Der Zerfall der Lage beginnt, wenn die Auflösung aller Dinge augenscheinlich geworden ist und es keine beschreibbaren Haltepunkte für eine Analyse der Situation mehr gibt; wenn die Tatsache das eine und das Triumphieren das andere ist (eine Machtfülle nämlich, die sich um die Fakten einen Dreck schert); wenn der gesunde Menschenverstand keine Rolle mehr spielt und man – um es mit einem Wort zu sagen – hilflos danebensteht.
Der Zerfall der Lage setzte ein paar Tage nach den Feierlichkeiten zur 100. Wiederkehr der sogenannten Meißner-Fahrt ein: 1913 hatten sich Tausende Wandervögel zu einem freideutschen Tag versammelt, der sich gegen das Säbelrasseln des großen Völkerschlachtjubiläums richtete und auf einen anderen, eben freideutschen Weg in die Zukunft aus war.
Anfang Oktober 2013 gedachte man nun dieses Treffens, und wer selbst einmal Wandervogel war und außerdem ein paar Kinder auf Fahrt (also: die bündische Art des Wanderns) zu schicken hat, wähnte sich ohne Bedenken für ein paar Stunden willkommen auf der Jugendburg Ludwigstein, die nicht weitab vom Hohen Meißner liegt. Ich war dort, für einen Tag. Dieter Stein (Junge Freiheit) war dort, für zwei Tage.
Leider war auch der Antifa-Schreiber Jesko Wrede mit seiner Kamera dort – sein Bericht über die Anwesenheit zweier Publizisten der “Neuen Rechten” auf dem Jubiläumstreffen erschien ein paar Tage später und löste eine Lawine aus: Das hessische Sozialministerium sperrte der Burg alle Landeszuschüsse. Schulklassen, die dort ihren Aufenthalt geplant hatten, stornierten ihre Buchungen. Die Leiter der Ludwigstein reagierten und untersagten allen bündischen Gruppen für die nächsten zwölf Monate den Zugang zu den Räumlichkeiten und Angeboten der Burg.
Das hessische Sozialministerium hat die Gelder mittlerweile zwar wieder freigegeben, dennoch: Selbst dort, wo Stein oder ich nur sind (weder vortragend, noch organisierend, keinesfalls im Vordergrund, sondern bloß als Besucher unter Hunderten anderen Besuchern), kann aus uns jene weiße Billardkugel werden, mit der man die andern ins Loch stößt. Typen wie Wrede gab es wohl schon immer, aber selten nur verfügten sie über eine solche Macht wie derzeit.
Unsere Lage könnte hilfloser nicht sein: Hier ein Heer junger Leute, die wandernd, singend, tanzend und plaudernd ihre große Feier begingen, darunter als Gäste für kurze Stunden zwei Väter, die ihre Kinder herankarrten; dort ein linksextremer Denunziant, dessen debiles Wort über den Resonanzboden des Internets seinen Weg ins Ohr des hessischen Sozialministers fand.
Dieser – ein Getriebener, ein bloß scheinbar mächtiger Mann, jedenfalls einer ohne Zeit für einen zweiten, dritten Blick auf den Fall. Denn nichts scheint so schlimm zu sein – mitten in diesem hysterischen Land – wie der Internetpranger, auf dem stehen könnte: Hier hat einer nicht schnell genug, nicht entschieden genug, nicht öffentlich genug gegen Rechts sich positioniert. Dieser Sorge aber entledigte sich Stefan Grüttner (CDU), indem er auf Wrede hörte.
Damit nicht genug. Darüber, wie zukünftig zu verfahren sei, ist man sich unter den Billardkugeln nicht einig. Während die einen selbstkritisch beweisen möchten, daß man sie zu Unrecht stoße, wächst bei den anderen die Verachtung für diese Zeit und ihr Personal – beide Reaktionen sind Kennzeichen der Ohnmacht.
Was bleibt, ist Sezession. Deren 12. Jahrgang ist am Rande abgebildet.
Hartwig
Ich erinnere mich, wie Sie, verehrter Herr Kubitschek, etwas ungehalten in Richtung der IBD meinten, man möge doch auch Gesicht zeigen. Es war rund um einen 3sat-Beitrag über die IB. Ich, der nicht zur IB gehört, war damals ganz Ihrer Meinung. Inzwischen zeichnet sich ab, das es gut ist, wenn es neben den notwendigen Gesichtern auch viele im Verborgenen Wühlende gibt, einzeln oder in Gruppen. Die von Ihnen angeführte Ohnmacht scheint dies zu erzwingen. Und meine Antipathie gegen die Extremisten diesseits des politischen Grabens lässt sich zwar nicht ausradieren, aber mein Unverständnis schrumpft mit jedem weiteren "Zerfall der Lage".
Was die Einigkeit der Billardkugeln angeht: Die ist nicht nötig. Jeder an seinem Platz. Bei aller nötigen Betonung der Unterschiede sollte als gemeinsamer Nenner das Ziehen in die gleiche Richtung genügen. In meinem Umfeld bestätigt sich, dass z.B. auch MKH recht hat, wenn er auf das Mobilisierungspotential des Antiislamismus hinweisst. Für mich persönlich keine Spielwiese, ... aber eine Kraft in gleicher Richtung.