und über die restlichen an diesem Krieg Beteiligten nur Opferzahlen in Millionenhöhe zu vermelden weiß, wird der Krieg nicht anschaulich. Um dies zu vermeiden, hat die BILD einen anderen Weg beschritten: Sie hat in Kooperation mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eine fünfteilige Serie über den Rußlandfeldzug initiiert, in der jeweils ein deutscher und ein sowjetischer Soldat das Geschehen an der Front schildern.
Diese Zeitzeugen sind in ihrem Urteil deutlich zurückhaltender als die allwissenden Journalisten und etablierten Historiker von heute. Der Rotarmist Wasir Taschajew berichtet etwa über die Nacht zum 22. Juni 1941: „Den ganzen Tag hatten wir unsere Stellungen in Sichtweite der Deutschen vermint. Stalin hatte zwar noch Tage zuvor vom Frieden mit Hitler gesprochen. Doch irgendetwas war in Gang. Die Wachen standen Tag und Nacht bereit.“ Damit bleibt die Frage nach dem Präventivkrieg ungeklärt. Zugleich deutet diese Aussage an, wie schwierig sich eine Bewertung des Geschehens jener Tage gestaltet, da selbst die direkt an diesem Krieg beteiligten Soldaten nicht genau wußten, welche machtstrategischen Überlegungen die Führung angestellt hatte.
Solcherlei private Erinnerungen sind heute in allen massenmedialen Formaten der Zeitgeschichte repräsentiert. Sie sorgen dafür, daß die als belehrend empfundene öffentliche Erinnerungskultur aufgelockert und persönliche Identifizierung ermöglicht wird. Dennoch können auch diese Elemente zu emotionalen Taschenspielertricks mißbraucht werden. Der Psychologe Donald E. Polkinghorne geht von einer „pränarrativen Qualität“ unserer ursprünglichen Erfahrung aus, die „ein Bedürfnis nach Erzählung nach sich zieht“. Jeder Zeitzeuge legt sich also gerade bei herausragenden historischen Ereignissen bewußt oder unterbewußt kleine Geschichten zurecht, um das Geschehene zu verarbeiten. Gerade an der Schwelle zum Unterbewußten wird es freilich für den Zuschauer bzw. Leser besonders interessant. Das Beste für einen Erzähler ist es also, wenn am Ende des Zeitzeugenberichts noch ein paar Tränen kullern. Sich der Wahrheit verpflichtet fühlende Historiker wie Stefan Scheil haben nun mindestens genauso gute Sensoren für pränarrative Empfindungen von Zeitzeugen. Allerdings nutzen sie sie nicht direkt zur Emotionalisierung, sondern wollen Ängste, Überzeugungen und Absichten ihres Untersuchungsgegenstandes entschlüsseln. Aus diesem Grund fragt Scheil völlig zurecht: „Befürchtete der spätere Kriegsgegner Deutschland einen solchen Angriff bereits Jahre vor dem Kriegsausbruch in öffentlichen wie internen Äußerungen seiner Verantwortlichen? Ja.“
Journalisten und Historiker der Zeitgeschichtsredaktionen gehen anders mit diesen Pränarrativen um. Sie rekonstruieren vermutlich aufgetretene Gefühle von historischen Akteuren, um Psychogramme zu zeichnen. DER SPIEGEL weiß, daß Hitler am Tag vor dem „Unternehmen Barbarossa“ die „Anspannung anzusehen“ war. Er sei „unruhig in seiner Wohnung in der alten Reichskanzlei umhergetigert“. Später habe er gesagt: „Die Ungewißheit lastete wie ein Grauen auf mir.“ Auch Joseph Goebbels hat seine Antennen auf den Gemütszustand des Führers ausgerichtet. Dieser sei, so erzählt uns DER SPIEGEL, „vollkommen übermüdet“ gewesen, als Goebbels ihn an jenem Abend besuchte. Doch neben dem Propagandaminister muß auch ein Reporter des Nachrichtenmagazins live dabei gewesen sein, denn: „Hitler will noch einige Stunden lang schlafen, doch es gelingt ihm nicht. Auch Goebbels findet keine Ruhe.“ Später stellt sich in dem Beitrag heraus, daß Klaus Wiegrefe auch Stalin in den Kopf schauen kann: „Man wird das Phänomen Stalin nie verstehen können, wenn man nicht jene Prägungen beachtet, die aus der Zeit im Untergrund resultieren: das Misstrauen, die Vorsicht, die Härte.“
Der Zweck dieser Psychogramme liegt allerdings nicht darin, die Ausmaße politischen Handelns zu verdeutlichen, denn natürlich hätte Hitler allen Grund „nervös“ zu sein, wenn er sich bei seiner Entscheidung über „Krieg und Frieden“ der Verantwortung für das deutsche Volk und die ihm unterstellten Soldaten bewußt wird. Man könnte ihm dies sogar als positiven Charakterzug auslegen, weil die Anspannung doch eigentlich beweisen müßte, daß seine Pläne in schlaflosen Nächten abgewogen wurden. Das gilt auch für Stalin: „Misstrauen, Vorsicht und Härte“ sind Eigenschaften, die jeder Staatsmann unbedingt braucht. Doch dem SPIEGEL geht es um etwas anderes: Die Nervosität Hitlers und das Mißtrauen Stalins sollen der Beweis für das insgeheime Wissen der Diktatoren um ihre Verbrechen sein. Hitler und Stalin waren „Todfeinde Brüder im Geiste“. „Paranoiker waren beide“, heißt es weiter. Der Argumentation des SPIEGEL zufolge hätten beide guten Gewissens sein können, wären sie in dieser Zeit einfach friedliche Demokraten gewesen. Da dies nicht der Fall war, müsse es psychologische Ursachen bei diesen Verwirrten geben, die zu Schlüsselmomenten hervortreten. Damit werden die Emotionen Hitlers und Stalins aus einer gutmenschlichen Verblendung der Gegenwart heraus einseitig interpretiert. Die emotionale Kulisse, die der Beitrag von Wiegrefe aufbaut, gerät so zur Kaffeesatzleserei aus Banalitäten.
Diese wirken noch grotesker, blickt man ins SPIEGEL-Archiv. Vor zwei Jahren veröffentlichte das Magazin in seiner Jubiläumsausgabe zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns („Der Krieg der Deutschen. Als ein Volk die Welt überfiel“) schon einmal eine Hitler-Homestory. Schon damals stellte der Reporter fest: „Der oberste Nazi ist nervös.“
Die Verknüpfung von Privatsphäre und Öffentlichkeit ist eines der wichtigsten Mittel, um Einfühlungsvermögen der Historiker bzw. Journalisten zur Schau zu stellen. Gerade hier zeigt sich jedoch, ob es nur um die durchaus legitime Darstellung von belegten Emotionen geht oder ob hier ein Stilmittel zur Anwendung kommt, damit der Leser „gut“ von „böse“ korrekt unterscheidet. Letzteren Eindruck hinterläßt auch ein Beitrag des Moskauer Schriftstellers Viktor Jerofejew als Teil der Titelgeschichte des Cicero. Jerofejew, dessen Vater einer der Übersetzer Stalins war, entwickelte selbst eine Distanz zur Sowjetunion. Trotzdem hat er ein völlig ungetrübtes Verhältnis zum „Großen Vaterländischen Krieg“. Er schreibt: „Die russischen Soldaten haben deine Großmutter vergewaltigt? Großartig! Das war Vergeltung! Die Bombardierung Dresdens – Vergeltung! Der misslungene Anschlag auf Hitler, das war lediglich verspätete Feigheit, Angst vor der Zukunft, und kein Heldentum!“
Das Gesamtkonzept des Cicero sieht es vor, den Triumph über den bösen „Herr der Welt“ herauszuarbeiten. Deshalb darf Jerofejew hier seine Glorifizierungsrede auf den „guten“ russischen Soldaten abhalten – ohne Raum für Differenzierungen, Einschränkungen oder Brüche. Auf die historische Richtigkeit kommt es daher überhaupt nicht mehr an. Dies wird an einer Stelle besonders deutlich, an der sich ein peinlicher Fehler eingeschlichen hat, der symptomatisch für den gesamten Beitrag ist: „Der Sieg Russlands über Deutschland hingegen ist der hellste Fleck nicht nur in der sowjetischen, sondern in der russischen Geschichte überhaupt. Nicht einmal der Sieg über Napoleon 1912 (sic!) hatte eine so tief greifende Bedeutung.“
Jerofejew baut das Bild eines kollektiven Krieges auf: Hier kämpft nicht wie im SPIEGEL Stalin gegen Hitler, sondern Rußland gegen Deutschland. Gerade diese Totalisierung nutzt er jedoch, um die Massenvergewaltigungen der Russen in Berlin zu rechtfertigen. Die deutsche Frau sei „der Inbegriff des Sieges“ für einen russischen Soldaten, weil dieser von Politik nichts verstehen würde. Er brauche eine Auszeichnung zum Anfassen. Diese Trophäe müsse mit aller Macht verteidigt werden, denn die „Wahrheit war auf der Seite der Russen“.
Eine Vergangenheitsbewältigung nach deutschem Muster mit einer Auflistung aller – auch individueller – Verbrechen paßt Jerofejew nicht ins Konzept. Sein Ziel ist es, den „Mythos der Einzigartigkeit Russlands“ zu stärken. „Der Sieg über Deutschland gerät neuerdings zu einem kosmischen Ereignis, zu einer universalen Garantie für unsere Zukunft, einem Klebstoff, der den potenziellen Zerfall Russlands aufhält“, betont der Schriftsteller. „Wenn wir Deutschland besiegt haben, dann können wir alle besiegen!“ Dafür ist jedes Mittel und jede emotionale Entgleisung recht. Jerofejew macht damit genau das Gegenteil der deutschen Vergangenheitsbewältiger. Während diese die eigene Geschichte über die Negativikone Hitler personalisieren und fragen, wie viel Hitler in jedem einzelnen Nazi gesteckt hat, begründet er den positiven Mythos seines Landes mit der Kollektivkraft, die sich besonders daran zeige, daß sie in der Lage war, dem Feind auch noch das Intimste (den weiblichen Körper) zu rauben.
„Ich will nicht behaupten, wir hätten wilden Hass auf die Deutschen empfunden; für uns waren sie dasselbe wie die Indianer für die Cowboys: Man musste sie schlicht und einfach vernichten“, schreibt Jerofejew. Aus diesem Zitat und dem Abdruck im Cicero sollte deutlich werden, wie wenig es hier um einen publizistischen Kampf für mehr Menschlichkeit geht. Die Festlegung von „gut“ und „böse“ ist das eigentliche Ziel, zu dessen Erreichung alle nachvollziehbaren Hinweise auf die Verbrechen der Alliierten vom Tisch gewischt werden.
Morgen endet diese Analyse mit einem Beitrag über:
Geschichte in den Medien als „Kultur-Über-Ich“
Und hier geht es zum kaplaken-Band von Stefan Scheil: Präventivkrieg Barbarossa. Fragen, Fakten, Antworten.