatte tatsächlich eingeschweißtes Einweggeschirr besorgt und sogar eine neue Kaffeemaschine angeschafft, die er mich auszupacken bat.«
Eingeschweißt, neu, noch original verpackt – alles dreht sich um Reinheit, um das Unverschmutzte, um eine peinliche Hygiene. Die Fortsetzung solcher Unbeflecktheit ins Denken und in die Erziehung hinein ist deshalb nicht verwunderlich. Und in der Tat: Der andere Teil der Leinwand beschreibt die Lehr- und Wanderjahre eines Sohnes aus orthodoxem Hause, Amnon Zichroni, der in Jerusalem der Talmud-Schule verwiesen wird, weil er unter der Bank ein weltliches Buch las. Er wird zu einem Nennonkel in die Schweiz geschickt, aber dort beginnt nicht etwa das lockere, europäische Großstadtleben fern von den Zentren der jüdischen Orthodoxie.
Vielmehr gibt es auch in Zürich jede denkbare Möglichkeit der Beschulung junger Juden, in Anspruch, Strenge und Glaubensexaktheit nicht einen Millimeter neben dem liegend, was der Schüler in Jerusalem hinter sich ließ.
Die Hoffnung auf mehr Weltlichkeit zerschlägt sich, und die Schilderung der Zürcher Jahre gipfelt in einem kurzen, rebellischen Moment. Zichroni, mittlerweile 19, begehrt auf, als ihm sein Onkel mitteilt, welche streng jüdische Universität er für ihn ausgesucht habe. »Warum, fragte ich ihn, sollte ich auch in den kommenden Jahren drei Viertel meiner Zeit über den zwölf Talmud-Bänden und anderen frommen Büchern verbringen, wenn doch eine unglaubliche Fülle weltlichen Wissens und ein ganzes Universum großer Literatur auf mich warteten?«
Der Onkel verschiebt die Antwort und nimmt den Rebellen einige Tage später mit in seine Juwelierwerkstatt, um ihm Demantoide zu zeigen. Diese Steine zeichnen sich – so wird es beschrieben – durch eine gleichmäßige Reinheit aus, gewinnen ihre Schönheit aber durch Einschlüsse, das Chrysolith. Der Onkel läßt Zichroni nun schätzen, wieviel Raum dieses Chrysolith einnähme. Man einigt sich auf höchstens fünf Prozent, mehr wäre zuviel, mehr würde den Eindruck des Einsprengsels inmitten der Reinheit zerstören, übertragen: den Eindruck der Individualität und des spannenden weltlichen Eintrags inmitten der reinen, als Fundament vermittelten, orthodoxen Lehre.
Jüdischer Traditionsvermittlung ist zweifelsohne vorbildlich. Karlheinz Weißmann hat vor Jahren unter dem Titel Biblische Lektionen die Bedeutung kleiner Gruppen hervorgehoben, die in Momenten der Identitätsbedrohung und der existenzgefährdenden Assimilierung in der Lage wären, das Volksbewußtsein zu wahren und zu verbreiten: »Solche Traditionskompanien sammeln die entscheidenden Identitätselemente und schaffen ein stabiles Elitegefühl«, und wenn es soeben leicht war, einige dieser Haltegriffe für die gläubigen Juden aus einem Roman herauszuschreiben (nebst innewohnendem Elitegefühl), so muß es doch schwerfallen, neben dem Holocaust, der Fußballbundesliga und dem ADAC noch weitere Bausteine für die Behausung identitätsbewußter Deutscher zu benennen. Ganz humorlos gesagt: Denen, die an Deutschland, den Deutschen, der deutschen Nation festhalten wollen, ist die große Erzählung nicht weitererzählt worden, ist die Verbindlichkeit der geschichtlichen Überlieferung, der historischen Haltegriffe, der Namen, die man nennt, und Bücher, die man liest, abhanden gekommen.
Es ist ein bißchen strapaziös, die jüdische Orthodoxie hier und die Zugehörigkeit zur deutschen Nation dort in Fragen der Tradierung zu vergleichen. Aber wenn hier für den Geschmack des modernen Menschen zuviel an Tradition, Vorschrift und starrem Identitätskorsett geschultert werden muß, so ist dort für jeden nicht ganz an die Moden der Moderne verlorenen Geist davon entschieden zuwenig vorhanden. Der ehemalige Bundesbanker Thilo Sarrazin, derzeit in aller Munde, hat das wohl eher unfreiwillig auf den Punkt gebracht und vorgeführt: Er schreibt in seinem Buch Deutschland schafft sich ab, daß bald, allzubalde niemand mehr in der Lage sein werde, Kulturgut wie etwa Goethes Gedicht »Über allen Gipfeln ist Ruh« auswendig aufzusagen. In einer Fernsehrunde wurde diese Vermutung bestätigt: Keiner der Anwesenden war in der Lage, die paar Verse zu sprechen (mit Ausnahme Sarrazins natürlich). Einer Runde traditionsbewußt erzogener Juden wäre dies – angesprochen auf eine Talmudsentenz – sicher nicht passiert.
Weg nun von dieser welthistorisch ziemlich einmaligen Verknüpfung aus religiöser, geschichtlicher und rassischer Tradierung eines So-undnicht-anders-Seins im Judentum, hin zu den Deutschen, genauer: zu einer konservativen, das heißt in diesem Fall rechten, kleinen Gruppe, die im Moment der Identitätsbedrohung und der existenzgefährdenden Assimilierung auf den Plan tritt, um die entscheidenden Identitätselemente zu sammeln und das Volksbewußtsein zu wahren und zu verbreiten. – Was wäre die Aufgabe dieser rechten Intelligenz, was wäre die geringste Forderung, das »konservative Minimum«? Die Aufgabe wäre doch wohl eher ein Maximum, jedenfalls keine geringe Forderung: Es wäre ein Kanon aufzustellen, ein Lektüre-Kanon, und zwar kein fachchinesischer, sondern einer, den mit einiger Anstrengungsbereitschaft jeder halbwegs intelligente Schüler und Student sollte absolvieren können.
Man kann auf den Konjunktiv verzichten: Karlheinz Weißmann und Erik Lehnert haben einen solchen Kanon nun aufgestellt, erscheinen wird er im Dezember als Band 2 des Staatspolitischen Handbuchs, unter dem Titel Schlüsselwerke. Dieser Kanon umfaßt rund hundertfünfzig Texte und sollte jenen, die es ernst meinen mit der Traditionsbildung und dem gemeinsamen Verständigungssockel, als verbindlich gelten. Daß einer Chemie und nicht Geschichte, Bauingenieurwesen und nicht Jura studiert, also fachfremd ist, kann überhaupt keine Rolle spielen; die Überzeugung von und die geistige Auseinandersetzung mit etwas sind nicht an eine Fakultät gebunden, und wer mit sechzehn beginnt, hat mit fünfundzwanzig diese einhundertfünfzig Bücher und Aufsätze gelesen, um die es geht – etwa ein Werk jeden Monat.
Das will bewältigt werden, und ein so lernender junger Mensch wird zusätzlich zu seinem schulischen oder universitären Pensum ein Buch aufschlagen und weiter in seinem Spengler oder Jünger oder Schmitt oder Kondylis lesen müssen. Er wird dabei vielleicht kurz damit hadern, daß er sich diesen Lektüreplan aufgeladen hat. In seinen Hader aber wird sich der Stolz darüber mischen, daß er derjenige ist, der wirklich studiert, ein Fundament mauert und zu etwas wird, was man voraussetzungslos nur im Keim schon ist – unentwickelt, virulent, noch nicht in Form gebracht. Jedenfalls wird er während der Lektüre und durch die abgeschottete Situation an die Zugehörigkeit zu einer besonderen, gesonderten Gemeinschaft erinnert, an eine Kompanie des Geistes und der Anstrengungsbereitschaft, und jede Buchseite knüpft das Band ein bißchen fester.
Wie inkonsequent erscheint vor diesem Bild das Verständnis für solche, die – etwa auch auf den Akademien des Instituts für Staatspolitik – einem Referenten lauschen, ohne sich auf ihn und seine Thesen vorbereitet zu haben. Es gäbe viel zu sagen über den traurigen Mut der ahnungslosen Wortmeldung, über Sätze, die mit »Ich finde« oder »Für mich ist« beginnen und aus dem Moment heraus Erkenntnisse gebären, die der Mann am Rednerpult in seinem längst veröffentlichten Buche glücklich schon zur Welt gebracht – und entfaltet hat. Den jähen, originellen, von keines Geistes Blässe angekränkelten Sturm und Drang in Ehren – aber hundert Prozent Individualismus nebst steilem Auftreten reichen zwar für ein Wortgefecht aus, nicht jedoch für eine Vergrößerung des Klangraumes einer Tradition.
In der Leinwand Benjamin Steins ist der interessantere Teil des Romans zweifellos derjenige über die Konversion Jan Wechslers. Warum? Weil es auch im Falle einer traditionsbewußten, konservativen Gruppe stets darum geht, mögliche Konvertiten aufzuspüren und ihnen zur »zweiten Geburt« (Armin Mohler) zu verhelfen. Und dies ist eben nicht billig zu haben, sondern bedarf jenes Klangraums, in dem Inhalte und Form einer konservativen Weltanschauung abgestimmt zu Stimmführern werden. Es mag einen gewissen Prozentsatz an Wechselwilligen und ‑fähigen geben, denen das Argument genügt. Der weitaus größere Teil wird sich aber nicht aus logischen Gründen, sondern aufgrund einer Atmosphäre, eines volltonigen Wohlklanges anlocken und »taufen« lassen.
Dies gilt ausgeweitet natürlich auch für die Idee der Nation und für den Gang unseres Volkes durch die Zeit: Wer solche historischen Größen begrifflich, gar juristisch auffädelt und daraus eine Daseinsberechtigung ableiten möchte (oder auch nicht), hat von der Wirkungsmacht der »großen Erzählung« und von Deutschland als einem »Lebewesen, das zweitausend Jahre alt ist« nichts begriffen. Die Geschichte muß erzählt werden, und sie muß überwältigend erzählt werden, bruchlos, als Geschichte eben, Schicht auf Schicht. Im Vorwort zu einem Gesprächsbändchen mit Karlheinz Weißmann steht etwas über eine solche »große Erzählung«, über ein gewaltiges Bild, das Gewalt auszuüben imstande ist, das zwingend ist und aufrüstend.
Das war Mitte der neunziger Jahre, Weißmann ließ zum Ende eines Vortrags hin »an den Hörern den historischen Zug der Deutschen vorbeiziehen, nannte Kaisergeschlechter, Bauernführer, Siedler, Künstler, Denker, Epochen, alles selbstverständlich und vor allem ohne Relativierung. Als er auf die Epoche des Dritten Reichs zusteuerte, hielt die Menge im Saal den Atem an. Und Weißmann rief die Frontsoldaten, die Männer des 20. Juli, die KZ-Häftlinge, die letzten Verteidiger der Ostgrenze, die Vertriebenen und die Spätheimkehrer auf; ließ dann, ohne die Abfolge zu unterbrechen, die Arbeiter des 17. Juni 1953 folgen, um mit denen zu enden, die die Mauer eingerissen hatten.«
Die Wirkung dieses »großen Schlachtengemäldes« auf die Anwesenden war spürbar, in manchen Fällen – obwohl ein einmaliges, nicht ritualisiertes Erlebnis – sogar nachhaltig. Sich solch eine wirkmächtige Erzählung anzuhören, ihren Nebensträngen zu folgen und sie selbst erzählen zu lernen, hat indes mit den Alltagshindernissen einer aus Glaubensregeln und Riten bestehenden religiösen Tradition nichts zu tun. Man bleibt bei alldem flexibel, stark individuell, und das Verhältnis, das oben am Beispiel des Demantoiden in Benjamin Steins Roman beschrieben wurde, mag sogar umgekehrt sein: Dann würden in den großen Individualismus fünf Prozent Verbindlichkeit eingemischt. Zweifelsohne muß vom Durchschnitt sich lösen, wer die Aufgabe der Identitätswahrung, der Traditionsweitergabe angeht und sich diese fünf Prozent erarbeiten möchte.
Vom Durchschnitt sich lösen heißt dann vor allem: das Heute nicht für die Krönung zu halten sondern für eine weitere Schicht, wie Michael Klonovsky es in seinem Aufsatz Geschichtssinn beschreibt, nebenbei Gilbert K. Chesterton zitierend: »Tradition ist Demokratie für die Toten. Sie ist die Weigerung, der kleinen, anmaßenden Oligarchie derer, die zufällig gerade auf der Erde weilen, das Feld zu überlassen.«
Zurück nochmals zur Leinwand: In diesem vielschichtigen Roman steckt noch eine weitere Lehre, eine Aneignungsform der großen Erzählung, die geradezu abschüssig werden kann. Letztlich kreisen nämlich beide Erzählstränge – der des Konvertiten und der des eingeborenen Orthodoxen – um eine zeitgenössische Person, die es so tatsächlich gab. Studie 11 des Instituts für Staatspolitik, in der es um den Schuldstolz der Deutschen geht, hebt gar mit diesem Beispiel einer Opferanmaßung an: Es war 1995, als Binjamin Wilkomirski seine autobiographischen Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 vorlegte und darin über die Greuel seiner Leidenszeit in deutschen KZ Bericht erstattete. Erst drei Jahre und viele Auszeichnungen später wurde Wilkomirski als Fälscher seines eigenen Lebens und als eigentlich uneheliches Kind und Waisenhauszögling enttarnt. In Die Leinwand heißt er Minsky, und Jan Wechsler ist jener, der ihn entlarvt.
Hier ist, das lehrt dieser Fall, einer sogar zum Opfer einer ganz großen Erzählung geworden, einer Erzählung, die – obwohl recht eigentlich »Geschichte« wie so manch anderes – derart ritualisiert und schematisiert weitererzählt wird, daß sie aus dem Raum des Weltlichen (und damit Diskutablen) in eine religiöse Sphäre (eine zivilreligiöse, aber immerhin!) gewechselt ist. Wilkomirski/Minsky wollte zum Teil dieser Erzählung werden, und dieser prominente Fall ist wiederum ein gutes Beispiel dafür, wie das in abgeschwächter Form durchaus zum Plan jeder »großen Erzählung « dazugehört. Man muß nur einmal einem alten 68er zuhören, wenn er von den Demos und Sit-Ins der Kampfzeit zu berichten beginnt – und mehr und mehr die Distanz verliert, die er sicherlich räumlich zu den großen Ereignissen seiner Bewegung hatte. Zuletzt erzählt er die Geschichte vielleicht sogar so, als sei er direkt neben einem Mitstreiter gestanden, der von einem Polizisten niedergeknüppelt wurde. In Wirklichkeit stand er zwar ganz woanders, und niedergeknüppelt wurde auch nicht, sondern allenfalls abgedrängt. Aber die Geschichte ist ein bißchen schöner und vor allem ein großes Stück mobilisierender, wenn es knallt und kracht.
Die Aufgabe der rechten Intelligenz ist – neben der Publikation der richtigen Texte und der Ausweitung geistig besetzten Geländes – die Schaffung virulenter Momente und Situationen. Die »große Erzählung«, die Atmosphäre der Tradition, der Ton des Klangraums – das alles kann in seiner Wirkmächtigkeit auch daran abgemessen werden, ob diejenigen, die davon hören und sich hineinvertiefen, dabeigewesen sein wollen. Der Stolz des Dazugehörens muß die Mühe des Eintritts überstrahlen. Nur dann bleibt etwas, bleibt mehr als Papier.