Camilla Kaul wendet sich bei ihrer Analyse dieses Zusammenhangs ausdrücklich gegen die Tendenz, die sachliche Unrichtigkeit oder die absichtsvolle Präsentation der Überlieferung immer und immer wieder zu „entlarven”. Es gehe eben nicht um „Dekonstruktion”, sondern darum, die außerordentliche Leistung des „kulturellen Gedächtnisses” – Assmann dixit – zu würdigen, das einen Stoff der Geschichte aufnahm und in eine Perspektive brachte, die Identität in der Gegenwart ermöglichte. Identität entstehe für das Individuum wie für das Kollektiv durch große Erzählungen, die sich bevorzugt an positiven Ereignissen orientierten.
Hier wäre allerdings der Einwand möglich, daß der Kyffhäuser-Mythos – also die Sage vom Staufer Friedrich Barbarossa, der gar nicht auf dem Kreuzzug gestorben sein sollte, sondern in den Berg im Thüringischen entrückt wurde – keine Heldengeschichte im eigentlichen Sinn war, jedenfalls keine Erinnerung an einen militärischen Triumph oder die Befreiung von tyrannischer Herrschaft, sondern der Vorstellung vom rex vivit et non vivit – dem „König, der lebt und nicht lebt” zuzuordnen ist, jener Hoffnung auf einen messianischen Führer, die viele Völker kannten. Dieser Aspekt ist der Verfasserin eher fremd, obwohl sie sonst Aufmerksamkeit für die Wirkung der „Volksphantasie” zeigt, die schon dafür sorgte, daß die mittelalterliche Überlieferung und der lokale Bezugspunkt der Kyffhäuser-Sage die Basis für eine Tradition bildeten, die weit über den beschränkten Rahmen hinauswirkte.
Die erwähnten Zusammenhänge geben wie die Rezeption der staufischen Kaiserzeit nur den Hintergrund der Untersuchung von Camilla Kaul, der es um die Art und Weise geht, wie im neunzehnten Jahrhundert, dem eigentlich nationalen Zeitalter, die Figur Barbarossas im Kyffhäuser aufgefaßt und populär gemacht wurde. Der Prozeß läßt sich in drei Phasen einteilen, die parallel zur politischen Gesamtentwicklung abliefen: Nach einer Vorgeschichte, die ihren Ursprung im romantischen Frühnationalismus hatte, setzte eine breitere Rezeption mit der napoleonischen Epoche ein und dauerte den Vormärz hindurch bis zur Revolution von 1848, dann folgte ein zweiter Abschnitt bis zur Reichsgründung, schließlich ein letzter, „reichsaffirmativer”, in der Zeit nach 1871. Wichtig ist der Hinweis darauf, daß ursprünglich die Beschäftigung mit der historischen Person Friedrich und der Problematik der staufischen – ghibellinischen – Reichsvorstellung eine größere Rolle für die nationale Geschichtsvorstellung hatte als der Kyffhäuser-Mythos.
Der drang nur allmählich in die Motive von Dichtung und Literatur ein und spielte dann vor allem eine Rolle für die bildliche Umsetzung – in Zeichnungen, Gemälden, Plastik, aber auch in den „lebenden Bildern” von Festumzügen – und die Entstehung einer Ikonographie, die zuletzt durch einen hohen Grad an Standardisierung gekennzeichnet war: Neben dem Kaiser mit dem langen Bart, dem mittelalterlichen Ornat, Krone und Schwert, sind regelmäßig die Raben zu sehen, die ihm bei seinem Erwachen alle hundert Jahre berichten, wie es um Deutschland steht. In einem Katalogband zu dem Buch Camilla Kauls sind viele Belege zusammengetragen und wiedergegeben, auch wenn die technische Qualität gelegentlich zu wünschen übrigläßt.
Eingesetzt wurde das Barbarossa-Motiv im engeren Sinn symbolisch – neben anderen Sinnbildern der Nation wie Germania, Eiche oder Adler – vor allem im Vormärz, während und nach der Revolution auch als Zentralelement von Karikaturen, dann bevorzugt historisierend und allegorisch. War der Bezugspunkt bis zur Reichsgründung die Sehnsucht nach Erneuerung und Stärke eines deutschen Gesamtstaates, seltener der Spott über die Tatenlosigkeit einer Nation, die immer auf übermenschliche Führer wartete, wurde nach 1871 ein „genuin der bürgerlichen Nationalbewegung entsprungenes Bild” so umgesetzt, daß es primär der Integration der Nation diente. Dieser Vorgang kam sinnfällig in der Gleichsetzung „Barbarossa” = „Barbablanca” / „Rotbart” = „Weißbart” zum Ausdruck, jener Identifikation des großen Staufers mit dem ersten Kaiser aus dem Hause Hohenzollern, Wilhelm I. Trotz der starken Vorbehalte in der Geschichtsschreibung der Zeit gegenüber der (Italien-)Politik der Staufer gab es offenbar eine Anknüpfungssehnsucht, die zumindest das Selbstbild dominierte und der Vorstellung entsprach, die Hohenzollern hätten vollendet, was die „Hohenstaufen” begannen.
Zeitgleich mit diesem Prozeß vollzogen die eigentlichen Träger der Nationalbewegung – Sänger, Turner und Studenten – eine konservative Kehre, mit der sie von einer opponierenden zu einer staatstragenden Funktion übergingen. Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang nicht nur die Errichtung des monumentalen Kyffhäuser-Denkmals, das 1896 feierlich eingeweiht wurde und ursprünglich der Veranstaltung großer Nationalfeiern als Kulisse dienen sollte, oder das Bildprogramm der aufwendig restaurierten Goslarer Kaiserpfalz, sondern auch das stereotype Nebeneinander der Kaiser Friedrich und Wilhelm im figurativen Schmuck zahlreicher Rathäuser West- und Mitteldeutschlands, dem sichtbaren Ausdruck eines neuen Bürgerstolzes.
Camilla Kaul betont zu Recht, daß Langlebigkeit und Wirkmächtigkeit für die Plastizität des Kyffhäuser-Mythos sprechen. Es gehört zum Wesen des Mythos, daß er sich neben der Historiographie behaupten kann und keine feste Lehre ausbildet, die mit anderen in Widerspruch geraten könnte. Anders als die wissenschaftliche Geschichtsschreibung ist der Mythos eine Sinndeutung. Deshalb gehörte der Kyffhäuser- wie der Staufer-Mythos überhaupt zu den zentralen Faktoren im Selbstverständnis der deutschen Nation. Die vorliegende Untersuchung hat zur Klärung dieses Zusammenhangs durch die notwendige Ausbreitung des Materials einen entscheidenden Beitrag geleistet. Damit ist sie vielen anderen kurzatmigen Veröffentlichungen weit überlegen, die sich in den beiden letzten Jahrzehnten mit nationalen Mythen und Symbolen, „Erinnerungsorten” und „Gedächtnispolitik” befaßten, aber immer nur hastig zu Interpretationen kommen wollten, ohne sich lange aufzuhalten mit dem, was ist.