Beerenbüschen an verborgenen Stellen die Erde zu lockern und Luft in die ganze Sache zu bringen. Warte auf Tauwetter, hoffe, daß das Eis bricht – seltsamer Zustand für einen ungeduldigen Charakter. Kann ein Winter ewig dauern?
Gestern Abend Lektüre in der jüngsten JF: Auf der Titelseite zwei ebenso kluge wie ernüchternde Texte über den NSU-Prozeß und über die Nachwirkungen des Mords an Daniel S. aus Kirchweyhe.
Michael Paulwitz analysiert im Aufmacher das Duckmäusertum deutscher Politiker und Behörden vor den Forderungen, die aus der Türkei an Deutschland gestellt werden: Man mißtraut rund um Istanbul der Unabhängigkeit deutscher Polizeiexperten, wo es um die Untersuchung der Brandursachen geht, bei denen Türken ums Leben kamen (Backnang, Köln); man fordert Plätze für türkische Journalisten und sogar Politiker, wenn in München nun der mutmaßlichen NSU-Terroristin Beate Zschäpe der Prozeß gemacht wird.
Paulwitz fragt zurecht, warum man sich hierzulande derlei Einmischungen, Infragestellungen und Unterstellungen überhaupt bieten lasse und interpretiert die geballt vorgetragenen Forderungen als türkischen Versuchsballon: “Kaum verhüllt” werde “die Machtfrage in der Bundesrepublik Deutschland” gestellt. Er greift damit ein Argument auf, das zum Kernbestand rechter Multikulturalismus-Kritik gehört: Nicht- oder schlechtintegrierte Ausländergruppen werden zur fünften Kolonne ihrer Herkunftsländer; Loyalitätsfragen werden zum außenpolitischen Druckmittel; Lobbyorganisationen (wie hierzulande etwa der “Koordinationsrat der Muslime”) sind mitnichten ein Integrationsinstrument, sondern so etwas wie der Generalstab im ethnischen Brückenkopf.
Paulwitz schließt:
Und die Deutschen? Die lassen die Schreibtischtäter und Profiteure der Multikulti-Ideologie gewähren wie eine Naturkatastrophe. Sie rennen nicht mehr zu Hunderttausenden zu “Lichterketten”, aber sie begehren auch nicht auf, allenfalls schimpfen sie im vermeintlich anonymen Internet.
Die institutionelle Wehrlosigkeit und mangelhafte Verteidigungsbereitschaft hat ihren Grund in einer Deformation sowohl des indiviuellen als auch des kollektiven Bewußtseins der Deutschen. So jedenfalls beschreibt es Thorsten Hinz in seinem resummierenden Beitrag über die Bluttat von Kirchweyhe, den er mit “Verzicht auf Gegenwehr” überschrieb.
Hinz greift Kernsätze des Beitrags von Akif Pirincci auf, über den Martin Lichtmesz vor ein paar Tagen hier im Netztagebuch bloggte, und fragt sich (wie wir alle), was noch passieren soll, bis die Deutschen zur wenigstens situativen, kollektiven Gegenwehr antreten. Hinz ist skeptisch, ob es dazu noch kommen könne, denn:
Ein Kollektiv, das als wichtigstes Erbteil seine historische Schuld, mithin seinen Unwert und damit die faktische Pflicht zur Selbstnegation verinnerlicht, zerfällt in Atome, die zur Solidarisierung und zu gemeinsamem Handeln unfähig sind.
Es liegt in der Natur von Publizisten, die Durchleuchtung der Hintergründe für einen ersten Schritt zur Besserung, zur Kurskorrektur zu halten. Paulwitz und Hinz haben in diesem Sinne schon sehr dicke Bretter gebohrt und jenen Erhellung beschert, die solche Zusammenhänge durchschauen wollen:
+ Hinz hat in Die Psychologie der Niederlage die psychische Deformation der Deutschen grundlegend und eindringlich beschrieben;
+ Zuvor hat er in Zurüstung zum Bürgerkrieg die verheerenden Folgen der Überfremdung am Beispiel eines Berliner Stadtteils exemplarisch dargestellt;
+ Frank Lisson in seiner Verachtung des Eigenen den Blick auf das gesamte “Abendland” ausgeweitet und die Deformation als “kulturellen Selbsthaß” gedeutet;
+ und Michael Paulwitz hat in Deutsche Opfer, fremde Täter den “schleichenden Genozid an einer bestimmten Gruppe von jungen Männern” (Akif Pirincci) hergeleitet und dargestellt.
Es liegt also viel gute, tiefgründige Literatur über die Wehrlosigkeit eines ganzen Volkes (unseres Volkes) vor, und wichtig ist, daß wir über all den schönen Büchern eines nicht vergessen: Wer über solche Themen schreibt, arbeitet mit Kälte in der Brust gegen einen scheinbar endlosen Winter an. Immer wieder mal raus ins Freie, immer wieder mal mit dem Spaten ein bißchen Boden lockern und nach Knospen suchen – das ist Publizistik vom Schlage Paulwitz und Hinz.
Franz Schmidt
Es liegt an uns, diese Bücher nicht nur zu lesen, sondern sie zu verbreiten.
Man kann sie verschenken und an jene senden, die sie lesen müssten.
Das ist das Mindeste, was wir tun können. Das sind wir den in der Öffentlichkeit stehenden Autoren schuldig, wenn wir schon in der Masse nicht bereit sind selbst mehr zu tun.