Dennoch sind zahlreiche Beiträge erschienen, die sich mit dem Ereignis beschäftigen. Was dabei auffällt, ist die Tendenz, daß an kaum einer Stelle eine politische Bilanz gezogen wird.
Die eigentlich interessante Frage nach dem, was Sarrazin bewirkt hat, wird fast schamhaft vermieden. Alle Beteiligten sind froh, daß die ganze Debatte vorbei ist und sich alle auf der Gewinnerseite wiedergefunden haben. Bei Sarrazin selbst ist das nachvollziehbar: Irgendwann ist man froh, daß man nicht mehr permanent mit Unterstellungen und Diffamierungen konfrontiert wird. Der Erfolg des Buches hat ihm recht gegeben und ihn damit aus der Schußlinie genommen.
Für Medien und Politik stellt sich die Sache etwas anders dar. Hier ist man offenbar froh, daß das vergangene Jahr Gras über die Debatte wachsen ließ und man wieder zur Tagesordnung übergehen kann. Und man hofft inständig, daß niemand, vor allem nicht Sarrazin selbst, auf die Idee kommt, das Versagen von Politik und Medien in der Sarrazin-Debatte zum Thema zu machen. Solange können sie sich auch auf der Gewinnerseite wähnen und in Sarrazins Ruhm sonnen.
Die Zeit sagt es im Jubiläumsinterview mit Sarrazin ganz deutlich: „Wir wollen heute nicht über Ihre Thesen streiten, sondern nur erfahren, wie Sie das vergangene Jahr erlebt haben.“ Dabei wäre das Jubiläum eine gute Gelegenheit gewesen, auf die Entwicklungen bei den von Sarrazin benannten Mißständen hinzuweisen.
Stattdessen führt das Zeit-Interview beispielhaft vor, wie man eine kontroverse Bemerkung in einem vor der Öffentlichkeit geschützten Raum in eine Floskel auflöst. Sarrazin bezieht sich am Ende des Interviews auf den Bildungsforscher Jürgen Baumert und sagt: „Die Bildungsleistung in Baden-Württemberg wird wegen des stark ansteigenden Migrantenanteils zurückgehen.“ Eine Aussage, die noch im Juni 2010, als Sarrazin davor warnte, daß Deutschland durch die Einwanderung aus der Türkei etc. „auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer“ werde, noch für helle Empörung sorgte. Die Antwort der Zeit lautet jetzt lapidar: „Wenn das stimmt, so kann das doch nur eine Konsequenz haben: daß wir uns alle zusammen noch mehr anstrengen müssen.“ Mit anderen Worten: Laß ihn reden.
Diese traurige Bilanz war absehbar. Der Hysterie um die Thesen Thilo Sarrazins zu den Möglichkeiten der Integration von insbesondere muslimischen Ausländern, den negativen Anreizen des Sozialstaats, dem Zustand des Bildungssystems und den demographischen Aussichten Deutschlands, sind keine Taten gefolgt. Parteipolitisch hat sich keine Alternative ergeben und die überwältigende Zustimmung verpuffte ungenutzt.
Dennoch hat die Sarrazin-Debatte den Raum der freien Rede erweitert, weil Sarrazins Gegner ihr Ziel, ihn in den sozialen Tod zu treiben, nicht erreicht haben. Die Hürden der Meinungsfreiheit wurden drastisch vor Augen geführt. Entscheidend wird sein, daß das dadurch erreichte Niveau verteidigt wird. Die neue Studie des Instituts für Staatspolitik widmet sich deshalb der Analyse der Folgen der Sarrazin-Debatte sowie der Frage nach der parteipolitischen Nutzbarkeit von Sarrazins Triumph. Sie wird durch eine umfangreiche Chronik der Ereignisse seit der Buchveröffentlichung sowie eine kommentierte Bibliographie der Sekundärliteratur ergänzt. Die Studie erscheint im September und kann hier vorbestellt werden.
Institut für Staatspolitik (Hrsg.): Ein Jahr nach Sarrazin. Eine Debatte und ihre Folgen, 40 Seiten, geheftet, 5 Euro (Wissenschaftliche Reihe; Heft 18).