daß eine Nation eine Regierung hat. Und das ist in der Tat die richtige Antwort, denn das erste, was einem an einer Nation auffällt, ist die Tatsache, daß sie aus einem Volk mit einer eigenen Regierung besteht.
Hieran schließen natürlich tiefgehendere Überlegungen: Fragen der Geographie, Rasse, Geschichte, die alle zur Entwicklung einer Nation, eines Volkes mit einer Regierung, beitrugen. Deshalb ist die entscheidende Frage des modernen Europas, ob wir uns eine europäische Regierung wünschen oder nicht. … Etwas derart Großes kann nicht ohne eine echte Einheit bewerkstelligt werden. Und eine echte Einheit bedeutet eine europäische Regierung für eine europäische Nation. Wir müssen jetzt als Europäer denken, fühlen und handeln.“
Wer hat das geschrieben? Es mag überraschen: diese Worte stammen aus Oswald Mosleys Schrift The Alternative aus dem Jahr 1947. Mosley war der politisch glücklose Führer der britischen Faschisten, der allerdings nicht selten ein prophetisches Gespür bewies. Auf der Verliererseite des Weltbürgerkriegs gelandet, begriff er schon früh, daß womöglich Europa als Ganzes den Krieg verloren hatte. Tatsächlich war auch seine Spielart des Faschismus aus der Erfahrung des 1. Weltkrieges geboren: nie mehr sollten die europäischen Brüdervölker übereinander herfallen.
Und doch war das Schreckliche ein zweites Mal passiert, um ein Vielfaches gesteigert. Die dominierenden Weltmächte waren nun die USA und die Sowjetunion, die den Kontinent unter sich aufteilten; in den folgenden Jahrzehnten verlor das britische Königreich rapide an Macht und Ausdehnung. Mosley argumentierte, daß Europa in künftigen globalen Entwicklungen nur dann konkurrenzfähig bleiben könne, wenn es sich zu einer übergreifenden Nation zusammenschließe. Mehr noch: die Ressourcenfrage wollte er durch die Bildung eines euro-afrikanischen Blocks lösen.
Das war für 1947 recht kühne Zukunftsmusik. Heute sind ähnliche Ideen in greifbare Nähe gerückt. Statt „Eurafrika“ wird die Bildung eines „Eurabia“ angesteuert, und schon tauchen die ersten Schatten eines europäischen Zentralstaates am Horizont auf. Mosley schwebte allerdings mehr ein Europa der Völker als ein Europa der Konzerne und Kommissare vor. Diese “Nation Europa” zu schaffen wäre aber vermutlich eine unlösbare Aufgabe gewesen: denn natürlich reicht die Installierung einer Regierung allein nicht aus, um eine Nation zu begründen.
Da scheint es um einiges einfacher zu sein, die Nationen Europas in eine Art Sowjet-Union zu zwängen, wie es eben in Brüssel geschieht. In einem Interview mit der österreichischen Presse meinte Sarrazin, daß ein solches System, so miserabel es auch sei, durchaus jahrzehntelang bestehen könne. Andere sehen die laufenden Entwicklungen wohl eher wie Stefan George, der vor der Apokalypse von 1914 dichtete:
Ihr baut verbrechende an maass und grenze:
“Was hoch ist kann auch höher!” doch kein fund
Kein stütz und flick mehr dient .. es wankt der bau.
Und an der weisheit end ruft ihr zum himmel:
“Was tun eh wir im eignen schutt ersticken
Eh eignes spukgebild das hirn uns zehrt?”
Der lacht: zu spät für stillstand und arznei!
Zehntausend muss der heilige wahnsinn schlagen
Zehntausend muss die heilige seuche raffen
Zehntausende der heilige krieg.
Wie auch immer es kommen mag: optimistisch vermag niemand so recht zu sein, und vor allem fehlt eine wahrhaft positive Vorstellung, wie dieses künftige Europa denn aussehen solle. Nun kommen vielmehr seine Totengräber mit dem orwellianischen Sprachgebrauch zum Zug. Nicht alle sind dabei so deutlich wie der UN-Migrationsbeauftrage Peter Sutherland, der „die Hüte von UN, Goldman Sachs, Bilderbergern, BP, London School of Economics, GATT, WTO, EU-Kommission, Trilateraler Kommission und European Round Table“ trägt, als er unlängst die EU offen aufforderte, die „nationale Homogenität“ der Mitgliedsländer „zu untergraben“.
Der 1921 in Breslau geborene Historiker Walter Laqueur ist schon seit langem der Ansicht, daß Europas letzte Stunde geschlagen hat. In seinem neuen Buch „Europa nach dem Fall“ prophezeit er nun auch das baldige Ende der „Euro-Zone“ . Von einer echten politischen und wirtschaftlichen Einheit und Stärke sei Europa weiter entfernt denn je – wenn nun Deutschland aufgefordert wird, große Teile seiner Souveränitätsrechte abzugeben, dann werden diese auf ein keineswegs souveränes politisches Gebilde übertragen:
Es steht zweifelsfrei fest, dass Asien bei der neuen Weltordnung ein bedeutender Veränderungsfaktor sein wird. Was wird Europas Rolle sein? Asiatische Diplomaten sprechen von der EU oft mit einer Mischung aus Herablassung und Unglauben. Europa ist aus ihrer Sicht ausgebrannt, eine Zollunion, die nie ernsthafte Absichten hatte, eine globale Macht zu werden. Sie finden es seltsam, dass Europa sich seiner geschwächten Position auf der Weltbühne nicht bewusst zu sein scheint und sich nicht damit abgefunden hat. Von westlichen Ermahnungen, den Menschenrechten größere Aufmerksamkeit zu widmen, sind sie nicht einmal beleidigt; sie ignorieren sie schlichtweg.
Die Eurokrise bestärkt die Asiaten nicht gerade darin, ihre Haltung zu verändern. Doch auch wenn man sich nicht mit der europäischen Finanzpolitik beschäftigt, so gibt es kaum Argumente, mit deren Hilfe den Asiaten widersprochen werden könnte.
Solange Europa beispielsweise keine gemeinsame Energiepolitik hat, wird es nicht Herr seines eigenen Schicksals sein und es schwer haben, auf den Weltmärkten zu konkurrieren. Ohne eine gemeinsame Verteidigungspolitik wird Europa noch weniger auf der internationalen Bühne zählen. Es wird unfähig sein, mit regionalen Konflikten zurechtzukommen, gar nicht zu reden von der drohenden Verbreitung von Massenvernichtungswaffen – und dies gehört zu den expliziten Aufgaben der europäischen Sicherheitsstrategie.
Europa mag noch geringfügige “Polizeiaufgaben” durchführen können, aber keinen Krieg. Bis 2020 oder 2030 könnten die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und die Existenz von gescheiterten Staaten in der Nähe der europäischen Grenzen, also in Nordafrika und im Nahen Osten, durchaus eine ernsthafte Bedrohung darstellen, und Europa wird vielleicht nicht mehr unbegrenzt auf die Nato zählen. Doch gegenwärtig besteht kein politischer Wille, die notwendigen Verteidigungskräfte für die bevorstehenden Gefahren bereitzustellen.
Für die Zukunft der Europäischen Union sieht Laqueur „drei mögliche Szenarien“:
Sie wird auseinanderfallen, sie wird wie bisher “weiterwursteln” oder sie wird eine viel stärkere Einigung und Zentralisierung erleben als in der Vergangenheit. (…) Das “Durchwursteln” ist wahrscheinlich keine ernsthafte Option für die weiteren Jahre, es sei denn, eine Spaltung wird in Kauf genommen, wobei einige Staaten sich aus der EU verabschieden und führende Wirtschaftsmächte darin verbleiben – oder der Euro wird abgeschafft. Doch eine Europäische Union ohne eine gemeinsame Währung wäre keine wirkliche Union zu nennen.
Eine „stärkere Einigung“ sei allerdings kaum wahrscheinlich, auch nicht durch ein festeres Zusammenzurren der wirtschaftlichen Organisation:
Wenn eine solche wirtschaftliche Verwaltung zustande kommen sollte, wäre dies in gewisser Weise eine politische Regierung. Das wäre ein großer Schritt nach vorn, aber wie würde es funktionieren? Stünde diese Regierung nicht vor all den Schwierigkeiten, denen sich eine Koalitionsregierung gegenübersähe, die nicht aus zwei oder drei politischen Parteien, sondern aus 27 besteht? Oder wäre sie unabhängig von den einzelnen Nationalstaaten, was im Augenblick schwer vorstellbar ist?
Es sieht nicht so aus, als ob Europa diesen grundlegenden Wandel hinbekäme. Die Loyalität der Europäer hat jahrhundertelang dem Nationalstaat gegolten, während die Idee einer europäischen Solidarität jüngeren Datums ist. Die Unterschiede in Weltanschauung, Kultur und Lebensart zwischen den Ländern sind beträchtlich.
Es gibt keine gemeinsame Sprache und wenig Vertrauen. Niemand ist bereit, souveräne Rechte an eine Zentralmacht abzugeben, die kein großes Zutrauen erweckt und wenig Führungsqualitäten gezeigt hat. Der Niedergang Europas lässt sich vor allem als ein Niedergang des Willens und der Dynamik interpretieren.
Das sind Spengler’sche Töne, die Laqueur noch weiter konkretisiert:
In der Geschichte hat manchmal der Aufstieg einer neuen Generation zu einer radikalen Umkehr geführt, da die Jugend nach den Worten des Philosophen Martin Buber die immerwährende Glückschance der Menschheit ist. Nicht so im Europa der Gegenwart und Zukunft.
In Europa wird in den kommenden Jahrzehnten der Bevölkerungsanteil der jungen Leute schrumpfen, weshalb der Kontinent aufgrund der niedrigen Fruchtbarkeitsrate bei gleichzeitig höherer Lebenserwartung altern wird. Laut Prognosen der Europäischen Union wird nach 2015 in ganz Europa die arbeitsfähige Bevölkerung abnehmen. Gleichzeitig wird die Zahl älterer Menschen (über 65) ziemlich bald doppelt so hoch sein wie jetzt.
Schon 2030 wird ein Viertel der Bevölkerung Europas über 65 Jahre alt sein. Das wird nicht nur den Druck auf die europäischen Gesundheitssysteme und die Rentenkassen erhöhen, sondern es bedeutet auch, dass eine weitaus kleinere Anzahl junger Menschen für das Wohlergehen einer weitaus größeren Gruppe älterer Menschen wird arbeiten müssen, wenn der europäische Lebensstandard erhalten werden oder zumindest dessen rapide Absenkung vermieden werden soll.
Somit besteht die düstere Aussicht, dass der Generationenvertrag durch einen Generationenkonflikt ersetzt werden wird, insbesondere wenn die junge Generation zu einem erheblichen Anteil aus Einwanderern oder deren Kindern besteht und auch noch die Last des Schuldenbergs zu tragen hat, der durch die Wirtschaftspolitik der älteren Generationen angehäuft wurde.
Angesichts dessen klingt Laqueurs Schlußwort eher beschwichtigend:
Dennoch halte ich es für möglich, dass es in Zukunft, vielleicht sogar in der nahen Zukunft, einen neuen Anlauf geben wird, um ein geeintes Europa zu schaffen. Die Geschichte lehrt, dass nur existentielle Krisen zu einer Bereitschaft führen, radikale Änderungen vorzunehmen. Eine Sicherheit in dieser Hinsicht gibt es nicht, aber immerhin die Möglichkeit, den entscheidenden Schritt vom Nationalstaat zu den Vereinigten Staaten von Europa zu tun.
Das bleiben erstmal Spekulationen für eine Zukunft, die wahrscheinlich erst nach dem großen Zusammenbruch beginnen wird. Freilich sollte man sich schon jetzt darüber Gedanken machen, wie eine neue Europa-Idee aussehen könnte.
Einen Schritt zu schnell ist da allerdings Kamerad Felix Menzel in der Blauen Narzisse geeilt, der zu einem Zeitpunkt vom „Fetisch Nationalstaat“ spricht, an dem dieser die einzige ernsthafte Alternative gegen die Heraufdämmerung dieser „EUdSSR“ ist. Dabei begeht er einen Denkfehler, auf den ich irgendwie schon die ganze Zeit gewartet habe. Eine gute Gelegenheit, das zu klären. Irgendeiner mußte also kommen, und dieses sagen:
Von einem „Verfassungsputsch“ können sinnigerweise nur Verfassungspatrioten sprechen, die im Grundgesetz das Nonplusultra sehen und die Bundesrepublik der Jahre 1949–2012 als besten Staat feiern, den es je auf deutschem Boden gab. Diese Kritiker der aktuellen Europapolitik sind damit im schlechtesten Sinne Konservative: Sie wollen etwas aufleben lassen, was in der Vergangenheit schon nicht funktioniert hat, aber im Rückblick idealisiert werden kann.
Das kann Menzel nur in offenbar völliger Unkenntnis der Argumente schreiben, denn kein einziger der Konservativen, die vom „Verfassungsputsch“ sprechen, ist in irgendeiner Weise „Verfassungspatriot“. „Verfassungsputsch“ ist kein polemischer Begriff, sondern ein terminus technicus, der eine nicht nur illegitime sondern auch illegale Beseitigung der bisher gültigen staatlichen Fundamente beschreibt. Es geht hier nicht mehr darum, daß wie bisher gebeugt, gebrochen und durchgewunken wird, was einzelne Punkte betrifft: hier geht es nun wirklich ums Ganze.
Wenn nun die Konservativen das Grundgesetz verteidigen, dann nicht deswegen, weil sie dieses und die Bundesrepublik für ein „Nonplusultra“ halten, das um jeden Preis erhalten werden muß, sondern weil es zur Zeit der einzige lose in der Wand steckende Nagel ist, an dem die Souveränität Deutschlands noch hängt. Und wenn viele Konservative bisher zu den härtesten Kritikern des GG zählten, bis zu Kalibern wie dem selbsterklärten „Verfassungsfeind“ Günter Maschke, dann geschah das eben deswegen, weil man in ihm die Souveränität Deutschlands nicht ausreichend gewährleistet sah.
Wenn die historischen Umstände, unter denen das GG entstand, von Fremdbestimmung geprägt waren, dann ist das heute erst recht der Fall. Man kann sich leicht ausmalen, daß eine zeitgenössische Neufassung endgültig den Charakter eines bloßen Menschenrechtekatalogs annehmen würde, in dem das „deutsche Volk“ als Subjekt gar nicht mehr vorkommt.
Und zuletzt: es ist falsch, zu behaupten, daß eine scharf-kritische Darstellung der laufenden Prozesse auch nur im Entferntesten etwas damit zu tun hat, daß man den Nationalstaat – und erst recht in seiner realexistierenden Form als BRD! – „idealisiere“ oder gar “fetischisiere”. Man kann, darf und soll über eine andere Ordnung als die nationalstaatliche nachdenken. Einstweilen ist der Nationalstaat aber immer noch eine Tatsache und die wesentliche Grundlage für die politische Struktur Europas.
Und: nur dadurch, daß seine Repräsentanten ihre Souveränität abgeben, ist der Nationalstaat als politische Einheit ja noch nicht aufgelöst. Er hat lediglich den Hausbesitzer gewechselt, der nun die Mieten erhöht, den Strom abzapft, die Fassade neu bemalt und nach Belieben und gegen den Willen der Altmieter neue Bewohner ansiedelt, solange, bis nur mehr das Gehäuse steht, der Inhalt aber ein völlig anderer ist.
Freilich hat Menzel recht, daß die Nation dem Nationalstaat vorangeht und ihn auch überdauert: „Deutschland jedoch hat es vor der Epoche des Nationalstaates gegeben und wird es auch nach dieser Epoche geben.“ Letzteres ist allerdings nach dem Stand der Dinge nicht mehr gar so sicher, wozu wohl auch Walter Laqueur beipflichten würde. In der jetzigen Lage hat es keinen Sinn, vom „Fetisch“ Nationalstaat zu sprechen, wo er doch eher von den Propagandisten der powers that be zum Buhmann ernannt wird, damit er als Melkkuh gefügig gemacht werde.
Inselbauer
Geschätzter Herr Lichtmesz, es spricht ein wenig unnötige Herablassung aus Ihrer "Analyse" des "Denkfehlers von Kamerad Menzel". Da ich mir vorstelle, dass das nicht persönlich gemeint ist, erscheint mir diese Haltung auch als Versuch, das peinliche Moment des Eintretens für das Grundgesetz abzuwehren; man erwischt sich ja selber immer wieder bei dieser Peinlichkeit! Herr Menzel hat hier etwas getroffen, das man mit Vernünfteln nicht wegbringt.
Vielleicht sollte man daran denken, dass es auch kein Verfassungsputsch ist, was wir erleben, sondern die Überdehnung der alten "Modalität einer Fremdherrschaft". Als Jurist hatte ich in den letzten Tagen immer wieder den Eindruck, dass hier ein Nationalstaat sich selbst auf einer verfassungsjuristischen Ebene selbst um die Ecke bringen soll, er das aber nicht kann, weil er kein Nationalstaat ist und keine Verfassung hat. Zum Selbstmord nicht frei genug, würde man salopp sagen!
Man wird sich am Ende eine echte Verfassung geben müssen und ein Nationalstaat werden müssen, um sich als solcher endgültig auflösen zu können.
M.L.: Der Denkfehler bleibt aber ein Denkfehler, weil kein einziger derjenigen Konservativen, die vom "Verfassungsputsch" sprechen, ein "Verfassungspatriot" ist oder gar idealisierende Gefühle gegenüber der BRD hegt. Der "Verfassungsputsch" ist ein terminus technicus, es ist herzlich egal, was für eine Meinung man sonst noch zum GG hat. Ich weiß nicht, wie oft ich es noch wiederholen muß: es geht nicht um das GG an sich, es geht um den Nagel, an dem die Souveränität hängt; außerdem um die Offenlegung der Heuchelei der herrschenden Klasse, die bisher so emsig "Verfassungsfeinde" verfolgt hat.