Natürlich würde auch ich mir und uns einen Stapel Fortsetzungsromane von Sophie Dannenbergs Das bleiche Herz der Revolution wünschen, es gibt ihn nicht. Kubitscheks Belletristikspalte in der Sezession halte ich für einen sehr passablen Wegweiser durch die belletristischen Neuerscheinungen:
Begonnen mit Kaiser-Mühleckers Der lange Gang über die Stationen über Iris Hanikas Das Eigentliche, Dieter Wellershoffs Der Himmel ist kein Ort bis zu Leif Randts Schimmernder Dunst über Coby County, daneben Mosebachs Was davor geschah und Timur Vermes Er ist wieder da (Rezension in der kommenden Sezession). Ist das nicht Lesestoff, der einen weiterträgt? Nicht politisch genug? Die Klage scheint direkt aus dem Wolkenkuckucksheim an mein Ohr zu gelangen.
Mit der Kinder- und Jugendliteratur sieht es meines Erachtens viel ärger aus, zumindest, wenn man nach Neuerscheinungen äugt. Oder auch, mit Rückwärtsblick, drüber hinaus. In der Stadtbücherei, bei der wir Kunde sind und als große Familie allein an Kinderliteratur etwa 100 Titel pro Jahr ausleihen, mustern sie die Klassiker sukzessive aus. Winnetou? Black Beauty? Muß eigens auf eine Wunschliste gesetzt werden, ist längst aus dem Programm genommen und zu 50 Cent verhökert worden, gilt als nicht mehr aktuell. Die Damen an der Entleihtheke, die ich fragte, mit welchem Grund in den letzten Jahren derart tabula rasa gemacht worden sei, verdrehten die Augen. „Wundert uns auch. Haben wir nichts mit zu tun. Die Bibliothekare, die hier das Sagen haben, sind zwei Generationen jünger als wir. Da ist das wohl so.“ Von Enid Blytons Fünf Freunden sind nurmehr die gegenderten Versionen (wo auch die Jungs den Abwasch besorgen und die Eltern entspannter agieren) entleihbar. Und die neuen Jugendbücher sind vor Jahren mittels Etiketten kategorisiert worden, die Leitbegriffe lauten „Drogen“, Nationalsozialismus“, „Psych. Probleme“.
Noch einen Schritt weiter geht die Leitung der Bonner Zentralbibliothek.
Sie erarbeitet gemeinsam mit dem Verband binationaler Ehen und Partnerschaften eine Positivliste. Darauf stehen Kinder- und Jugendbücher, in denen besonders auf Geschlechterneutralität und eine wertschätzende Darstellung anderer Kulturen geachtet wird.
Gestern kamen unsere Grundschulkinder mit einer Bücherbestellliste nach Hause, die ein norddeutscher Verlag und Versandhandel regelmäßig an Schulen verteilt, nun die „Ausgabe Januar bis März“. Ich scheue mich, hier den Namen des Unternehmens aus Buxtehude zu plakatieren, weil ich davon ausgehe, daß kein böser Wille die Feder führt. Diese Leute, die unsere Kinder als Kunden gewinnen wollen, werben ganz possierlich. Man verzichtet dezidiert auf „Gewaltverherrlichendes“ und Inhalte, die „offene Sexualität“ austragen, das ist artig.
Lesen sei kein „alter Hut“ heißt es aufmunternd,
„Lesen ist Voraussetzung für schulischen Erfolg. Lesen ist notwendig, sich im Alltag zurecht zu finden. Lesen ist unabdingbar, um mit Menschen in Kontakt zu treten – zum Verfassen und Empfangen von SMS und E‑Mails, zum Chatten, im Internet oder zum Schreiben eines Briefes!”
Wunderbar! Was wird beworben und empfohlen? Fame School – Die große Chance: „Chloe möchte Popsängerin werden. Eine Geschichte über Schule, Freunde, Liebe und Intrigen, in der du nebenbei viel über Popmusik und das Showbusiness erfährst“. Oder Jenny – Mädchen sind schneller, dann: Heute schon geküßt, Alice: „eine lustige Mädchengeschichte, die ausnahmsweise auch Jungs lesen dürfen!“; der Sammelband Wie überlebe ich ohne Jungs und andere süße Sachen, der auch die Bände Wie überlebe ich meinen ersten Kuß und Wie überlebe ich meinen dicken Hintern? enthält. Daneben die Geschichte von Helen, die „in einen Teufelskreis von Abhängigkeit und Zurückweisung gerät“ und sich in die Haut ritzt, „um die Gefühlsleere zu ertragen“, die Geschichte von der „schüchternen Mia“, die in Power, Prinzessin! ungewollt in die „Schlagzeilen der Regenbogenpresse“ gerät, oder Tausche Landluft gegen Liebe, eine „heitere Liebesgeschichte mit Kussfaktor zehn auf der Knutschskala“.
Natürlich kommen im Prospekt auch die männlichen Jungleser nicht zu kurz, sie dürfen sich auf die Fährte von Darius und Hakan heften, die in ihrer Antifagruppe Aktionen gegen Neonazis durchführen.
Meine Kinder würden sich ernsthaft Sorgen über meinen geistigen Zustand machen, wenn ich ihnen Bücher dieses Formats anbrächte. Eine Zeitlang hatte ich mich ein wenig an den offiziösen Bestenlisten und den Titeln Jugendliteraturpreisnominierungen entlanggehangelt und mich bei Geschenkkäufen daran orienitiert . Die Kinder mochten´s gar nicht, weder die Bücher mit dem moralischen Zeigefinger (Nat. Soz. geht immer) noch die mit der betonten Coolness.
Wie groß muß die Sorge um die Alphabetisierung und die Leseunlust von Grundschülern sein, daß derlei Tinnef heute als pädagogisch nützliches Leseförderprogramm angeboten wird? Die Sorge um fehlende politische Erwachsenenliteratur erscheint mir vor dem Hintergrund nachgerade als Luxusproblem.
Kurt Schumacher
Überspitzt könnte man sagen: "Das Tagebuch der Anne Frank" und die "Bravo" - das sollen also die Kinder lesen.
Aber Ernst Jünger gibt Hoffnung: "Entscheidend ist, was die Kinder heimlich lesen; unter der Bank oder unter der Bettdecke. Darüber haben die Lehrer keine Macht." (aus "Siebzig Verweht II", von mir aus dem Gedächtnis zitiert)