Um die Personen unkenntlich zu machen, habe ich ein paar persönliche Details geringfügig verändert. Ich überlasse es dem Leser, aus diesen Alltagsminiaturen seine Schlüsse zu ziehen.
I.
Eine Frau, etwa dreißig Jahre alt, zweifache Mutter, betritt eine Filiale einer bekannten Bäckereikette. Hinter dem Tresen steht eine junge türkische Frau mit Kopftuch. Die Kundin grüßt, wie das in Österreich so üblich ist: “Grüß Gott!” Die junge Frau verzögert die Antwort einen Sekundentick, und sagt dann, deutlich prononciert: “Guten Tag.” Die Kundin erzählt später, sie habe das starke Gefühl gehabt, die Verkäuferin habe das absichtlich getan, um etwas zu demonstrieren. Aber was? Daß sie als Moslemin nicht “Grüß Gott” sagen will? Ob die Kundin nicht übertreibt, vielleicht nur gerade gereizt war und sich das eingebildet hat? “Vielleicht, aber es ist trotzdem irritierend…” Wäre sie auch irritiert gewesen, wenn die Frau kein Kopftuch getragen hätte? “Nein, wahrscheinlich nicht!”
II.
K., ein alter Bekannter aus wilden Zeiten, bemerkt, daß inzwischen in fast jedem Wiener Straßen- oder U‑Bahnabteil, das er betritt, mindestens eine moslemische Frau mit Kopftuch oder Schleier und langen, dunklen Kleidern sitzt, in der Regel mit Kinderwagen und zwei, drei weiteren Kindern neben sich. Er habe sich lange eingeredet, daß ihn das nicht störe, die Wiener U‑Bahn sei schließlich voll mit Gestalten, die einen viel unangenehmeren Anblick bieten. Aber inzwischen müsse er sich eingestehen, daß ihm dieses sich häufende Szenenbild doch anfange, auf die Nerven zu gehen. Warum? Er überlegt.
“Ich kann mir nicht helfen, wenn sich jemand so deutlich anders kleidet, als die Menschen, unter denen er lebt, dann hat das, ob beabsichtigt oder nicht, eine unterschwellig polemische und provokative Wirkung. Es strahlt Arroganz und bewußte Abgrenzung aus. Wenn dann die fürchterlichen rabenschwarzen Ganzkörperverhüllungen dazu kommen, die auch optisch aufdringlich sind, oder sogar das Gesicht von einem Schleier bedeckt ist, macht das auf uns unweigerlich einen gespenstischen, geradezu passiv-aggressiven Eindruck.” Und er fügte hinzu: “Das erinnert mich, wie ich als Jugendlicher Punkergrufti war. Ich und meine Freunde haben es genossen, wenn uns die Leute blöd angesehen oder sich geärgert haben. Das war ja auch unsere Absicht. Wir wollten gar nicht ‘toleriert’ werden. Unsere Iros und Klamotten waren pure Polemik und Mittelfingerausstrecken gegen die Normalos.”
Na gut, aber diese bewußte Absicht werden die meisten Moslems doch kaum haben, für sie ist das eben “normal”. “Hm, naja, ehrlich gesagt, bisher dachte ich das auch, aber inzwischen weiß ich das nicht mehr so genau. Wenn sich zum Beispiel Pierre Vogel als Deutscher einen seltsamen Bart rasiert und in ein Nachthemd schlüpft, dann will er damit ja etwas aussagen, sich auch visuell absetzen. Und diejenigen, die sich so kleiden, weil es eben in ihren Heimatländern üblich ist, müssen doch auch spüren, daß sie in einem anderen Land eben nicht mehr ’normal’ aussehen, daß sie, wenn sie in dieser Kleidung auf die Straße gehen, ein Spannungsfeld erzeugen, das sich innen wie außen aufbaut… irgendwann ziehen sie sich vielleicht wirklich mit einem Gefühl von Trotz und Verachtung so an. Und das spüren dann wiederum die anderen, reagieren gereizt, mißtrauisch und ablehnend, und der Teufelskreis dreht sich weiter.”
III.
Ein fünfundsechzigjähriges Ehepaar, das in der ausländerarmen Provinz wohnt und gerne Urlaub in der Türkei macht, fährt auf Sommerfrische an den Wolfgangsee im Salzkammergut. Sie sind etwas überrascht über die recht hohe Anzahl von moslemischen Frauen, die sie dort sehen, ebenso wie wohl die zahllosen japanischen Touristen, die vor der imposanten alpinen Kulisse wahrscheinlich eher die Trappfamilie in Technicolor erwartet haben.
Am Ufer des Sees bietet sich ein Anblick, der die beiden etwas schockiert. Dort sitzt eine moslemische Frau, trotz der Hitze von Kopf bis Knöchel in wallendes, traditionalistisches Schwarz eingehüllt, zusammen mit einer zweiten, älteren, die “normal” westlich gekleidet ist. Das Gesicht der Frau ist völlig verhüllt, nur zwei helle Augen lugen hinter dem Schleier hervor. Der fremdartige Eindruck verstärkt sich noch, als sie in einem perfekten, akzentfreien Norddeutsch zu sprechen beginnt. Es stellt sich heraus, daß es sich offenbar um eine deutsche Konvertitin mit ihrer unkonvertierten Mutter handelt. Die Szene wirkt reichlich bizarr; nichts scheint hier zusammen zu passen.
Im See baden die drei Töchter der Konvertitin, allesamt mit “südländischem” Einschlag, ungefähr zwischen 9–12 Jahre alt, ebenfalls mit Kopftüchern, die die Haare vollständig verbergen, vor allem aber vollständig bekleidet, mit langen Ärmeln und Strumpfhosen, obwohl sie mitten im Wasser stehen. Ein kleiner Junge ist ebenfalls dabei, dieser ist aber ganz normal in eine Badehose gekleidet. Die eingangs erwähnte Zeugin der Szene spürt unwillkürlich Ärger in sich aufsteigen: was für ein bodenloser Schwachsinn, Kinder bekleidet ins Wasser zu schicken! Unbegreiflich ist ihr auch,wie eine Frau, die nicht in der islamischen Kultur aufgewachsen ist, sich freiwillig in eine solche Montur werfen kann.
Die Zeugin wendet sich von dem Schauspiel ab und der Gebirgs-und Seeszenerie zu. Sie packt ihre Digitalkamera aus und beginnt Fotos zu machen. Plötzlich kommen die drei Mädchen auf sie zu, und bitten höflich, aber bestimmt, Respektabstand zu wahren: “Bitte machen Sie keine Fotos von uns, wir wollen das nicht, daß man uns fotographiert.”
IV.
Eine etwa dreißigjährige, völlig unpolitische, kinderlose Physiotherapeutin, eine freundliche und harmlose Person aus einer niederösterreichischen Kleinstadt besucht eine Freundin (ein Kind) in Wien. Sie treffen sich auf einem Kinderspielplatz, wo sie nach einer Weile mit ein wenig Bauchweh feststellt, daß die türkischen und sonstigen Sprößlinge in der überwiegenden Mehrzahl sind. Sie wendet sich irritiert an ihre Freundin mit der eher vorsichtig geäußerten Feststellung: “Das ist ja komisch, hier hört man ja kein einziges deutsches Wort mehr.” Eine Türkin, auch sie im Kopftuch, die mit einigen anderen türkischen Müttern in der Nähe sitzt, hört diesen Satz zufällig mit. Sofort zischt sie die Sprecherin an: “Wir werden euch zu Tode gebären!”
Die junge Physiotherapeutin, konstitutionell eher ein Gutmensch, ist über diese jähe Aggressivität zu Tode erschrocken und bringt kein weiteres Wort heraus. Den Gedanken, man könne und wolle jemand anderen “zu Tode gebären”, hört sie zum ersten Mal. Wie kommt man bloß auf solche Ideen? Die Szene geht ihr tagelang nicht aus dem Kopf, bringt sie zum Grübeln. Die türkische Mutter unterschied sich äußerlich in keinem Punkt von den dutzenden anderen Mosleminen, die man täglich zu sehen bekommt.
Und wie sieht es nun innen aus? Denken viele dieser Frauen in solchen Kategorien? Und: ist es nicht beunruhigend, daß sie unsere Sprache verstehen können, wir die ihre aber nicht? Und würden wir es wagen, sie anzuzischen, wenn sie sich am Spielplatz beschweren, daß es hier zuviele einheimische, ungläubige, deutschsprechende Kinder gibt?
Zwischendurch eine Meldung aus Deutschland:
Der Vorsitzende des Islamrates in Deutschland, Aiman Mazyek, hat sich über eine angebliche Verharmlosung des Rassismus in der Bundesrepublik beklagt. Die Fremdenfeindlichkeit, der sich viele Muslime in Deutschland ausgesetzt sähen, werde „zuweilen verdrängt und kleingeredet“, sagte Mazyek.
Irgendwo in einem deutschen Büro sehe ich nun Wilhelm Heitmeyer vor mir, wie er all diese Geschichten als Beispiele für unbewußten “Alltagsrassismus” und “gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit” (der Österreicher natürlich) einsortiert. Denn all diese Betroffenen sind doch selbst schuld, wenn sie immer noch so archaisch-regressiv-nationalistische Gefühle haben, und Menschen willkürlich in “Ihr” und “Wir” einteilen, sie damit diskriminieren und ein solches Verhalten erst provozieren. Dagegen kann nur mehr Einwandererpräsenz, mehr Geld und mehr Umerziehung von oben helfen!