Den Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung (mit 15.000 Euro dotiert) hat im Frühjahr ein anderer für die gleiche „Thematik“ erhalten, Klaus-Michael Bogdal für sein Buch Europa erfindet die Zigeuner.
Interessanterweise überschnitten sich der Erscheinungstermin von Bauerdicks Buch und die Preisverleihung (Laudatio: Feridun Zaimoglu) an Bogdal (für ein Buch, das bereits 2011 erschienen ist!) zeitlich.
Zwei Experten unterschiedlichster Couleur haben über das „ungeliebte Volk“ geschrieben. Die beiden Bücher könnten verschiedener nicht sein. Das Buch des Literaturwissenschaftlers Bogdals ist eine Klage über „Zuschreibungen“, über Diskriminierungen. Er hält es für „absurd“, über die Berechtigung einer Verwendung des Wortes „Zigeuner“ überhaupt nachzudenken. Wir diskutierten doch auch nicht ernsthaft die Berechtigung von ethnischen Bezeichnungen wie „Krauts“ oder „Kaasköppe“, meint Bogdal empört.
Einen Gestus der Empörung wird man in Rolf Bauerdicks Buch vergeblich suchen. Bauerdick, der katholische Theologie und Literaturwissenschaft studiert hat, doziert nicht vom Katheder und recherchiert nicht vom heimischen Rechner aus, er besucht seit fast einem Vierteljahrhundert die unterschiedlichen Zigeunerstämme in Rumänien, Bulgarien, Ungarn und hierzulande.
In passablen Sachbüchern pflegt man gern zu schmökern: Hier ein Kapitel, da eins, das nächste überblättert man womöglich, man darf zwischendurch mal lektüremüde sein. Bauerdicks vierzehn Kapitel, teils Reportagen, teils essayartig geschrieben sind so spannend und mitreißend verfaßt, daß man unbedingt über Mitternacht hinaus lesen möchte.
Bauerdick kennt die Leute, die er Zigeuner nennt, ihre Lebensumstände, ihre Riten und Praktiken aus erster Hand, er kann zwischen den einzelnen Stämmen differenzieren, kennt ihren jeweiligen Stolz so gut wie ihre Marotten, und vor allem: er sieht den Einzelnen, er schert nicht über einen Kamm.
Bauerdick weiß um Klischees und Stereotypen, aber auch um Verbrämungen und Taktiken, die aus dieser größten europäischen Minderheit vor allem eins machen wollen: eine Opfergruppe.
Bauerdick ist ein großer, herzlicher Zigeunerfreund. Einer, der Jahr für Jahr ihre Nähe sucht, der ihre Lebensfreude mag, ihren Gemeinschafts- und Freiheitssinn, ihre Freigiebigkeit; der ihre Schlitzohrigkeit und ihren Handelssinn charmant findet, der ihre Leidensfähigkeit bewundert. Der aber auch erschüttert ist über Dreck, Kriminalität und Apathie.
Was ist von einem guten Freund zu erwarten? Daß er sein Gegenüber um jeden Preis und in jeder Hinsicht bestärkt? Auch gegen besseres Wissen? Oder nicht vielmehr das: Daß er einem auch mal gründlich die Leviten liest, daß er sagt: Der Weg, den du nimmst, ist falsch; wenn du so weitermachst, kann es nur bergab gehen?
Vielleicht ist der beste Freund der, der Tacheles redet, der kein Blatt vor den Mund nimmt. So einer ist Rolf Bauerdick.
Für ihn gilt es, gleich drei Hühnchen zu rupfen: Erstens mit den Zigeunern, die in nahezu homogener Sturheit jede Selbstverantwortlichkeit für ihre Umstände von sich weisen.
Zweitens mit den in Europa herrschenden wirtschaftlichen und politischen Systemen, die nach 1989 die Misere der Zigeuner mitverschuldeten.
Das dritte, dickste Huhn gilt es zu rupfen mit der „anti- antiziganistischen“ Zigeunerlobby, wozu „Berufszigeuner“ (Bauerdick) gehören wie Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats deutscher Sinti und Roma, aber auch eine ganze Wissenschaftsriege. Jene moralische Avantgarde, die von der Schreibtischwarte aus einen „keimfreien Diskurs“ diktieren, der die Zigeuner zu Opfern einer rassistischen „Dominanzgesellschaft“ macht und der sie zu Objekten ihrer akademischen Fürsorge bestimmt.
Hart und mit offenen Worten geht Bauerdick mit jenen „Antiziganismusforschern“ ins Gericht und mit der „selbstgerechten Empörungsclique“ die eine „delinquenz‑, devianz- und dissidenzgerichtete Stereotypenbildung beklagen“, in Wahrheit aber albanische, bulgarische oder ukrainische Elendsviertel allenfalls vom Hörensagen kennen. Die ignorieren, daß rumänische Waisenhäuser von Roma-Kindern überquellen, weil deren Eltern auf westeuropäischen Straßen betteln oder sich prostituieren. Die nie beim Armdrücken mit ungarischen Zigeunern eine Kiste Bier verloren haben, sich nie von einer Kalderasch das Schicksal aus der Hand haben lesen lassen und erst recht nie mit Gitans auf Pilgerfahrt nach Lourdes waren. Die auch nie – wie es Bauerdick erlebte – Säuglinge zum Kauf angeboten bekamen oder kleine Mädchen zu Vergnügungszwecken.
Die Furcht davor, als Rassist verleumdet zu werden, sei so mächtig, das sie jedes offene Wort im Keim ersticke. Bauerdick erzählt von dutzenden bundesdeutschen Possen rund um das Schweigegebot, von (mittlerweile jahrzehntealten) Übersetzungen der Fünf-Freunde-Bände Enid Blytons, in deren angeblich zigeunerfeindliche Texte viel tiefer eingeriffen wurde, als es jüngst bei Otfried Preußler geschah, von der neuerlichen “akademischen” Brandmarkung Martin Walsers, Theodor Fontanes, Werner Bergengrüns und J.W. Goethes als „Antiziganisten“, von verzweifelten Diakonie-Mitarbeitern, die von ihrer Betreuungsgruppe bedroht und schier überrannt werden, von der Forderung eines Zentralrats-Lobbyisten, daß Behörden und Medien für die Erwähnung der ethnischen Angehörigkeit in Kriminalfällen „eine Buße von 50 Euro“ zahlen sollten.
Diese Skurrilitätssammlung könnte den, der sie präsentiert, dazu verführen, einen polemischen Ton anzuschlagen. Bauerdick hingegen vermeidet die Tonlage des Hört! Hört! strikt. Er zeigt sich schlicht fassungslos.
Vorurteilsexperten wie Wolfgang Wippermann werden nicht müde zu betonen: Nicht die Roma seien ein Problem, die grassierende Roma-Feindschaft sei die Wurzel. Bauerdick widerspricht vehement. Die Zigeuner hätten nicht nur Probleme, sondern bereiteten sie auch höchstselbst.
Ihm geht es nicht ums Schüren einer Angst vor den Zigeunern, er betont seine Angst um die Zigeuner. Seine Einlassungen sind so erfahrungssatt, ja, authentisch, daß man ihm glaubt.
2001 hatte der Journalist in einem Playboy-Interview noch abgewiegelt: Was man unter Zigeunern an Verbrechen finde, das sei allenfalls Armuts-Kriminalität, Kavaliersdelikte. Heute weiß er es besser. Ja, es gab brutale Anschläge auf Zigeuner. In Rumänien gab es zwischen 2008 und 2010 siebzig „rassistisch motivierte“ Übergriffe gegen Zigeuner. Darunter Wandschmierereien, Prügeleien, Morddrohungen. Neun Menschen wurden in diesem Zeitraum umgebracht, sechs davon gingen allem Anschein nach auf das Konto rumänischer Serienkiller. Bauerdick und seine Gewährsleute vermuten geheimdienstliche Hintermänner.
Eine gewisse Lynchstimmung in der rumänischen Bevölkerung hat der Autor an vielen Orten festgestellt. In manchen Orten hält keiner mehr Vieh, baut keiner Gemüse an. Die Leute sagen, die Roma klauen alles. Bauerdick notiert die Anklagen der Bauern ebenso wie die Antworten der Zigeuner. Der Roma-Führer Attila Lakatos kennt Dörfer, in denen Rumänen nur dann den Gottesdienst besuchen können, wenn der Mann morgens geht und seine Frau am nachmittag. Wenn beide gleichzeitig ihr Haus verlassen, werden sie ausgeraubt. „Lakatos wetterte gegen die Unsitte, jeden als ‘Rassisten´ zu beschimpfen, der einem nicht in den Kram passe: Lehrer, die einem Zigeneunerkind einen Tadel verpassen; Ärzte, die einen Rom nicht vom Krebs heilen konnten; Polizisten, die Roma das Auto stilllegten, weil sie ohne Versicherungsschutz fuhren.“ Bauerdick berichtet von Vergewaltigungen durch Roma, von Kleinkriminalität, die durch Beschluß „von oben“ nicht verfolgt wird. Vergewaltigten Frauen wird auf der Polizei abgeraten, den Täter anzuzeigen, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Sandor Györi-Nagy, Professor für „Umweltkommunikation“ sagt: „Wo Unrecht aus politischen Motiven kein Unrecht mehr ist, wird das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen zerstört. So entstehen Haßverhältnisse.“ Das würde den Zorn der ansässigen Bevölkerung wenn nicht entschuldigen, doch erklären.
In der Medienöffentlichkeit verschwiegen würden auch grausame Mordtaten durch Roma: Allein acht Ungarn wurden in den ersten drei Monaten 2009 durch Roma erschlagen oder erstochen. Ein Mordopfer wird mit der Säge zerstückelt, in Nordungarn soll einer junger Rom eine 88jährige vergewaltigt, ihr die Augen ausgestochen, dann den Körper mit einer Axt zertrümmert haben. Ein Erdkundelehrer, der ein Zigeunermädchen angefahren und leicht verletzt hatte, wurde beim Leisten Erster Hilfe von einem rasenden Lynchmob vor den Augen seiner Kinder zu Tode geprügelt, und so weiter. “Jeder zweite Erwachsene und drei von vier jugendlichen Delinquenten in den ungarischen Haftanstalten sind Roma“, schreibt Bauerdick. Ihr Bevölkerungsanteil beträgt 8%. Er macht auch die sozialliberale Politik für die Zwietracht unter den Völkern, für die entfesselte Gewalt und die grassierende Apathie unter den Zigeunern verantwortlich. In sozialistischer Zeit – Bauerdick ist weit entfernt, sie zu verbrämen – gab es kein geduldetes Schuleschwänzen von Zigeunerkindern, Arbeitsscheue wurden zu Hilfsdiensten verdonnert, dörfliche Polizeistellen übten restriktiven Zwang aus, auch „kleine“ Kriminalität wurde geahndet.
Heute, in Zeiten der globalisierten Wirtschaft, sind nicht nur die alten Handwerksfähigkeiten der Zigeuner ausgerottet, es gibt auch keinen Druck mehr, sich am Riemen zu reißen. Den Zigeunern, die Bauerdick dann so nennt, wenn es eine Selbstbezeichnung ist – also meistens- fehlt es an Eigeninitiative. Bauerdick schreibt, er erinnere sich an „kaum einen Rom, der für die Wurzel seiner Misere ein Stück Verantwortung bei sich selber gesucht“ hätte.
Bauerdick beklagt, daß eine seriöse Debatte über die haarsträubenden Zustände in und rund um Zigeunersiedlungen, die mehr und mehr Raum einnehmen und längst in Deutschland um sich greifen (er kennt etwa die geilen Diskussionen über in deutschen „Lusthäusern“ tätigen Roma-Prostituierte aus einschlägigen Internetforen), aus dem öffentlichen Raum verbannt ist.
Mit seinem Buch, das nun immerhin in einem großen deutschen Publikumsverlag erschienen ist, könnte sich das ändern. Die Rezensionen sind bislang ziemlich günstig. Das verwundert nicht, man müßte nicht nur blind, sondern böswillig sein, um Bauerdick Ressentiments zu unterstellen. Mal wird am Rande beklagt, das Bauerdick leider doch ein „klares Statement gegen Rassismus“ vermissen lasse. Oder es wird eingewandt, daß der Autor keine konkreten Ratschläge präsentiere. Viele Rezipienten verwechseln Sachbücher mit Ratgebern. Aber wo wären wir, wenn einer titelte: Zigeuner – eine Handlungsanweisung?
Rolf Bauerdick: Zigeuner. Begegnungen mit einem ungeliebten Volk. München: DVA 2013, 394 S., 22.99 €, hier bestellen.
Ein Fremder aus Elea
"Aber wo wären wir, wenn einer titelte: Zigeuner – eine Handlungsanweisung?"
Ja, ne, schon klar, stattdessen wird getitelt: Sinti und Roma - eine Handlungsanweisung.
Die EU wäre nicht die EU, wenn sie das unterlassen würde.