Unflätige Zeichen hinter Sicherheitsglas, aggressive Drängelei, Beschimpfungen, die man von den Lippen ablesen muß, genervtes Hupkonzert. In der Unmittelbarkeit von Begegnungen ist dagegen Abständigkeit unerläßlich. Wird sie überschritten, gerät die persönliche Integrität in Gefahr. Schopenhauer beschreibt das in einer Fabel.
Für eine versehentliche Berührung des anderen entschuldigt man sich daher reflexartig sofort. Früh wird erlernt, die Aura des Gegenüber zu respektieren. Man trampelt nicht darin herum. Das ist absolutes Grundgebot von Höflichkeit und Anstand: Keep your distance! Jenseits davon beginnt das Terrain von Provokation, Brutalität, Mißbrauch.
Im abstrakten oder virtuellen Raum jedoch, also außerhalb der sensuell erlebbaren, direkten Konfrontation, verlieren zivilisatorische Regeln offenbar ihre Bedeutung, weil der Mensch sich der Verantwortung für seine Urheberschaft entbunden fühlt. Mummenschanz und Maskenball wurden daher nicht nur als spaßig erfahren, sondern ebenso als unheimlich. Wähnt der Mensch sich unerkannt und geschützt und sieht er aus sicherer Position alles, vermag aber selbst nicht erkannt zu werden, kann er erlöst oder enthemmt agieren. Reizvolle Allmacht dessen, der sich selbst als großer Unbekannter verhüllt. Der anonyme Verehrer mag ein Romantiker sein, die Sniper, Stalker und Mobber sind das allenfalls im schwarzen, hoffmannesken Sinne. Der Schutz der Vermummung verleitet manchen zur Entgrenzung. Folgerichtig avancierte die Maske der Vendetta zum Kultsymbol. Zunächst für die vermeintlich Guten. Aber dabei blieb es nicht.
Nirgendwo findet derzeit ein so bizarrer Maskenball statt wie im Netz, ein Reigen der Pseudonyme, an dessen Rand der Ring für jene eröffnet ist, die sich, stets maskiert, mal so richtig die Kante geben wollen. Gab es je eine solche Arena, in der quasi alles erlaubt ist?
Eine offizielle Polit- und Medienkultur, die notwendige und den öffentlichen Diskurs befördernde Debatten durch Sprachregelungen, stereotype Floskeln und wahlweise durch Betroffenheitsernst oder Kameralächeln vermeidet, trifft im Netz auf eine komplementäre Subkommunikation, in der verlarvte Figuren alle Fairneß vergessen und brachial austeilen, bevor sie wieder offline gehen und ihr smartes Bürosprech fortsetzen. – Sollte man anonym auf eine Weise gedeckt schreiben können, wie man wohl inkognito Pornos herunterladen oder an vernetzten Massaker-Spielen teilnehmen kann?
Der Anonymus schreibt nicht nur unerkannt die Häuserwände voll; seine Worte bleiben dort auch unauslöschlich stehen. Und wer in die dunklen Gassen hineinruft, wird zwar von allen gehört, ist aber nicht zu sehen.
Zum Vergleich: Im mecklenburgischen Landtag reichte es aus, zwei Abgeordneten die Immunität zu entziehen, weil sie die Landtagspräsidentin als „Gesinnungsterroristin“ beschimpft haben sollen. Gut, die Präsidentin ist Lehrerin, die beiden Abgeordneten kommen von der NPD; und beide Sachverhalte mögen eine gewisse Empfindlichkeit erklären. Immerhin sind das offen ausgesprochene Worte, vermutlich einer gewissen Hitzigkeit der politischen Auseinandersetzung geschuldet. Als Netzkommentar würde sich allerdings niemand über ein solches Wort aufregen. Viel zu kleinkalibrig! Um so erstaunlicher, daß jüngst ein Amtsgericht die Offenlegung eines anonymen Foren-Kommentators verfügte, weil der einen lokalen Amtsträger angegriffen hatte – vergleichsweise mit harmlosem Text.
Ich hatte in letzter Zeit zwar vereinzelt, aber doch heftig mit Bemerkungen zu tun, die es unter Mord-und-Totschlag-Vergleichen nicht mehr machten, und werde kritisch prüfen, welcher Anteil mir als Autor, der auch unter Pseudonym, damit aber nicht anonym schreibt, daran zukommt. Klar gilt die Regel „Wer austeilt, der muß einstecken können.“ Am besten beides offenen Visiers.
Inselbauer
Die ganze Netzkultur erinnert mich tatsächlich an die Maskenbälle des 18. Jahrhunderts und wie diese vom Bürgertum nach 1789 nachgeahmt und verteufelt worden sind, weil sie angeblich der Unanständigkeit Tür und Tor geöffnet hätten. Irgendwann im napoleonischen Kaiserreich ist man dann draufgekommen, dass man nur wegen einer Maske ja nicht anonym ist, dass diese ganze Anonymität nur eine antiquierte Konvention ist (die sich der Adel zum Spaß zugelegt hat). Dann hat man seine Ansichten auch darüber geändert.
Bei uns ist es ja nicht anders, Anonymität im Netz ist genauso schwer zu erreichen wie "anonym" auf einem Maskenball zu erscheinen (als Ganzkörper-Gummiwurst kann man ja auch nur begrenzt Schweinereien begehen). Es ist also alles nur ein Luxus aus vergangenen Zeiten, der das heisst Datenschutz, eine läppische Konvention, die sich längst in Luft aufgelöst hat,