Stalin sei eine „Bestie“ (Adolf Hitler), und Hitler sei ein „Unmensch“ (Josef Stalin). DER SPIEGEL nutzt diese Beschreibungen, um seinen Lesern einen psychologisierenden Beitrag mit metaphysischem Sinngehalt in Aussicht zu stellen.
Während sich Stefan Scheil dem „Unternehmen Barbarossa“ widmet, indem er die Machtkonstellation zwischen Hitlerdeutschland und Sowjetrußland analysiert und somit die strategischen und diplomatischen Schachzüge nachvollzieht, die zu dem Angriff am 22. Juni 1941 geführt haben, funktioniert die emotionale Argumentation der Medien anders: Sie setzt voraus, daß grundsätzlich die Menschen für einen guten oder schlechten Ausgang der Geschichte verantwortlich seien und letztendlich alles machbar sei, wenn es die historisch handelnden Personen nur ernst genug anstrebten. Eine schicksalhafte Epoche oder ein totalitäres Zeitalter, in dem der angebliche Königsweg einer demokratischen Zivilgesellschaft unmöglich ist, kennt diese Argumentation nicht.
Nun könnte diese überdimensionierte Überschrift genauso wie die im Cicero („Der Herr der Welt“) durchaus geeignet sein, dem Leser schlagartig klar zu machen, daß es sich beim „Unternehmen Barbarossa“ genauso wie beim Holocaust um „historische Ereignisse“ unvorstellbaren Ausmaßes handelte, die mit dem Erfahrungshorizont und der Sprache der Gegenwart nicht zu begreifen sind. Sowohl die Verfasser solcher Beiträge als auch die Leser haben in ihrem Leben nichts auch nur annähernd Vergleichbares erlebt. Sie müßten sich deshalb alle bewußt sein, wie beschränkt ihr Urteil über diese Zeit zwangsläufig ist. Die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt ist eine der wenigen, die sich dieser Problematik als Denkvoraussetzung in Über das Böse (1965) genähert hat und zugleich wußte, wie alleine sie damit stünde. „Da es den Menschen schwer fällt – und dies mit Recht –, mit etwas zu leben, das ihnen den Atem raubt und sie sprachlos macht, haben sie allzu oft der offensichtlichen Versuchung nachgegeben, ihre Sprachlosigkeit in alle möglichen auf der Hand liegende Sprachgebilde, die, immer natürlich unangemessen, gefühlsmäßige Erregungen ausdrücken, zu übertragen.“ Die Folge sei, daß „heute die ganze Geschichte gewöhnlich in Begriffen der Gefühlswelt“ erzählt wird. Neben der bloßen Faktendarstellung gibt es somit nur einen Weg, sich dem Unvorstellbaren mit Millionen Toten anzunehmen. Es handelt sich um einen essayistischen Weg, der das Selbstgespräch zwischen innerem sprachlosen Entsetzen und vorsichtigem Urteilen simuliert und sich dieser Simulation bewußt ist.
In Ansätzen gelingt dies Katja Petrowskaja in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 19. Juni 2011. Die 1970 in Kiew geborene Journalistin berichtet von Kindheitserinnerungen an ihre Nachbarn aus der Ukraine. Sie kämpft sich so zu durchaus überraschenden Einsichten zum „Großen Vaterländischen Krieg“ durch: Die großen Verluste der Russen und Stalins Sieg seien zu einer Fessel für die nächste Generation geworden. „‘Hauptsache, es gibt keinen Krieg!‘ Diese Parole half durch den Alltag. Alle Nöte und Zwänge des sowjetischen Friedens waren nichts im Vergleich mit dem deutschen Krieg. Dies stimmte zwar, doch diese Wahrheit wurde ideologisch missbraucht und als staatliches Mittel der Unterdrückung genutzt. Bis heute kann ich beides nicht voneinander trennen“, schreibt Petrowskaja. Sie ist sich auch bewußt, daß nur ein totalitärer Staat Hitler besiegen konnte, weil Demokratien nicht zu solchen Opfern bereit seien. Das sind genauso unbequeme Einsichten wie der dezente Hinweis auf die Überrepräsentation des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Nichtsdestotrotz vertritt auch die gebürtige Ukrainerin allein eine russische Perspektive, was insbesondere an ihrem Unverständnis für den späten Widerstand des Stauffenberg-Kreises deutlich wird. Die FAS hätte das „Unternehmen Barbarossa“ deshalb nur dann halbwegs aufarbeiten können, wenn sie auch einer deutschen Perspektive Raum geboten hätte.
DER SPIEGEL hingegen bewegt sich noch auf einer ganz anderen Ebene. Er ist eines der Medien, die dem Staat in der Geschichtspolitik den Schneid abgekauft haben, ohne daß es dabei zu nennenswerten Zielkonflikten kommen würde. Die Wirksamkeit einer jeden Geschichtspolitik mißt sich am Grad der Legitimation durch den Bürger. Dadurch dürfte dem SPIEGEL eine Schlüsselfunktion für das Zeitgeschichtsverständnis der Gegenwart zukommen. Das Magazin wählt nach seiner reißerischen Überschrift („Bestie und Unmensch“) einen Einstieg im Stile einer Reportage: Ein im Präsens verfaßter Live-Bericht führt den Leser direkt in die Wohnstube des Führers und beobachtet ihn beim Abendessen mit Albert Speer. Im Hintergrund läuft Franz Liszt. Es ist der Abend vor dem Beginn des Barbarossa-Feldzuges. Das Nachrichtenmagazin hält die Kamera die ganze Zeit frontal auf den Führer und bekommt sogar mit, daß er in der Nacht kein Auge zugetan hat. Dieses sogenannte Re-Enactment (inszenierte Nachstellung) kennt man aus dem Fernsehen, aus Doku-Dramas, denen die vorhandenen Fakten nicht ausreichen und die reichlich fiktionales Material hinzufügen, um Spannung zu erzeugen. Die Berner Zeitung trieb diese Strategie gestern auf die Spitze. Sie bot online einen „Liveticker“ der historischen Ereignisse „in Echtzeit“ an.
Die Grenze zwischen dem belegbaren, dokumentarischen Anteil auf der einen Seite sowie dem imaginierten auf der anderen verschwimmt dabei für den Leser, so daß der Wahrheitsgehalt solcher Beiträge völlig unklar bleibt. Die Medienmacher täuschen mit dieser Technik absichtlich über existenzielle Leerstellen hinweg, auf die man bei jeder historischen Beschäftigung stoßen muß, wenn man sich im traditionellen Sinne für die Frage, wie es wirklich war, interessiert. Jenseits des medial Erfaßten und Erfaßbaren gibt es naturgemäß unzählige Reste des Unerklärlichen in der Geschichte. Dazu zählt die eher unwichtige Frage, wie lange Hitler am 21. Juni 1941 geschlafen hat, genauso wie die wesentlich bedeutsamere nach den Ursachen und Intentionen des Rußlandfeldzuges.
Letztendlich kann jeder Historiker nur gründlich Indizien sammeln und diese gewichten. Naturwissenschaftliche Beweise dagegen darf er nicht kennen. Er muß sich klar darüber sein, daß seine hypothetische Darstellung jederzeit zusammenbrechen kann, wenn sich eine neue Faktenlage ergibt. Aus diesem Grund ist er gut beraten, die Reste des Unerklärlichen immer mitzuerzählen. Bei Journalisten hat sich jedoch eine andere Strategie durchgesetzt: Sie umgehen einen möglichen Einbruch der Wirklichkeit in ihre konstruierten hypothetischen Darstellungen, indem sie die Historie mit fiktionalen Elementen anreichern und dann eine vollständige, in sich geschlossene Geschichte erzählen. Dieser „narrative Fetischismus“ (Eric Santner) füllt alle existentiellen Leerstellen mit emotionalen Banalitäten aus. Statt nach dem Präventivkrieg zu fragen, interessiert sich DER SPIEGEL für Hitlers Befindlichkeiten: Wie angespannt war er? Wie müde? Hat er gut geschlafen?
Der amerikanische Historiker Hayden White hat einmal gesagt, „einzig die anti-narrativen Nicht-Geschichten der literarischen Moderne ermöglichen eine angemessene Repräsentation derart ‚unnatürlicher‘ Ereignisse – einschließlich des Holocaust –, die unser Zeitalter kennzeichnen und es von allen anderen der vorangegangenen ‚Geschichte‘ unterscheiden“. Selbst wer so weit nicht gehen möchte, sollte dennoch erkennen, welche Probleme ein geschlossenes Geschichtsbild und auch bereits eine einzelne hermetische Geschichtserzählung nach sich ziehen. Sie sorgen dafür, daß sich der Interesseschwerpunkt von der Vergangenheit in die Gegenwart verschiebt und die Geschichte somit einer völligen Manipulierbarkeit gemäß aktueller Weltbilder ausgesetzt ist.
DER SPIEGEL sorgt für temporale Ganzheit, indem er sich an den Biographien von Hitler und Stalin festbeißt. Klaus Wiegrefe durchbricht dieses Schema nur an einer Stelle. Er spekuliert auf Verbrechen von Hitler, die dieser noch nach 1945 begangen hätte: „Doch wahr ist auch, dass Stalins Sieg am Ende noch Furchtbareres verhinderte. Denn der Holocaust, die Ermordung der europäischen Juden, war für Hitler nur der Auftakt.“ Der Führer hätte sein „braune(s) Rasseimperium in Osteuropa“ noch ausbauen wollen und dazu „die Vertreibung und Ermordung von bis zu 40 Millionen Slawen“ angestrebt.
Diese „Was wäre, wenn …“-Überlegung von Wiegrefe über eine unvorstellbare Zahl an Ermordeten dient einzig und allein dazu, für die Gegenwart in unübertreffbarer Deutlichkeit festzuhalten (obwohl es faktisch nichts festzuhalten gibt), daß Hitler ein noch schlimmerer Verbrecher gewesen ist als Stalin. Dabei greift er auf absurde Zahlenspiele zurück, statt einfach sein Entsetzen über die begangenen Massenmorde im Raum stehen zu lassen. Schließlich findet Wiegrefe auch noch einen Experten, der bewiesen haben möchte, wie viel mehr Menschen als Stalin Hitler umgebracht habe. Der amerikanische Professor Timothy Snyder, Autor von Bloodlands, darf resümieren: „Wir wissen jetzt, dass die Deutschen mehr Menschen umgebracht haben als die Sowjets.“
Mit diesen ganzen Spekulationen, überdimensionalen Metaphern sowie den als Live-Bericht getarnten fiktionalen Einschüben entsteht eine Vorstellungswelt, die der französische Medientheoretiker Jean Baudrillard „Hyperrealität“ genannt hat. Diese sorge für „die Vernichtung des Realen nicht durch gewaltsame Zerstörung, sondern durch eine Himmelfahrt, die Erhöhung des Realen zur Macht des Modells“. Den Begriff der „Himmelfahrt“ braucht man hier gar nicht zu metaphorisch zu interpretieren, vielmehr weist er darauf hin, daß die Darstellung einer Hyperrealität eine metaphysische Sinnfestlegung beinhaltet. Aus diesem Grund ist der Ausdruck des „Schuldkultes“ vollkommen berechtigt.
Diese Analyse wird morgen und übermorgen fortgesetzt mit:
Teil 2: Geschichte als Psychogramm oder: Wie nervös war Hitler? Und wie stolz darf ein Russe nach einer Vergewaltigung sein?
Teil 3: Geschichte in den Medien als „Kultur-Über-Ich“ oder: Was der Sozialpsychologe Harald Welzer will.
Und hier geht es zum kaplaken-Band von Stefan Scheil: Präventivkrieg Barbarossa. Fragen, Fakten, Antworten