Würden wir in Anbetracht der aktuellen Umstände gleichfalls die konsequente Deregulierung wollen, die radikale Durchsetzung total freier Marktwirtschaft und den Verzicht auf sozialpolitische Maßnahmen? Immer mehr von mir sehr geschätzte Stimmen treten, wie ich lese, genau dafür ein.
Ich empfinde es reflexartig als unangenehm, wenn Sieger sich prononciert als Sieger darstellen und aus diesem satten Selbstwertgefühl dem Verlierer schnell einen endogenen Defekt beilegen, der nur sozialdarwinistisch reguliert, also wohl ausgemerzt werden müßte. Krankenkassen, Solidargemeinschaft, Transfers an Bedürftige, Kultursubventionen, Sprachpflege, Naturschutz – alles neuerdings schrill als Sozialismus, Sowjetunion, Stagnation und Niedergang verunglimpft!
Ich verstehe schon, was die „American Austrians“ um Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek wollten. In Kurzfassung radikalen Individualismus, der mit seinen freien Wahlentscheidungen gemäß Marktgesetzen alles dem Nachzuordnende selbstlaufend regelt. Den starken Produktiven, den Leistungsträgern, vor allem dem Komfort der satten Erben nützt das. Aber zieht es alle mit oder hängt es viele ab? Läßt sich damit Staat machen? Ist das konstitutiv?
Ja, ich weiß, die Transfer-Gesellschaft schützt in Ermangelung profitabler Arbeit Faulheit und fördert in bestimmten Exklusionsbereichen eine erschreckende Degeneration. Aber wir sind nicht wie die USA in Abwehr staatlicher Unterdrückung zur Nation geworden; unsere Nation gab dem Kapitalismus, dem Liberalismus, der Sozialdemokratie Möglichkeiten und Rahmen. Wesentlich dafür waren Preußen und Bismarck, mit dem sich die Kapitalisten, die Liberalen, die Sozis und die Kirchen auseinanderzusetzen hatten. Als es noch um Staatsideen ging. Ein Staat, eine Nation gar, war mal mehr als ein Markt.
Die allermeisten derjenigen, die sich in Amerika gerade um Ayn Rands bereits 1957 entstandenen Roman „Atlas Shrugged“ und dessen aktuelle Verfilmung scharen, dürften ihren Reichtum nicht klassisch kapitalistisch, also weniger wert- , dafür um so mehr gewinnschöpfend erworben haben, durch Finanz-Cleverness, innovative Transaktionsmethoden, begleitet von den enormen Möglichkeiten informationsverarbeitender Systeme. Ja, höre ich, aber das ist der Neue Markt! Er war grundsätzlich nie anders, nur die Maschinen sind effizienter. Insbesondere die Rechenmaschinen.
Die Philosophie Ayn Rands, ihr „Objektivismus“, von dem inspiriert Vize-Kandidat Paul Ryan überhaupt erst in die Politik gegangen sein will: „Verfolgung des eigenen rationalen Eigeninteresses und des eigenen Glücks als höchster moralischer Zweck des Lebens.“ – Wie das zum Christentum, dem Engagement für Lebensschutz und überhaupt zum rigorosen Moralismus genau derselben Persönlichkeiten paßt, erschließt sich mir nicht.
Die schwersten Neureichen haben mit Sicherheit viel riskiert. Oder sie haben einfach gut geerbt. Alles statthaft. Noch nie waren solche Schätze zu akkumulieren wie zwischen 1997 und 2008; noch nie konnte man gleichzeitig derart tief stürzen. Wo es unanständigen Reichtum gibt, gibt es nun mal ebenso unanständige Armut. Höchstes Vermögen, egal wie erworben, wird grundsätzlich als der Lohn harter Arbeit verstanden. Ganz calvinistisch: Gott wird den Tüchtigen belohnen und den Müßiggänger bestrafen. So wie man zum Heil und zum Erfolg positiv prädestiniert ist, widerfährt es einem in der Armut negativ. That’s life! Let the failures fail.
Wem diese Logik unangenehm ist, der wird, wenn er simpel daherschwätzt, als Neid-Diskutierer abgetan, wenn er nachdenklicher argumentiert, als „Klassenkämpfer“ verdächtigt. Ich selbst gehöre vermutlich zu den Milieugeschädigten.
Zum einen, weil ich lange Jahre den Nachwuchs der sehr Vermögenden an einem sogenannten Elite-Internat ausgebildet habe und so die freilich subjektive Erfahrung gewann, daß elitär daran vor allem ein enormes Schulgeld für Bildung als Dienstleistung war und es – viel, viel mehr als je tatsächlich um Bildung – um ein Menschenbild ging, das unter weitgehendem Verzicht auf traditionell bürgerliche Werte etwa den oben skizzierten Haltungen und Erwartungen entsprach.
„Elite“ wurde weniger ausgebildet als per se dazu deklariert. Mit viel Cheerleader-Jubel. Wichtigste Schulprojekte: Börsenclub und Golf. Ich half dabei, eine supercoole, also kaltherzige Generation für deren elterliches Geld durch die Schule zu bringen, von vornherein sehr selbstbewußte junge Leute, die sich bislang wenig erarbeiteten bzw. verdienten, die oft genug von der Bezahl-Privatschule zur Bezahl-Privatuni wechselten, die sich aber um so sicherer darin sind, ein Recht auf alles zu haben, während die anderen – selbst schuld! – die Loser bleiben werden. Jedem Abiturjahrgang wird eine Anzeige in den allerersten Wirtschaftsblättern geschaltet, die neben dem hochgehaltenen Notenschnitt die Bitte, nein die Forderung ausweist: „Namen, die sie sich als Arbeitgeber merken sollten!“
Zum anderen, weil ich nicht verstehen kann, weshalb in unserem Fall ein Land, das keinesfalls mehr eine Nation und schon gar kein Vaterland sein möchte, sich hier einen quasi-ideologischen und völlig illusionären Wunsch-Überbau herdichtet, nach dessen Maßgaben jeder wertvoll, jeder ein Talent, niemand zu diskriminieren oder gar bildungspolitisch zu selektieren ist, dort aber ökonomische und finanzpolitische Regularien schafft, die immer größere Teile des Volkes deklassieren. Wobei ich weiß, daß von Volk besser auch nicht mehr die Rede sein soll.
Woher käme noch Kraft? Carl Schmitt diagnostizierte in einer wesentlichen Parlamentarismus-Analyse von 1923: „Bei der modernen Bourgeoisie, dieser in Angst um Geld und Besitz verkommenen, durch Skeptizismus, Relativismus und Parlamentarismus moralisch zerrütteten Gesellschaftsschicht, ist sie gewiß nicht zu finden. Die Herrschaftsform dieser Klasse, die moderne Demokratie, ist nur ‚eine demagogische Plutokratie’“.
Fundamentalismen sind mir so oder so unheimlich, religiöse ebenso wie ökonomische.
Ernstfall
Die USA können mangels Homogenität kaum als Solidargemeinschaft funktionieren. Auch in Deutschland haben Steuerzahler, die bereit sind mit ihnen z.B. durch Herkunft und Kultur verbundene Menschen zu unterstützen, größere Hemmungen, dies gleichermaßen bei Menschen zu tun mit denen sie nichts oder wenig verbindet.
Hinzu kommt, daß die ethnische Trennlinie zwischen Leistungsträgern bzw. Steuerzahlern und Transferempfängern in den USA noch viel deutlicher ausgeprägt sind als in Deutschland. Der Wirtschaftsliberalismus eines Romney spricht konsequenterweise hauptsächlich weiße Wähler an, die nicht einsehen, warum sie für Menschen arbeiten sollen, die sie zunehmend verdrängen, durch ethnische Quoten ("affirmative action") etc. staatlich privilegiert werden und sie zum Dank für die erbrachten Leistungen auch noch des Rassismus bezichtigen. Da weiße Interessen (anders als schwarze oder hispanische und andere Interessen) in den USA nicht ohne Rassismusverdacht artikuliert werden können, verbirgt man sie eben hinter scheinbar farbenblindem Wirtschaftsliberalismus.